Sie waren anarcho-dadaistische, avantgardistische Rock’n’Roll-Außenseiter, die aufregen, überraschen, schockieren und verwirren wollten, die sich über die bürgerliche Moral lustig machten und für jede Form von Autorität nur Spott übrig hatten. Sie nannten sich NOVAKS KAPELLE, zunächst mit Apostroph, später ohne. „Für uns war es besonders wichtig, die Erwartungen unseres Publikums zu zerstören“, erklärt Leadsänger Walla Mauritz. „Wenn mit einem Skandal gerechnet wurde, haben wir einfach unsere Musik gespielt und umgekehrt.“ Mehr als ein Jahrzehnt lang, von 1967 bis 1978, taten sie genau das und machten nebenbei aufregende, subversive und unauslöschliche Musik. Dabei ging es ihnen nicht um Aufmerksamkeit oder Berühmtheit und schon gar nicht um kommerziellen Erfolg; sie taten es einfach – in dem Moment. Und wie Mauritz im folgenden Interview erklärt, war es ihnen wirklich komplett egal, was andere von ihnen dachten – positiv oder negativ. „Für uns“, sagt er, „zählte nur der Fußabdruck, den wir hinterlassen wollten.“
Diese Fußspuren beginnen in den Trümmern des Nachkriegs-Wien, der düsteren, korrupten und von Schatten heimgesuchten Stadt, die in Carol Reeds Noir-Thriller „Der dritte Mann“ von 1949 so eindrucksvoll beschrieben wurde. Walla erinnert sich noch gut daran: „Das Wien der 1950er Jahre war eine Stadt, die durch die Bomben während des Weltkriegs stark zerstört worden war. Alles wirkte wie in einem Schwarzweiß-Film. Uns Kindern machte das nichts aus, wir fanden unsere Spielplätze in den Trümmern. Ich komme aus einer Familie der unteren Mittelschicht, gehöre also eher zur Arbeiterklasse. Mein Vater arbeitete bei der staatlichen Telefongesellschaft und meine Mutter war Hausfrau. Ich hatte eine Schwester und wir hatten eine Kindheit, an die ich mich gerne erinnere. Im Radio lief keinerlei neuere Musik, sondern ausschließlich Wiener Klassik. Was aus dem Radio kam, hinterließ bei einer ganze Generation ein gestörtes Verhältnis zur Musik. Wien war in den 1960er Jahren schockierend öde. Post-faschistisch, post-nationalsozialistisch. In der Schule wurde ich mit vielen Lehrern konfrontiert, die in der Wehrmacht gewesen waren, einige von ihnen auch in der SS. Wir wurden immer noch mit einem Holzlineal geschlagen. 1955 war ein Wendepunkt für mich: Als Neunjähriger ging ich in eine Eisdiele; mein Vater hatte mir einen Schilling gegeben. Dort gab es eine Wurlitzer-Jukebox, in der zu meiner Überraschung ‚Jailhouse rock‘ von Elvis lief. Während ich in der Schlange für das Eis stand, hörte ich das und dachte nur: Das kann doch nicht wahr sein, das ist doch nicht möglich! Und sofort kam die Frage auf: Kaufe ich jetzt ein Eis oder werfe ich meinen Schilling in die Wurlitzer? Ich entschied mich für die Jukebox und meine Welt veränderte sich grundlegend. In den späten 1950er Jahren kam ich mit Leuten in Kontakt, die Platten von Eddie Cochran oder Little Richard besaßen. Darauf war ich total scharf – und bin es immer noch; ich bin bis heute ein großer Eddie Cochran-Fan. Ich hatte das Gefühl, dass da etwas ganz Besonderes vor sich ging. Nach der Grundschule besuchte ich die Fernmeldetechnikerschule, die ich erfolgreich abschloss.“
Der junge Mauritz bekam seinen ersten Vorgeschmack auf den Rock’n’Roll im Vienna Star Club, wo ihn eine lokale Gruppe namens TEENBEATS begeisterte. Deren Leadgitarrist war ein unglaublich talentierter junger Mann, ein Rom namens Karl Ratzer, der später die bahnbrechende Beat/R&B-Band THE SLAVES gründen sollte. „Der ‚berühmte‘ Vienna Star Club: Ursprünglich war es eine Art Fünf-Uhr-Tanztee, aber es entwickelte sich schnell mehr Richtung Rock’n’Roll. Dort habe ich Karl Ratzer zum ersten Mal gesehen. Er war damals 14 Jahre alt und spielte mit einer Gruppe namens TEENBEATS. Er hatte eine rote Gitarre und sah sehr gut aus: schlank und, damals schon, mit langen Haaren. Er hatte Charisma und eine erstaunliche Star-Attitüde! Aber im Wesentlichen war der Vienna Star Club ein Teenager-Tanzcafé mit einem leichten Anflug von etwas Modernerem. Als ich 14 war, durfte ich endlich rein. Die BEATLES hatten sich damals gerade gegründet und waren noch ziemlich unbekannt. Zu dieser Zeit dominierten die alten Rockbarden wie Elvis und Little Richard. Ich machte dort meine ersten erfolglosen Versuche, mich der weiblichen Hälfte der Menschheit zu nähern.“
Walla erzählt weiter: „Dann kamen die BEATLES und natürlich die Stones. Ich bin ein Proletarier aus dem 16. Bezirk, ein echter Vorstadtbengel, der sich in den Hinterhöfen herumtrieb, und diese Musik hat mich voll erwischt. 1964/65 begann ich, meine Haare wachsen zu lassen. Meine Eltern waren zu dieser Zeit bereits geschieden – zum Glück für mich, denn mein Vater hätte das nicht akzeptiert. Obwohl er Sozialist war, war er im Grunde seines Herzens ein Kleinbürger. Meine Mutter hat sich aus Mutterliebe damit abgefunden. Dann begann der Spießrutenlauf durch Wien. Schicke Klamotten gab es damals nirgends zu kaufen – also zog man einfach eine Pyjama-Jacke an, die war wenigstens ein bisschen bunt und gestreift. Man ist einfach mit seinen langen Haaren in der Straßenbahn gefahren und es war immer die Rede von Vergasung und dass es so etwas beim Führer nicht gegeben hätte. Diese Erfahrungen haben wir alle gemacht. Es gab damals schon extreme Typen, die unglaublich lange Haare hatten – aber das waren auch die ersten, die mit Drogen zu tun hatten. Es war noch die Zeit der Aufputschmittel und Beruhigungsmittel. Aber es gab auch Leute, die in die Türkei gereist waren, um Cannabis zu besorgen. Ich hatte kein Interesse daran; ich war einfach schwer nikotinsüchtig. Alkohol spielte überhaupt keine Rolle und Marihuana nur in kleinen Dosen – manchmal ging ein Joint herum. Aber ich hörte schnell auf, Cannabis zu rauchen, als ich mich dabei ertappte, wie ich in einer Ecke stand und wie ein Idiot grinste. Da sagte ich mir, Schluss damit. In NOVAK’S KAPELLE haben wir eigentlich alle keine Drogen genommen. Abgesehen von Nikotin war die Nüchternheit unsere wichtigste Droge.“
In dieser Zeit machte Walla seine ersten Erfahrungen in einer Band. „1964 war ich in einer Gruppe, die den unglaublich fantasievollen Namen LEAVES trug. Wir versuchten, die Stones nachzuahmen, wie die meisten anderen auch: ‚Walkin’ the dog‘ und solche Sachen. Wir hatten überhaupt nichts Eigenes. Auch die Besetzung wechselte ständig. Es war nicht sehr aufregend – außer für uns selbst. Auftritte gab es auch kaum. Du hattest nur regelmäßige Auftritte, wenn du in einem kommerziellen Tanzlokal gespielt hast. Nach ein paar nicht so erfolgreichen Gigs fiel die Gruppe auseinander. Die Rockszene in Wien war damals noch nicht so groß und die wenigen Jugendlichen, die sich dafür interessierten, kannten sich untereinander alle ziemlich gut.“
Die rebellische Haltung von Walla reichte aber über die Musik hinaus. Für ihn und seine Freunde war es eine Lebenseinstellung. In den 1960er Jahren gab es überall auf der Welt Generationenkonflikte, weil die jungen Leute die Werte ihrer Eltern infrage stellten. Aber in Ländern wie Deutschland und Österreich waren diese Gefühle in den Nachkriegsjahren tiefgreifender und viel komplizierter. Walla: „Man muss die Nachkriegsgesellschaft in Deutschland und Österreich in den 1950er und 1960er Jahren Jahren verstehen, um die daraus resultierende Haltung der Jugend, der Intellektuellen und der Künstler dieser Zeit zu begreifen. Die Gesellschaft war immer noch von der Nazi-Ideologie und dem Konservatismus geprägt. Ein paar Freunde von mir entwickelten eine starke anarchistische Haltung, ohne überhaupt zu wissen, was Anarchie politisch bedeutet. Wir standen in Opposition zu allen Werten, was die Gesellschaft an Werten hochhielt. Wir waren unpolitische, individuelle Anarchisten. Peter Utz und Eduard Podeprel, Außenseiter wie ich, habe ich durch Zufall gefunden. Das waren zwei junge Anarchisten – einer aus einer bürgerlichen Familie, der andere ein echter Proletarier –, die das hemmungslos auslebten. Wir haben einander gegenseitig immer wieder aufgerichtet. Von der Einstellung bis zum Verhalten im Alltag – totale Ehrlichkeit war für uns das Gebot der Stunde. Wir dachten damals: Damit sind wir allein, wir sind absolut einzigartig. Erst als ich später zufällig Oswald Wiener traf, wurde mir klar, dass es schon lange vorher Gleichgesinnte gegeben hatte. Ich lernte Oswald Wiener – sicherlich eines der wichtigsten Mitglieder der ‚Wiener Gruppe‘ – 1966 kennen und bewegte mich fortan in seinen Kreisen.“
Die Wiener Gruppe war Teil einer Kunstbewegung, die in den späten 1950er Jahren in den österreichischen Kunsthochschulen entstanden war und bald darauf mit provokanten Kunst- und Performance-Aktionen, die oft rituelle Selbstfolter, Schocktechniken und Körperflüssigkeiten beinhalteten, heftige Wellen schlug: bekannt als Wiener Aktionismus. Günter Brus zum Beispiel kleidete sich 1965 ganz in Weiß und malte auch seinen Körper von Kopf bis Fuß weiß an, unterbrochen von einer gezackten schwarzen Linie und Frankenstein-Stichen quer über seinen Kopf. Anschließend wurde er von der Presse beim Flanieren durch die Straßen der Stadt fotografiert, eine Performance, die er „Wiener Spaziergang“ nannte.
Ihre berühmteste Aktion war jedoch „Kunst und Revolution“ am 7. Juni 1968 in der Universität Wien. Die Veranstaltung sorgte damals in Österreich für Aufsehen und führte zur Verhaftung von Günter Brus, Otto Muehl und Oswald Wiener. In einem Artikel des Londoner Magazins Frieze aus dem Jahr 2004 heißt es: „Was als gewöhnliche Studentenversammlung begonnen hatte, wurde von einer Gruppe von Leuten übernommen, die mit der Direct Art Group verbunden waren. Während Muehl mit Bier um sich warf, defäkierte und masturbierte Brus in der Öffentlichkeit, wobei er die österreichische Nationalhymne sang. Wiener, der in Wirklichkeit nur über Computer gesprochen hatte, wurde schnell wieder freigelassen. Die Boulevardpresse prägte den Begriff ‚Uni-Ferkelei‘, der für viele Österreicherinnen und Österreicher immer noch ein Synonym für die Ereignisse des Tages ist.“ Walla: „Den stärksten Einfluss auf mich hatte die Begegnung mit der österreichischen Avantgarde, die seit den 1950er Jahren künstlerisch konsequent und radikal den Weg des Individualismus beschritten hat. Es waren Leute, die für die revolutionärsten Aktionen und spontanen Happenings verantwortlich waren – Skandale wie die Aktion ‚Kunst und Revolution‘ im Hörsaal der Universität Wien, die in die Kunstgeschichte einging und damit endete, dass die Beteiligten vor Gericht gestellt und verurteilt wurden. Um nur einige dieser Künstler, Schriftsteller und Intellektuellen zu nennen, von denen ich einige zu meinen engsten Freunden zählen durfte: Oswald Wiener, Christian Ludwig Attersee, Günter Brus, Walter Pichler, Gerhard Rühm, Padhi Friedberger, Otto Muehl ...“
Ab 1966 floss der revolutionäre Geist der Wiener Aktionisten in alle musikalischen Projekte von Walla ein, angefangen bei seiner nächsten Band: THE CRAZY WORLD OF COCK ON COCK. Walla erzählt das über diese Erfahrung: „Nach meinen bescheidenen Anfängen als Musiker war das erste ernsthaftere Projekt eine Band mit Kurt Hauenstein, einem formidablen Bassgitarristen, der hervorragend sang und die gleichen musikalischen Vorlieben hatte wie ich. Kurt machte später mit seinem Projekt SUPERMAX und dem Song ,Lovemachine‘eine bemerkenswerte internationale Karriere. Außerdem dabei waren der Gitarrist Franz Trinko und der Schlagzeuger Erwin Novak. Stark beeinflusst von den angesagten englischen Gruppen der beginnenden Ära der psychedelischen Musik, spielten wir, abgesehen von ein paar Eigenkompositionen, hauptsächlich Cover von meist englischen Rockgruppen. Aber wir versuchten auch schon, unsere eigenen Sachen zu machen, was uns für unseren Geschmack auch ganz gut gelang. Wir hatten einen Auftritt auf der Grazer Landwirtschaftsmesse. Dort gab es einen Aussteller, der in einem Zelt eine Art Sideshow aufführte – ein bisschen wie Barnum & Bailey, mit einer bärtigen Frau, einem Jongleur, einer Striptease-Dame und ein paar seltsamen tätowierten Leuten. Und wir als langhaarige Affen mittendrin. Wir traten dort alle zwanzig Minuten auf – es rotierte im Kreis. Das war eine ziemlich lustige Angelegenheit. Die Leute kamen hauptsächlich wegen uns und der Stripperin: Sie hörten den Lärm und sagten ,Schauen wir uns die Idioten mal an‘, kamen ins Zelt und sahen dort Marsmenschen mit langen Haaren.Wir traten auch bei Eröffnungen von Ausstellungen unserer Freunde auf, etwa Christian Ludwig Attersee. Nach ein paar Auftritten wurden wir als Vorgruppe für BILL HALEY & HIS COMETS gebucht, der damals auf einer Revival-Tournee in Europa war und auch ein Konzert im Wiener Rathaus gab. Das Publikum bestand aus eingefleischten 1950er-Jahre-Rockern, die nichts mit moderner Rockmusik zu tun haben wollten. Wir wurden ausgebuht und mit Gegenständen beworfen. Das hat uns aber nicht gestört.“
THE CRAZY WORLD OF COCK ON COCK waren 1966 und 1967 in der Live-Musikszene präsent. Dann löste sich die Gruppe mit dem Ausscheiden des Bassisten Kurt Hauenstein auf. Walla berichtet: „Wir hatten weiterhin einige Clubauftritte, an die ich mich aber nicht mehr genau erinnere. Aber wir wurden durch unsere ziemlich außergewöhnlichen Gigs bekannt und das erregte die Aufmerksamkeit von Karl Ratzer, der heute einer der renommiertesten Jazzgitarristen weltweit ist. Als technisch bester Gitarrist der damaligen Szene und Mitglied der Gruppe THE SLAVES, die sich gerade aufgelöst hatte, wollte er eine Art Supergroup zusammenstellen und überredete Kurt Hauenstein, mit ihm zu spielen. Kurt stimmte zu. Karl war zudem ein guter Sänger. Das war das Ende von THE CRAZY WORLD OF COCK ON COCK.“
Hauensteins Zeit bei Ratzers neuer Formation, CHARLES RYDERS CORPORATION, war recht kurz. Er verließ die Gruppe, bevor sie ihre beiden hervorragenden Singles aufnehmen konnten, wurde aber später Teil von Ratzers Band GIPSY LOVE, die Anfang der 1970er Jahre gegründet wurde. „Obwohl Kurt Hauenstein nicht in der ersten Besetzung der Charles Ryders Corporation aufgeführt ist, spielte er einige Gigs mit Karl im berühmten San Remo Club in Wien. Es begann als Trio mit Georg Hieblinger am Schlagzeug. Aus welchen Gründen auch immer wurde Kurt dann durch Wolfgang Hafenbrödl am Bass ersetzt“, kommentiert Walla.
In der Zwischenzeit hatte sich Ex-COCK ON COCK-Schlagzeuger Erwin Novak mit dem Gitarristen Helge Thor und dem Bassisten Peter Travnicek zusammengetan, um eine neue Band zu gründen. Da sie einen Sänger brauchten, luden sie Walla ein, sich ihnen anzuschließen. Dieser schildert uns: „Ich war der Letzte, der dazukam. Bevor wir loslegen konnten, mussten wir uns einen Namen überlegen. Ich kam auf die Idee, die Gruppe NOVAKS KAPELLE zu nennen. Schließlich hat Kapelle zwei Bedeutungen, zum einen bezeichnet es ein nicht allzu großes Ensemble von Blasmusikern, die Volksmusik spielen – vor allem Märsche, Polkas und Walzer. Aber eine Kapelle ist auch auch eine kleine Kirche – die unserer anarchistischen Religion. Und Novak ist ein sehr verbreiteter Name, vor allem in Wien. Er hat tschechische Ursprünge, was auf die Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie zurückgeht, als Tausende von Einwanderern aus der Tschechoslowakei nach Österreich kamen, auf der Suche nach einem besseren Leben. Da alle österreichischen Rockbands englische Namen hatten, entschied ich mich für einen deutschen Namen. Ich wollte unter falscher Flagge segeln, um ein bisschen für Verwirrung zu sorgen. Mein Vorschlag wurde auch von allen gleich akzeptiert, außer von Erwin Novak. Er weigerte sich zunächst, seinen Namen für diese eigenartige Bandbezeichnung herzugeben, ließ sich aber schließlich vom Rest der Band überzeugen.“
Mit NOVAKS KAPELLE (zunächst mit Apostroph, später ohne) wurde die Musik lauter und wilder, ihre Performance spontaner und subversiver. Walla betont: „Wir haben von Anfang an unsere eigene Musik gemacht – das war sehr wichtig für uns. Wir hatten kein Konzept, nur eine anarchische Einstellung. Kurz bevor wir auf die Bühne gingen, entschieden wir uns, was wir machen wollten. Jegliche Art von Vorbereitung für die Leute war komplett verboten. Wer mitgroovete, groovete mit, wer nicht mitgroovete, nicht – das war egal. Wir zogen es vor, die Erwartungen des Publikums nicht zu erfüllen. Einmal bei einem Gig in Deutschland hatten wir einen Tisch auf der Bühne aufgebaut und verwendeten das Eintrittsgeld, um uns in einem nahegelegenen Restaurant Essen zu besorgen und aßen dann einfach vor dem Publikum. Unsere Musik kam derweil von einem Plattenspieler, der an die PA angeschlossen war. Es war uns eigentlich egal, ob sie pfiffen, brüllten oder sich aufregten. Es war uns auch egal, wenn gejubelt und geklatscht wurde. Gelegentlich haben wir auch jeden Applaus unterbunden.“
Die Underground-Musikszene in Wien begann zu dieser Zeit mit Bands wie CHARLES RYDERS CORPORATION, HIDE & SEEK und EXPIRATION aufzublühen, während kommerziellere Gruppen wie die BEATNIKS, die V-RANGERS und die WALLFLOWERS ebenfalls florierten. Für einen Überblick über die österreichische Musikszene der 1960er Jahre ist die ausgezeichnete „Schnitzelbeat“-Compilation-Reihe, die mittlerweile drei Teile umfasst, zu empfehlen. Walla: „Wir haben auf Touren, in Clubs und anderen Veranstaltungsorten sowie auf Musikfestivals mit fast allen zeitgenössischen österreichischen Bands gespielt. Wie bei allem gab es auch hier Bands, die sowohl hervorragende Musiker als auch Mainstream-Tüftler hatten. Wir waren im Grunde nur daran interessiert, uns weiterzuentwickeln, sehr autistisch und ohne die geringste Gier nach kommerziellem Erfolg.“
Nicht lange nach der Gründung ging NOVAKS KAPELLE in die Austrophon Studios im Keller des Wiener Konzerthauses und nahm eine ihrer Eigenkompositionen auf, „Garbage man“, ein krudes, bluesbasiertes Werk, das in Stil und Haltung den frühen DEVIANTS ähnelte. Der Song wurde damals nicht veröffentlicht, tauchte aber 2017 auf der NOVAKS KAPELLE-Anthologie-CD „Fartwind“ auf; außerdem ist er auf Volume 3 der bereits erwähnten „Schnitzelbeat“-Reihe enthalten. Obwohl sie nun ihr eigenes Material schrieben, griffen NOVAKS KAPELLE oft auf Songs von englischen und amerikanischen Bands zurück, die sie bewunderten. Walla erzählt uns: „Wir haben von Anfang an versucht, unsere eigenen Ideen umzusetzen, natürlich in Anlehnung an unsere Vorbilder. Einige der Lieder in unserem Repertoire bestanden aus leicht veränderten Harmonien und Texten, die ich neu formuliert hatte.“
Auf diese Weise entstand der Song, der auf ihrer Debütsingle erscheinen sollte, „Hypodermic needle“, ein schrilles Junkie-Stück, das auf dem Song „Inside looking out“ von den ANIMALS basiert (der wiederum auf das Knastlied „Rosie“ zurückgeht). Trotz des Songinhalts betont Walla, dass die Band nie etwas mit Drogen zu tun hatte. Walla betont: „Drogen waren bei NOVAKS KAPELLE kein Thema. Abgesehen von ein paar Joints, die nur zeitweise von zwei Bandmitgliedern konsumiert wurden, hielten wir Nüchternheit für die beste Droge. Ich selbst habe zwar alle Drogen, die es gab, mindestens einmal ausprobiert, aber ich war mir bewusst, dass ich eine Märchenwelt betrat, die mit meiner Wahrnehmung des Lebens wenig zu tun hatte.“
Die Single „Hypodermic Needle“ wurde 1968 auf dem Amadeo-Label mit den Worten „Dedicated to Eric Burdon“ veröffentlicht, die sowohl auf der Hülle als auch auf dem Etikett prangten. Auf der B-Seite befand sich „Doing the rhythm thing“, ein Fuzz-getriebener Groover mit einem coolen, lakonischen Gesang von Walla über eine schief gelaufene sexuelle Begegnung. Die Geschichte war teilweise wahr. „Während eines One-Night-Stands wurde ich versehentlich von dem Mädchen in einen Schrank gesperrt“, gesteht er. „Später stellte sich heraus, dass sie mir einen Tripper geschenkt hatte“. Auf dieses Thema wird er später zurückkommen. Allen Widrigkeiten zum Trotz schaffte es die Single mit der Heroinsucht auf der einen und einer Geschlechtskrankheit auf der anderen Seite auf Platz 1 der österreichischen Hitparade. Walla: „Die Single wurde viel gespielt und stand vier Wochen lang an der Spitze der österreichischen Charts, dank der Unkenntnis der englischen Sprache seitens der österreichischen Radiomusikredakteure. Es mag arrogant klingen, aber wir waren nicht sonderlich beeindruckt, denn irgendwelche Reaktionen, ob positiv oder negativ, hatten keinen Einfluss auf unsere Arbeit. Für uns zählte nur der Fußabdruck, den wir hinterlassen wollten.“
Im Februar 1969 trat die Band mit „Hypodermic needle“ in einem TV-Special namens „Countdown“ auf. Umgeben von Tänzern und Tänzerinnen spielten sie in einem aufwändig gestalteten Bühnenbild, dessen Mittelpunkt ein brodelnder Vulkan war. Der geschmeidige, blonde Walla Mauritz strahlt eine kühle, verächtlich wirkende Arroganz aus, während er singt und sich schlangenartig zur Musik bewegt. Der Song steigert sich zu einem Instrumental-Rave-up und gipfelt in einer apokalyptischen Explosion. Walla erzählt: „Im Jahr 1968 beschloss das österreichische Fernsehen, einige Sendungen mit österreichischen Künstlern zu produzieren. In der ersten dieser Shows traten Künstler auf wie der später international bekannte Maler und Musiker Christian Ludwig Attersee, der kanadisch-österreichische Songwriter Jack Grunsky und andere. Die Sendung wurde ‚Countdown‘ genannt. Das Bühnenbild wurde vom Künstler Ernst Graf entworfen. Eines der Go-Go-Girls war die Frau von Oswald Wiener. Da sich alle Mitwirkenden kannten, war es wie ein Familientreffen und wir hatten eine Menge Spaß.“
Die zweite Single, die 1969 veröffentlicht wurde, war ein weiterer Knaller. Die A-Seite, „Not enough poison“, ist ein stimmungsvolles, atmosphärisches Bluesstück mit eindringlicher Slidegitarre und einem schläfrig-coolen Gesang. Wie ich schon in einer früheren Rezension schrieb, erinnert es an Q65, wenn sie am entspanntesten sind. „Soweit ich mich erinnern kann, handelt der Song von einem Sohn, der vergeblich versuchte, seine Mutter zu vergiften, nachdem sie ihn jahrelang missbraucht hatte. Die Geschichte machte damals Schlagzeilen in den Zeitungen.“ Die B-Seite, „Smile please“, ist ein erstaunliches Stück Proto-Punk-Streetrock. Der Song basiert auf dem Riff von „Son of fantasy“ der US-Band HOOK, aber der gewalttätige, provokante, anarchistische Text stammt von Mauritz, der unter anderem dafür plädiert, Skinheads anzugreifen und die Polizei zu attackieren: „If you see a policeman / Strike him down as fast you can / Try to catch him, he’s not quick / He’s got no brain, but he’s thick.“ Der Text war sogar auf dem Klappcover abgedruckt, so dass jegliche Fehlinterpretation ausgeschlossen war. Walla: „Es war vielleicht unser anarchistischster Song, mit dem wir uns von der bürgerlichen Gesellschaft distanzieren und zeigen wollten, dass uns der Chart-Erfolg egal war. Wie zu erwarten war, wurde der Song nach ein paar Durchläufen aus den Radio-Playlists entfernt. Die Reaktion der Printmedien bestand aus der Zustimmung zu diesem Verbot.“
1970 verließ Gitarrist Helge Thor die Gruppe und wurde durch Paul Braunsteiner ersetzt. „Helge Thor konnte und wollte mit unserer dadaistisch-anarchischen Haltung nicht mehr mithalten und kam mit den kontroversen öffentlichen Reaktionen der Medien und des Publikums bei Live-Auftritten psychisch nicht zurecht. Wir trennten uns als Freunde.“ In der Zwischenzeit waren NOVAKS KAPELLE immer noch bei Amadeo unter Vertrag, hatten aber nicht die Absicht, ihnen weitere Platten zu liefern. 1971 verlangte das Label ein Album, und nach langen Auseinandersetzungen nahm die Gruppe etwas auf, von dem sie sicher war, dass das Label es nie veröffentlichen würde: zwei lange improvisierte Stücke mit Freejazz-beeinflusstem Instrumental-Psychedelic-Rock, bei denen Walla auf dem Altsaxophon einen Sturm entfachte. Sie nannten die beiden Stücke „Cowderwelsh“ und „Shuffle broonzin’“, den ersten und zweiten Satz einer Suite, die sie „Fartwind“ nannten. Walla teilt uns dazu mit: „Unsere damalige Plattenfirma hatte noch Anspruch auf eine LP. Als die Firma versuchte, uns durch einen Vertrag unsere Tantiemen vorzuenthalten, unterschrieben wir mit ‚Alles Gute, eure Tante Emma‘. Sie wurden sehr wütend und bestanden darauf, dass wir die LP ablieferten. Wir gingen ins Aufnahmestudio und legten ihnen ein faules Ei ins Nest. Im Studio beschlossen wir, ein dadaistisches Musikhappening zu organisieren. Wir hatten eine Menge Spaß dabei, uns die Reaktionen der Verantwortlichen vorzustellen, wenn sie unsere Arbeit hören würden. Wir haben einfach gejammt, was uns in den Sinn kam, egal, wie das Ergebnis ausfiel. Am Ende stellten wir ein metallenes Waschbecken im Aufnahmeraum auf und pissten alle gleichzeitig hinein und bestanden darauf, dass auch das Geräusch aufgenommen werden muss.“
Das faule Ei, das sie gelegt hatten, hatte den gewünschten Effekt. Das Album hatte keinen erkennbaren kommerziellen Wert, aber die Gruppe hatte die Bedingungen ihres Vertrags erfüllt und konnte nun gehen. „Natürlich wurden diese Aufnahmen nie veröffentlicht und so mit der Zeit zur Legende. Es gab Gerüchte über die ‚verlorene Aufnahme‘ von NOVAKS KAPELLE. Es gab ein paar Exemplare der Testpressung, und 2022 veröffentlichte ein kleines unabhängiges Label die Platte mit dem von mir vorgeschlagenen Titel ‚Novaks Kapelle Greatest Hits‘.“
Es sollte sechs Jahre dauern, bis NOVAKS KAPELLE wieder eine Platte veröffentlichten. Während dieser Zeit blieb die Gruppe jedoch aktiv. Walla erzählt: „Wir standen bei den Radiosendern auf der schwarzen Liste und keine Plattenfirma zeigte Interesse an uns, aber das machte nichts. Wir probten täglich und entwickelten uns musikalisch in eine Richtung, die wir wollten, spielten Konzerte in Italien, Deutschland und tourten durch Österreich. Für uns war es besonders wichtig, die Erwartungen unseres Publikums zu zerstören. Wenn mit einem Skandal gerechnet wurde, haben wir einfach unsere Musik gespielt und umgekehrt. Das verschaffte uns den Ruf einer skandalträchtigen Band. Wir erlebten so viele, manchmal lebensgefährliche, Situationen bei Konzerten, dass es den Rahmen dieses Interviews sprengen würde, alles zu erzählen.“ Er nennt ein Beispiel: ein Festival in der Grugahalle in Essen. „Es war ein dreitägiges Hallenfestival mit SOFT MACHINE, KINKS ... Wir waren auch auf dieser Liste. Wir waren für den dritten Tag gebucht und die Leute lagen eigentlich nur herum, rauchten Gras und waren schmutzig. Ein UFO hätte dort landen können und sie hätten nicht einmal hingeschaut. Es war sinnlos, dort etwas zu machen. Außerdem musste jede Band dort ihr eigenes Musikequipment benutzen und unseres war im Vergleich zu den anderen ziemlich mickrig. Wir haben dann unsere Roadies, die eigentlich Familienmitglieder oder gute Freunde waren, auf die Bühne geschickt, um zu spielen, und die konnten natürlich überhaupt nichts. Das war Free Jazz im besten Sinne. Und dann begann ein Gewitter. Alles, was du dir vorstellen kannst, flog auf die Bühne: Schuhe, Essensreste – alles, was im Saal herumlag. Dann sind die Roadies von der Bühne gegangen und wir kamen raus. Aus irgendeinem Grund hatte ich eine kleine blecherne Spieluhr dabei, die ich vor das Mikrofon hielt, wo sie ihre kleine Melodie spielte. Peter hatte in dem ganzen Durcheinander eine große Papierflagge von Großbritannien gefunden und sie angezündet. Viele englische Roadies und Musiker rannten vor die Bühne und starrten uns ungläubig an. Wir haben nichts weiter unternommen. Der Festivalorganisator tauchte auf und schrie wütend: ‚Seid ihr verrückt?‘ Travnicek antwortete: ‚Verpisst euch oder ihr seid gefickt.‘ Dann versuchten die Leute, die Bühne zu stürmen, und wir mussten uns in der Garderobe einschließen. Der Veranstalter hatte keine Ahnung, wie er uns da lebend rausholen sollte. Es gäbe noch viele solcher Dinge zu erzählen, von denen ich das meiste längst vergessen hatte, die mir aber später von Zeitzeugen wieder ins Gedächtnis gerufen wurden.“
Mitte der 1970er Jahre war eine neue Generation lauter, aggressiver, rebellischer Streetrocker aus der Working Class auf dem Vormarsch. Eine Band aus London namens SEX PISTOLS schrie etwas von Anarchie und dem Angriff auf Passanten. Ihre Live-Auftritte galten als unverschämt und konfrontativ. THE CLASH wollten selbst randalieren, während die RAMONES aus New York City einen Ohrwurm darüber veröffentlichten, die Bälger mit einem Baseballschläger zu verprügeln. All das muss jedem, der je ein Konzert von NOVAKS KAPELLE besucht oder ihre Platten gehört hatte, wie ein alter Hut vorgekommen sein. Seit 1967 zelebrierten sie ihre eigene Rebellion, propagierten Anarchie, spuckten den Faschisten ins Gesicht und sangen nicht über das Verprügeln von verzogenen Kindern, sondern von Polizei und Skinheads. Man könnte vermuten, dass es für Walla Mauritz und seine Bandkollegen so aussah, als würden die Leute 1976 und ’77 plötzlich etwas nachmachen, was sie schon seit fast einem Jahrzehnt getan hatten. Aber laut Walla war das überhaupt nicht der Fall – und selbst wenn es so gewesen wäre, hätte es ihnen nichts ausgemacht: „Wir verfolgten die Entwicklungen der Rockszene nur am Rande, aber damals sahen wir uns noch nicht als die Vorreiter des Punk. Erst viel später wurden wir von Musikjournalisten als die Avantgarde des Punk ausgemacht, mit der Frage: ‚Wurde der Punk in Wien erfunden?‘ Ich bin kein großer Fan davon, Musikgenres zu klassifizieren, also war und ist eine solche Einordnung durch Außenstehende für mich nicht wichtig.“
1977 stieß Harri Stojka zur Gruppe, ein begnadeter Gitarrist, der seit 1970, als er 13 Jahre alt war, professioneller Musiker war und eine Zeit lang bei Karl Ratzers GIPSY LOVE mitgewirkt hatte. Walla erinnert sich: „Zu dieser Zeit beschloss unser Gitarrist Paul Braunsteiner, sich auf seine Karriere als Maler zu konzentrieren – er hat eine akademische Ausbildung – und die Gruppe in freundschaftlichem Einvernehmen zu verlassen. Harri Stojka ist ein Cousin von Karl Ratzer und wir kannten uns gut. Harri war von unserer Haltung beeindruckt und als wir ihn fragten, ob er mitmachen wolle, sagte er sofort zu. Wir fragten Paul, ob er bereit wäre, bei einigen Proben mitzumachen, um Harri seine Gitarrenparts bei den Liedern zu zeigen. Es stellte sich heraus, dass sich die beiden Gitarristen so gut ergänzten, dass Paul sich entschloss, bei der Band wieder einzusteigen. Harri, ein Angehöriger der Lovara-Roma, war schon damals ein unglaublicher Virtuose und brachte seine Ideen auf kongeniale Weise in unsere Musik ein. Eine große Bereicherung.“ Tatsächlich hatte Harri schon einige Jahre zuvor mit NOVAKS KAPELLE gespielt, bei der berüchtigten „Faules Ei“-Session, die später als „Greatest Hits“ veröffentlicht wurde. Walla: „Als wir es aufnahmen, war Harri 14 Jahre alt und war zufällig mit seinem Cousin Jano, einem Schlagzeuger, im selben Tonstudio bei Peter Müller, um selbst eine Platte aufzunehmen. Ich kannte Harri durch Karl Ratzer und lud ihn ein, mit uns zu jammen. Auf der Aufnahme ist er vielleicht fünf Minuten lang zu hören. Wir hatten alle mächtig Spaß und haben viel gelacht.“
Die nächste NOVAKS KAPELLE-Platte wurde noch im selben Jahr veröffentlicht, eine 12-Zoll-EP mit 45 rpm, erschienen auf dem Pan-Label (einer Abteilung von Ariola) und mit dem Titel „Novakskapellelive“. Es erschien auch eine Kassettenversion mit anderem Artwork. „Sie wurde bei mehreren Konzerten unter unterschiedlichen technischen Bedingungen aufgenommen, was man auch deutlich hören kann“, erklärt Walla. Die Band spielte nun Hardrock mit Artrock-Einschlag. Eines der einprägsamsten Stücke ist „Madman’s prayer“, eine ausschweifende, stimmungsvolle Nummer, bei der Stojka die Akustikgitarre mit den Fingern zupft. Die Inspiration für den Text kam wieder aus dem wahren Leben, wie Walla erzählt: „Ein enger Freund von mir wurde in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, weil er nach einem LSD-Trip nicht mehr in die Realität zurückfinden konnte. Ich habe ihn besucht und dann versucht, seine Gefühlswelt zu beschreiben.“ Ein weiterer Höhepunkt ist „Din of the stars“, eine stimmungsvolle, existenzielle Nummer mit einem wunderbar trostlosen Mundharmonika-Break. „I can hear the din of the stars, far above my head“, singt Mauritz. „I’m rollin’ over lonely in my bed.“ Walla erläutert: „‚Din of the stars‘ handelt von einem Menschen, der sich aufgrund einer verlorenen Liebe in einem Zustand völliger Hoffnungslosigkeit befindet. Er fühlt sich so einsam, dass er glaubt, nur noch das Rauschen der Sterne zu hören und sonst nichts mehr zu spüren.“
Als Nächstes machte sich die Gruppe an die Arbeit für ihr erstes richtiges Studioalbum „Naked“, das 1978 bei Ariola veröffentlicht wurde. Walla: „Ich weiß nicht mehr, wie wir zu der Zusammenarbeit mit Ariola gekommen sind, aber wahrscheinlich durch den deutschen Manager, der uns damals betreute. Für die Aufnahmen von ‚Naked‘ bot uns die Plattenfirma das renommierte Musicland Studio in München an, das von Reinhard Mack, alias Reinhold Mack, als Toningenieur geleitet wurde. Das Studio hatte bereits für so bekannte Künstler wie die ROLLING STONES, LED ZEPPELIN, Donna Summer, Rory Gallagher, QUEEN und DEEP PURPLE gearbeitet. Als wir ankamen, hatten sie gerade ein Album von ELECTRIC LIGHT ORECHESTRA abgeschlossen. Am Anfang gaben sie sich uns gegenüber reichlich arrogant, aber das verschwand nach den ersten Sessions. Leider erkrankte Mack nach Abschluss der Aufnahmen an einer Grippe und war nicht mehr in der Lage, den finalen Mix selbst vorzunehmen – was dazu führte, dass das Endprodukt nicht unseren Erwartungen entsprach, was das anging. Soweit ich mich erinnere, dauerten die Aufnahmen etwa zehn Tage.“
Das Album ist durchweg exzellent, ein intelligentes, provokantes, gut produziertes Artrock-Album, das auf einer ähnlichen Wellenlänge liegt wie Werke von Bands wie ROXY MUSIC, JET und den DOCTORS OF MADNESS, aber mit schärferen, subversiveren Seiten. Neben einer neuen Version des wunderbaren „Din of the stars“ gehören zu den herausragenden Stücken die flammende Punk-Nummer „Money, money“ (mit einem heftigen, MC5-ähnlichen Doppel-Leadgitarren-Einsatz), „Country love“, ein zärtliches Liebeslied für ein Schwein, das zum Schlachten geschickt wurde („Oh how I loved her curly tail / Her red eyes, pinky skin / And the way she stumbled through the dirt“), und das verschlungene „Supermarket dreams“, in dem ein verschmähter Liebhaber sein Mädchen anfleht zurückzukehren, um seine „supermarket dreams“ zu vertreiben. Walla: „In ‚Supermarket dreams‘ geht es um Träume, die so gewöhnlich sind wie die, die jeder Durchschnittsmensch hat, und die so erreichbar sind wie Supermarktartikel. Aber wie wir alle wissen, klappt es im Leben nicht immer. In diesem Lied leidet der Protagonist unter dem Verlust einer romantischen Beziehung, bis sich herausstellt, dass er sich während dieser Beziehung mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infiziert hat.“
Ein weiteres Highlight ist „Light ’n’ darkness“, eine kraftvolle, grüblerische, bluesige Nummer über einen verurteilten Mörder, der ein Gefühl von Freiheit empfindet, sobald das Licht ausgeht: „Darkness is hiding my sinful crime / Now I have scope to roam / And follow the road back home.“ Der Song gehörte schon seit einiger Zeit zum Live-Set der Gruppe: Ein Clip, wo sie ihn 1971 (mit zwei Schlagzeugern) live aufführten, ist auf YouTube zu finden. Walla über den Hintergrund: „‚Light ’n’ darkness‘ handelt von der Ausweglosigkeit eines zu lebenslänglicher Haft verurteilten Mörders und beschreibt den Alltag im Gefängnis. Nur nachts, in seinen Träumen, findet er seine Freiheit.“ Es ist ein wirklich bewegender Song, brillant vorgetragen und mit einem wunderbar effektiven Bläserarrangement – man muss sich die ROLLING STONES in ihrer „Exile“-Ära vorstellen, mit Texten von Fjodor Dostojewski.
Auch mit dem Cover des Albums haben NOVAKS KAPELLE wieder Grenzen überschritten: Auf der Vorder- und Rückseite sind drei nackte ältere Damen abgebildet, die in einer spärlich eingerichteten Wohnung Martinis trinken. Das Design war schon dadurch seiner Zeit voraus, dass es verbreitete Klischees über das Körperbild und die Einstellung zu Alter und Sexualität infrage stellte. Walla merkt an: „Eigentlich wollte ich ein Albumcover nach dem Vorbild von Jimi Hendrix’ ‚Electric Ladyland‘ machen, mit der gleichen Anzahl nackter, aber älterer Frauen. Es stellte sich jedoch heraus, dass es unglaublich schwierig war, die erforderliche Anzahl älterer Frauen zu finden, die bereit waren, sich nackt fotografieren zu lassen. Wir fanden zwei Damen, die als Aktmodelle an der Kunstakademie arbeiteten. Die dritte Dame war die Mutter unseres Bassgitarristen Peter Travnicek, die sich bereit erklärte mitzumachen. Hut ab vor ihrem Mangel an Eitelkeit. Die Fotosessions fanden in Peters Studio statt; er arbeitete damals als Grafiker in der Werbebranche. Peters damalige Freundin, Sabine Sarnitz, eine professionelle Fotografin, machte die Bilder. Die Fotos der Band auf der Innenseite des Covers stammen ebenfalls von ihr.“
Ariola war überraschenderweise mit dem Konzept einverstanden, hielt es aber für notwendig, einige Anpassungen vorzunehmen, um die Platte erfolgreicher vermarkten zu können. „Die Plattenfirma war mit dem Artwork einverstanden, meinte aber, die Neugier der Käufer mit einem besonderen Gag wecken zu wollen, und überzog die Platte ohne unsere Zustimmung mit einem zusätzlichen Cover aus rotem, undurchsichtigem Plastik, auf dem folgender Text in deutscher Sprache stand: ‚ACHTUNG! Das Cover dieser Platte könnte empfindliche Gemüter schockieren, weswegen wir es abgedeckt haben. Wir bitten um Ihr Verständnis! NOVAKS KAPELLE – Naked.‘ Wir hassten diese Art von Spießbürgertum, aber wir konnten nichts dagegen tun.“
In Großbritannien wäre das alles unwiderstehliches Futter für die Boulevardpresse gewesen, aber auf dem europäischen Festland löste die Platte überhaupt kein Medienecho aus, zumindest soweit sich Walla erinnern kann. Aber das war auch nicht die Absicht der Band. Walla dazu: „Die meiste Zeit haben wir uns nicht um die Reaktionen der Medien oder der Öffentlichkeit auf unsere Produkte gekümmert. Ich kann mich heute an nicht eine Kritik erinnern, weder positive noch negative. Wir haben auch nie die Musikcharts oder Hitlisten verfolgt, um zu sehen, wo wir stehen. Ich habe auch keine Zeitungsausschnitte oder Konzertkritiken über uns gesammelt. Das gesamte Material, das ich heute habe, wurde mir erst Jahre später von Fans zugeschickt. Aus kommerzieller Sicht müssen die Verkaufszahlen für die Plattenfirma zufriedenstellend gewesen sein, denn sie planten bereits ein weiteres Projekt mit uns. Wir haben uns nie als eine Band gesehen, die dem kommerziellen Erfolg hinterherlaufen müsste. Kurz gesagt: Wir waren nicht wegen des Geldes dabei!“
Die Presseberichte, die über die Gruppe in dieser Zeit erschienen, waren in der Regel nicht gerade förderlich für ihren Erfolg. Mauritz erinnert sich an ein paar Vorfälle: „Nach der Veröffentlichung der LP ‚Naked‘ kam es während eines Radiointerviews zu einem Skandal. Auf die Frage, warum Harry Stojka als Virtuose mit Leuten zusammenspielt, die musikalisch nicht auf dem gleichen Niveau sind, antwortete Peter Travnicek: ‚Das liegt daran, dass Erwin [Novak] so einen schönen Arsch hat.‘ Ein Interview, das ich etwa zur gleichen Zeit für eine Fernsehsendung in einer Toilette gab, löste heftige Reaktionen aus, als ich sagte: ‚Die besten Ideen bekommt man, wenn man scheißt.‘ Das alles war nicht gerade förderlich für weitere Auftritte im Fernsehen. Auch im Mainstream-Pop haben wir uns nicht viele Freunde gemacht. Bei der Präsentation der Single ‚It Takes Me Higher‘ der Spacepop-Gruppe GANYMED in einer Veranstaltungshalle in Wien wurde Peters Losnummer bei einer Tombola gezogen und er hatte eine Platte von GANYMED gewonnen. Peter und ich gingen zusammen auf die Bühne. Peter ließ seine Hose herunter und ich schob ihm die Single, die wir gerade erhalten hatten, in die Arschritze, woraufhin er mit der Platte in seinem Arsch wedelnd von der Bühne ging.“
Eine letzte NOVAKS KAPELLE-Platte erschien 1979, eine 12“-EP mit dem Titel „Brennmaterial für die 80er Jahre“, drei punkige Hardrock-Songs und ein kurzes akustisches Stück namens „Please people“, mit einer schönen Gypsy-Gitarre von Stojka. Walla: „Die Songs für ‚Brennmaterial für die 80er Jahre‘ waren Überbleibsel von ‚Naked‘, die keinen Platz mehr auf der LP gefunden hatten. Bei Konzerten waren das die Lieder, die vom Publikum am meisten verlangt wurden.“ Die Band löste sich 1979 auf, obwohl ein weiterer Song, der punkige Stampfer „You’re trying to tell me“, 1981 auf dem Sampler „WienmusikK“ erschien. „Der Text dieses Liedes ist eine Ablehnung der gesellschaftlichen Anforderungen an das eigene Leben und entstand aus meiner Vorliebe für die Philosophie von Max Stirner, der ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ geschrieben hat“, erklärt Walla.
Nach der Auflösung widmeten sich die Bandmitglieder anderen Dingen. Walla führt aus: „Die unterschiedlichen künstlerischen Interessen der Bandmitglieder, Malerei, Literatur usw., hatten sich im Laufe der Jahre verfestigt. Das führte dazu, dass immer weniger Energie in die Band geflossen war. Ähnlich wie bei einer Ehe, die zu lange gedauert hat, begannen die Strukturen um 1978 auseinander zu driften. Wir respektierten einander sehr und trennten uns, ohne zu streiten. Bis heute sind wir in Kontakt miteinander. Helge Thor, unser erster Gitarrist, starb relativ jung unter ungeklärten Umständen, Jahre nachdem er die Gruppe verlassen hatte. Erwin Novak lebte viele Jahre auf der griechischen Insel Patmos und in Wien. Er arbeitete als bildender Künstler und besaß ein großes Segelboot. Er ertrank während eines Segeltörns im Jahr 2018 und wurde auf Patmos beigesetzt. Peter Travnicek arbeitet als Kunstgrafiker und lebt ebenfalls auf Patmos und in Wien. Paul Braunsteiner lebt in Wien und ist Maler, er hat mehrere Science-Fiction-Romane verfasst und gibt als Gitarrist kleinere Konzerte mit Freunden. Harri Stojka entwickelte sich wie Karl Ratzer zu einem der bekanntesten und herausragendsten Jazzgitarristen Europas.“
Auch Walla ist seit der Auflösung weiterhin kreativ: „Da ich mich schon seit den 1960er Jahren für Flamenco-Musik begeistere, intensivierte ich mein Interesse, reiste nach Andalusien und beschloss, für einige Jahre an der Costa del Sol zu leben. Ich lernte von verschiedenen Meistern wie Andres Batista, Enrique Melchor und vielen anderen. Ich habe für Sänger und Tänzer gespielt. Ich gebe keine öffentlichen Konzerte mehr, sondern unterrichte Flamenco-Gitarre. Mein Interesse an Literatur und Zeitgeschichte seit meiner frühen Jugend und die Kontakte zu vielen Autoren in der deutschsprachigen Literaturszene weckten in mir den Wunsch, selbst ein Buch zu schreiben. 1996 veröffentlichte der Picus Verlag meinen Roman ‚Totstellen‘.“
Die Musik von NOVAKS KAPELLE klingt heute genauso lebendig und spannend wie eh und je. „Hypodermic needle“, „Doin’ that rhythm thing“, „Smile please“ und „Not enough poison“ sind auf zahlreichen Garage- und Psych-Compilations erschienen. Erst kürzlich wurden ihre beiden Singles aus den Sechzigern von Bachelor Records auf Vinyl neu aufgelegt. Ein Vinyl-Rerelease von „Naked“ erschien 2013 bei Cien Fuegos und 2017 wurden die kompletten Aufnahmen der Band für ein 2CD-Set mit dem Titel „Fartwind: Complete Discography 1967-1979“ von Trost Records zusammengestellt.
„Vieles von dem, was wir auf der Bühne taten, war spontan, aus dem Moment heraus geboren und ohne Rücksicht auf die Folgen, ob gut oder schlecht.“, erinnert sich Walla rückblickend. „Die künstlerische Wirkung war immer nur für die Gegenwart gedacht. Deshalb bin ich heute überrascht – ich, der ich nie zurückblicke und über meine musikalische Vergangenheit nachdenke –, dass unsere Arbeit nach so vielen Jahren wieder veröffentlicht wird, dass Compilations erstellt werden und neue Generationen junger Menschen Interesse an unserem Schaffen zeigen. Vielleicht ist es Nostalgie für eine Zeit, die nie so existierte, wie man sich das heute vorstellt.“
Danke an Walla Mauritz, Elmar von Bachelor Records, Wolfgang Reitter von Konkord, Al Bird Dirt und Joachim vom Ox-Fanzine.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #175 August/September 2024 und Mike Stax