Für Menschen, die aus der rechten Szene aussteigen möchten, gibt es mittlerweile eine Vielzahl an Beratungsangeboten. Dr. phil. Christian Pfeil forscht seit vielen Jahren zu Aussteiger:innen der rechten Szene und ist seit letztem Jahr Projektkoordinator eines Ausstiegsprogramms. Inwieweit sich die Angebote unterscheiden, wie die praktische Arbeit aussieht und warum die politische Bildungsarbeit von Aussteiger:innen kritisch bewertet werden muss, erzählt er im folgenden Interview. Auf ein Foto von ihm wurde hier bewusst verzichtet, da es Teil des Sicherheitskonzeptes ist, nicht mit personenbezogenen Bildern in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten.
Christian, was genau sind eure Arbeitsschwerpunkte und wie wird euer Projekt gefördert?
Unser Arbeitsschwerpunkt ist die Ausstiegsbetreuung von Menschen, die rechten Szenekontexten den Rücken kehren wollen und die sich zum Ausstieg aus einem solchen Kontext entschlossen haben. Diesen Personen wollen wir auf dem Weg in die Re-Integration in die demokratische Zivilgesellschaft helfen. „Distance – Ausstieg Rechts“ ist ein gemeinnütziges und zivilgesellschaftliches Ausstiegsprogramm für Nordwest-Niedersachsen. Es wird gefördert über das Landes-Demokratiezentrum mit Landes- und Bundesmitteln im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“.
Mit wem arbeitet ihr zusammen?
Auf der einen Seite sind wir natürlich eingebunden in die zivilgesellschaftlichen Beratungs- und Interventionsangebote im Kontext von „Demokratie leben!“ hier in Niedersachsen. In der konkreten Fallbetreuung werden wir aber natürlich auch auch mit anderen Angeboten zusammenarbeiten, die im Abwendungsprozess und den damit doch oftmals einhergehenden Problemlagen von Belang sein können, also beispielsweise Suchtberatung- und -therapie, psychotherapeutische Angebote, Schuldner:innenberatung, Tattoo-Studios, die einschlägige Szenetätowierungen covern, und, und, und ... Überall da, wo wir mit unseren beraterischen Kompetenzen an unsere Grenzen stoßen, werden wir Netzwerkpartner:innen hinzuziehen, die mit der jeweiligen Expertise passgenau helfen können. Außerdem sind wir Teil der „Bundesarbeitsgemeinschaft – Ausstieg zum Einstieg“ sowie vom „Nordverbund Ausstieg Rechts“, einem Netzwerk der zivilgesellschaftlichen Distanzierungs- und Ausstiegsprogramme der norddeutschen Bundesländer. Mit den Kolleg:innen von „RAUSzeit Ausstiegshilfe Rechts“, die sind zuständig für Süd-Niedersachsen, haben wir jetzt vor kurzem außerdem noch eine Kooperation mit dem Namen „ZIVAR Zivilgesellschaftliche Ausstiegsberatung Rechts“ begründet – diese soll die Zusammenarbeit der zivilgesellschaftlichen Ausstiegsberatungen in Niedersachsen ein Stück weit koordinieren und den Austausch, die kooperative Fallbetreuung und die kollegiale Beratung vereinfachen. Und natürlich arbeiten wir auch mit den staatlichen Anlaufstellen zusammen, wenn es der Fall erfordert, gar keine Frage, wobei auch eine Zusammenarbeit über Ländergrenzen, wenn beispielsweise innerhalb eines Betreuungsfalles ein Wohnortswechsel ansteht, möglich ist. Kooperative Fallbearbeitung und kollegiale Beratungen sind in diesem Arbeitsfeld von großer Relevanz.
Inwieweit unterscheidet sich euer Beratungsangebot von staatlichen Anlaufstellen?
Wir stehen nicht in „Konkurrenz“ zu den behördlichen Anlaufstellen, sondern sind ein zusätzliches Angebot an Menschen, die sich mit dem Gedanken tragen, rechtsextreme Szenekontexte zu verlassen. Demzufolge kooperieren wir auch mit behördlichen Angeboten und tauschen uns selbstverständlich mit ihnen auch aus. Was uns von ihnen unterscheidet, ist, dass wir nicht dem Legalitätsprinzip unterliegen. Das bedeutet, dass wir nicht zur Anzeigeerstattung verpflichtet sind – damit umgehen wir auch den Interessenkonflikt, der sich da in behördlich organisierten Bezügen ergeben kann. Das schafft natürlich schon eine gewisse Niedrigschwelligkeit und erleichtert den Zugang. Bei uns spielt die – kritische –Auseinandersetzung mit der rechtsextremen Ideologie innerhalb der Ausstiegsbetreuung eine ganz entscheidende Rolle. Unser Zugang zu den Klient:innen ist auch ein anderer: Wir arbeiten mittels generalisierter Ansprache, das heißt wir sprechen nicht von uns aus gezielt Personen in der rechten Szene direkt an und versuchen diese zu einem Ausstieg zu bewegen, sondern machen quasi ungerichtet auf unser Angebot aufmerksam – und sind dann, hoffentlich, bekannt, wenn ein Abwendungsprozess eingeleitet wird. Wir haben uns als „Distance - Ausstieg Rechts“ außerdem noch die Ansprache und Betreuung von Frauen im Ausstiegsprozess als Schwerpunkt gesetzt. Rechtsextremismus und damit auch Ausstiegsprozesse werden mehrheitlich noch männlich gedacht, Frauen als Akteurinnen der rechten Szene dagegen kaum wahrgenommen. Da wollen wir ansetzen, und versuchen gerade, entsprechende Formen der Ansprache zu entwickeln, um Ausstiegsangebote auch für Frauen sichtbar zu machen.
Was sind Anlässe und Beweggründe für eine Person, aus der rechten Szene auszusteigen?
Zweifel, etwa ausgelöst durch Desillusionierung, negative Sanktionierungen, ob innerhalb oder außerhalb des rechten Bezugsrahmens, aber auch der Wunsch nach der bürgerlichen Normalbiografie, die mit einer ständig am Rande der Illegalität agierenden Szenezugehörigkeit nur schwer zu vereinbaren ist, können Gründe dafür liefern, dass die rechte Szene an Anziehungskraft verliert. Wichtig ist hierbei: Es gibt nicht den „einen“ Grund zum Ausstieg, sondern vielmehr ist es eine Gemengelage aus unterschiedlichen Störfaktoren, die schließlich dazu führen können, dass Personen aus der rechtsextremen Szene aussteigen wollen. Das müssen anfänglich noch nicht einmal ausgeprägte Zweifel an der rechtsextremen Ideologie sein, sondern vielmehr ein Konglomarat aus Irritationen und Störgefühlen – und dann reicht eventuell der sprichwörtliche „Tropfen“ der das Fass zum Überlaufen bringt und einen Ausstiegsversuch initiiert. Aber, um es deutlich zu sagen: Niemand wacht eines schönen Morgens auf, und sagt „Ich möchte kein:e Rechtsextremist:in mehr sein“. Genauso wenig, wie niemand von einem Tag auf den nächsten beschließt: „Ich werde jetzt Teil der extrem rechten Szene“.
Wie erfolgt die Kontaktaufnahme zu euch?
In den meisten Fällen über Multiplikator:innen, also Personen aus dem Umfeld der Klient:innen, die dann ganz klassisch über Telefon oder Mail den Kontakt aufnehmen, wobei wir jetzt seit einiger Zeit auch die Möglichkeit der Online-Beratung via Chat anbieten – die aktuelle Corona-Situation stellt da natürlich eine ganz besondere Herausforderung dar, der man dann irgendwie begegnen muss.
Was zeichnet deiner Ansicht nach einen gelungenen Ausstieg aus?
Da zitiere ich mal aus den Qualitätsstandards, wie sie durch die „BAG Ausstieg zum Einstieg“ formuliert worden sind, und denen wir uns verpflichtet haben: „Ein gelungener Ausstieg ist das Ergebnis eines professionell begleiteten Prozesses. Ein solcher Prozess beinhaltet die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der menschenverachtenden Einstellung, eine gelungene Distanzierung, die Hinwendung zu einer Lebensweise, die mit den Grundwerten von Demokratie und Pluralität vereinbar ist, und den Verzicht auf Gewalt.“ Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Wie lange dauert ein Ausstiegsprozess?
Das lässt sich so pauschal nicht sagen, das hängt sicherlich auch damit zusammen, wie tief die betreffende Person in die Szene involviert war, wie stark die Ideologie verfangen hat und ob noch Bezüge außerhalb des Szenekontextes bestanden oder bestehen. Es lässt sich aber feststellen – und hier beziehe ich mich ausdrücklich auf die Erfahrungen der Kolleg:innen der anderen Ausstiegsangebote, mit denen wir im Austausch stehen, und den Ergebnisse aus der Wissenschaft, denn uns gibt es ja als Angebot noch gar nicht so lange –, dass ein Ausstieg durch eine längere Begleitung gekennzeichnet ist, die durchaus mehrere, oft zwei oder drei Jahre in Anspruch nehmen kann. Um so wichtiger also, auch im Sinne der Klient:innen, dass nachhaltige Strukturen geschaffen werden, die eine solche Arbeit auch mittel- und langfristig ermöglichen.
Welche Folgen hat ein Ausstieg für die jeweilige Person?
Ein hoffentlich deutlich unbeschwerteres Leben, jenseits von menschenfeindlicher Ideologie und weltanschaulichen Scheuklappen, Hass und Gewalt und durch die Nähe zur Szene auch immer zumindest potenziell im Konflikt mit den Strafverfolgungsbehörden. Aber natürlich bedeutet so ein Ausstieg auch, zumindest vorübergehend, den Verlust des Bezugsrahmens, also von – angeblichen –Freundschaften, von vermeidlichen Sicherheiten und auch Möglichkeiten einer sozialen Teilhabe. All diese Faktoren, die ja rechte Szene auch überhaupt erst in vielen Fällen oder wenigstens anfänglich attraktiv gemacht haben, brechen dann weg, und müssen aufgegeben werden. Hinzu kommen eventuell Bedrohungsszenarien durch die ehemaligen „Kamerad:innen“, damit dann auch einhergehend psychische Belastungen. Einfach ist das also alles nicht. Gerade auch die oben ja schon angesprochene Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die Aufarbeitung der rechten Ideologie kann herausfordernd sein – sowohl für Klient:innen als auch für den oder die Berater:in.
Es gibt eine Vielzahl an Aussteiger:innen, die in der politischen Bildung tätig sind, unter anderem an Schulen. Wie stehst du dazu?
Die Arbeit von und mit solchen „professionellen“ Aussteiger:innen in der politischen Bildungs- und/oder Präventionsarbeit sehe ich sehr, sehr kritisch. Zum einen ist der Rahmen, etwa vor Schulklassen, bei Abendvorträge, zu beachten, in dem solche Veranstaltungen meist stattfinden – in vielen Fällen umfasst das nur einen Zeitraum von, wenn überhaupt, wenigen Stunden, eine intensive pädagogische Aufarbeitung ist da mit Sicherheit gar nicht möglich. Die Wirksamkeit solcher „Workshops“ ist demzufolge fraglich, wie entsprechende Untersuchungen und Evaluationen eindeutig festgestellt haben. Eine nachhaltige Verhaltens- oder Einstellungsänderung, die ja dem Sinn und Zweck einer solchen Präventionsmaßnahme entsprächen, bleibt bei den entsprechend „versorgten“ Schüler:innen aus, so zumindest die Ergebnisse der angesprochenen Studien. Nicht umsonst haben sich verschiedene Ausstiegsangebote dazu entschlossen, eben keine Aussteiger:innen mehr „öffentlich“ als Expert:innen in der Prävention zu präsentieren. Wer sich dazu noch ein bisschen belesen möchte, dem/der sei eine entsprechende Veröffentlichung des Nordverbundes empfohlen: „Biografien (extrem) rechter Aussteiger*innen und ihr Einsatz in pädagogischen Settings“. Auch die Annahme, dass solche Veranstaltungen andere in rechtsextreme Kontexte involvierte Personen dazu bewegen könnten, die Szene zu verlassen, findet sich in der Forschung nicht bestätigt. Vielmehr gibt es unter anderem Hinweise darauf, dass durch solche Auftritte Solidarisierungsprozesse innerhalb der Szene angestoßen werden können, das heißt Aussteiger:innen geraten auch für solche Szenekontexte als „Verräter:innen“ in den Fokus, die diese vorher aufgrund von fehlenden regionalen Bezügen vielleicht gar „nicht auf der Kette“ gehabt hätten. Das Gefährdungspotenzial wird also für den oder die Aussteiger:in durch solche Auftritte erhöht und bleibt es auch gerade dadurch, dass die Personen eben nicht in „Vergessenheit“ geraten, und aus dem Blickfeld der Szene verschwinden. Weiter sollte an dieser Stelle aus einer professionellen Perspektive auch gefragt werden, was es eigentlich bedeutet, wenn sich die Aussteiger:innen trotzdem weiterhin auf die „Szene-Biografie“ beziehen – also wann wird dann mal der Punkt erreicht, an dem die frühere Zugehörigkeit zu extrem rechten Bezugsgruppen nicht mehr identitätsstiftend, vielleicht sogar identitätsbestimmend ist? Nach unserem Verständnis sind eine fundierte pädagogische Ausbildung auf wissenschaftlicher Basis und die sich daraus ergebende Fachlichkeit, eine fortlaufende, nicht bloß punktuelle Bearbeitung des Themas „Rechtsextremismus“, und nicht zuletzt auch die Möglichkeit, in stabile, auch längerfristig angelegte Beziehungsarbeit einzusteigen, die besten Voraussetzungen, um erfolgreiche Präventions- und Interventionsarbeit zu leisten.
Wenn es um extreme Rechte geht, ist häufig die Rede vom Extremismus. Wie stehst du zu diesem Begriff und was hältst du von phänomenübergreifenden Präventions- und Beratungsangeboten?
Der Extremismusbegriff ist ja nun in der sozial- und politikwissenschaftlichen, pädagogischen und aber auch öffentlichen Debatte nicht unumstritten – seit Jahren. Ich denke, an dieser Stelle werden wir da jetzt keine erschöpfende Diskussion führen können. Gleichwohl bin ich bin ich der Meinung, dass der Begriff nur eine begrenzte analytische Reichweite besitzt und auch immer mit der Gefahr der tendenziellen Gleichsetzung von „rechten“ und „linken“ Positionierungen einhergeht, dabei aber die so genannte „Mitte“ der Gesellschaft aus dem Fokus nimmt.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #156 Juni/Juli 2021 und Jan Krieger