PUNK-TRADITIONEN - TEIL 26

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(Keine) Bärte

In meinem Kopf hallt der Refrain nach. „Absolute Härte – Oberlippenbärte!“ – von wem auch immer der Song ist, zu dem der gehört. Mindestens die ersten zwanzig Jahre Punkrock, von 1976 an gerechnet, war klar, dass Punk, männlich konnotiert, stets sauber rasiert zu sein hat.

Ein Klischee? Ein Vorurteil? Ein Scherz, dieser Artikel? Mitnichten. Man müsste das für eine exakte Quantifizierung und Analyse zwar wissenschaftlich angehen, aber wer Bandfotos aus jenen Jahren – auf Plattencovern, in Fanzines, in Magazinen – analysiert, der wird, da bin ich sicher, auf eine überwältigende Zahl wunderbar glattrasierter Jungmännergesichter stoßen. Ja gut, es gab auch mal den einen oder anderen Schnauz, etwa bei STRASSENJUNGS (aber die waren ja kein Punk ...) oder WHITE FLAG (aber der war ja Bulle ...), aber ansonsten ... Werbegesichter für Braun und Gillette! Bartträger, das waren die anderen. Vollbart hatten die Hippie-Lehrer mit 68er-Wurzeln, die fusselbärtigen Latzhosenökos, Schnauz trugen Zivi-Bullen, und Rauschebärte die Gartenzwerge. Nein, Punk (und Hardcore) trug seine haarige Individualität oben auf dem Kopf zur Schau oder erledigte das Haarentfernen à la Ian MacKaye in einem Rutsch an Kopf und Kinn. Und von vollbärtigen Skinheads hatte ja sowieso nie jemand gehört. Und dann kam irgendwann die Jahrtausendwende. Und immer mehr US-amerikanische Bands entwöhnten sich auf Tour vom morgendlichen Scher-Ritual. Kamen glattrasiert in Europa an wie die Mormonenmissionarsbubis und flogen zurück mit wildem Gestrüpp an Kinn und Hals. Schaut man sich frühe HOT WATER MUSIC-Bandfotos an, sah man da noch jugendliche Gesichter, aber irgendwann wurde die Band aus Gainesville, allen voran Chuck Ragan, zum Posterboy der Barbier-Branche. Und alle machten es ihm nach. Sahen plötzlich aus wie 45 und nicht wie 22. Der beginnende Bartwuchs, der einst den Übergang vom Jungen zum Mann definierte, das Punkrock-Versprechen von „young until I die“ wurde gebrochen durch Spätdreißiger mit ersten grauen Strähnen im Gesichtshaar. Eine Kompensation für die beginnende Pläte am Hinterkopf, über die schnell eine Baseball-Cap gestülpt wurde? Erkannte man früher Rednecks und Landwirte auf Meilen-Distanz an eben diesem Look, verwischte das und Hardcore- und Punk-Leute, die den Kampf gegen das täglich weiter sprießende Gesichtshaar aufgaben, unterschieden sich von ihnen bald nicht mehr durch ihren jugendlichen Teint, sondern maximal noch durch die Bandnamen auf den Shirts und vielleicht die Vans, Chucks oder Docs. Damit waren sie die Wegbereiter für all die Hipster, die sich längst in den gentrifizierten Vierteln der Städte eingenistet haben – und das alles nur, weil irgendwann in der Punk Rock Academy das verpflichtende Hören des CRUCIAL YOUTH-Songs „Shave clean“ vom Lehrplan gestrichen wurde: Behave, shave!