Zuerst wäre einmal festzustellen, wie undefinierbar der Begriff „Noiserock“ eigentlich ist. Eine einzelne Schublade mag da eigentlich nicht passen, oder wie will man ernsthaft die frühen HELMET, TODAY IS THE DAY und die COWS miteinander vergleichen, um daraus ein einzelnes Genre herauszukristallisieren? Was ist also Noiserock?
Man kann diverse Sachen einander zuordnen ... Sachen mit einem Bluesrock-Einschlag wie KILLDOZER oder UNSANE und straightes Rockzeug wie die ersten beiden CLUTCH-Releases (die „Passive Restraints“-EP und „Transnational Speedway League“, bevor sie allmählich zur genauso guten „normalen“ Rock-Band mutierten). Eher zugänglicherer Kram wie STEEL POLE BATH TUB und GIRLS AGAINST BOYS (deren beide Alben „Venus Luxure No.1 Baby“ und „Cruise Yourself“ ich ebenso in diesem Kontext verorten würde). Surrealer Hirnfick wie die FLYING LUTTENBACHERS oder SHORTY. Trotzdem ist es schwierig, wie etwa beim Hardcore eine einheitliche Linie hineinzubekommen.
Interessant bei Noiserock ist, dass es in erster Linie ein Phänomen der frühen Neunziger war, das plötzlich spurlos vom Erdboden verschwand und gerade nach nahezu 15 Jahren Totenstarre allmählich wieder zum Leben erwacht. Was wiederum den Autor dieser Zeilen fast etwas sentimental stimmt, gehören doch die Jahre in der Noiserock-Szene zu den besten seines Lebens. Außerdem höre ich nicht nur immer noch den ganzen alten Kram und bin auch nicht bereit, mich jemals davon zu trennen. Darum ist es für Neulinge, die gerade Bands wie die PISSED JEANS entdecken, bestimmt aufschlussreich, etwas über die Anfänge zu erfahren, vor allem, da die Verbindung zu diesen weitgehend gekappt zu sein scheint. Ich möchte mir hier auch nicht den Anspruch geben, eine wissenschaftliche Arbeit abzuliefern, sondern ein paar Basisinfos zusammentragen – für den Rest hat euch Gott Suchmaschinen gegeben.
Manche sagen, Noiserock begann in den frühen Achtzigern mit FLIPPER, einer reichlich sperrigen Rumpel-Band, die anders klang, als alles, was man bis dahin gehört hatte. FLIPPER sind auch heute noch – etwa im Vergleich zu den DEAD KENNEDYS, die damals als infernalischer Lärm empfunden wurden und heute aufgrund veränderter Hörgewohnheiten fast schon konsensfähig sind – keinesfalls partytauglich (zumindest nicht, wenn es sich um die übliche Ansammlung Alternative-hörender Langweiler handelt). Wer das nicht glaubt, sollte sich mal deren aktuelle Compilation „Sex Bomb Baby“, auf der allerlei 7“s, Raritäten und ihr bekanntester Song „Ha ha ha“ enthalten sind (der unter anderem von UNSANE gecovert wurde), am Stück anhören und schauen, wie weit er kommt, bevor er beginnt, nervös mit den Augenbrauen zu zucken.
Für mich beginnt Noiserock mit dem Moment, in dem Steve Albini auf der Bildfläche erschien, der mit Sicherheit bis heute herausragendsten Figur der gesamten Noiseszene. Nicht nur, dass er gleich drei stilprägende Bands ins Leben rief (BIG BLACK, RAPEMAN und SHELLAC), er verdiente sich auch als Produzent in diesem Bereich erste Meriten.
Wenn man sich den Bandnamen RAPEMAN ansieht, versteht man auch, wieso die Noiserock-Szene bereits recht frühzeitig den Ruf weghatte, ein Sammelbecken politischer Unkorrektheiten zu sein. Dabei ist der RAPEMAN eine japanische Comicfigur, ein maskierter Rächer und Superheld mit einer seltsamen Form von Gerechtigkeitssinn („Righting wrongs through penetration.“). Eine Band danach zu benennen (obwohl der Name nicht glorifizierend war, im Gegenteil), wäre auch heute noch ein Wagnis – in den späten Achtzigern war das dagegen fast schon Selbstmord. So wurden RAPEMAN-Konzertplakate, ohne den Namen zu hinterfragen, damals von linken Feministinnen mit „Castrateman“ überpinselt und Auftritte glichen manchmal einem Spießrutenlauf. Dass das Album noch dazu „Two Nuns And A Pack Mule“ betitelt und damit wahrscheinlich eine Persiflage auf das afroamerikanische Thema „Forty Acres And A Mule“ war, tat sein Übriges. Dazu kam Albinis Neigung, vor allem bei Songs von BIG BLACK und RAPEMAN in die Rollen reichlich zweifelhafter Charaktere zu schlüpfen ... seien es nun ein Kinderschänder wie in „Jordan Minnesota“ oder eine besoffene, willenlose Collegeschlampe in „Trouser Minnow“.
Das alles legte irgendwie den Grundstein für das Selbstverständnis der Noiserock-Szene, die zum überwiegenden Teil aus ehemaligen Punk/Hardcore-Hörern bestand, die den teilweise recht humorfreien Dogmatismus eben dieser Szene nicht mehr ertragen wollten und sich dahin flüchteten, wo man mehr Bewegungsfreiheit hatte, ohne auf sein gewohntes Umfeld verzichten zu müssen. Noiserock war größtenteils unpolitisch, und wenn es doch zu klar zuzuordnenden Aussagen kam, was bei Steve Albinis recht häufig der Fall war, war die Art und Weise, wie sie verpackt wurden, eine ganz andere als gewohnt. Musikalisch blieb Albini seinem Label Touch and Go bis zu dessen Ende stets treu und behielt seine D.I.Y.-Attitüde bei, den Begriff „Indie“ ein für allemal definierend, bevor er plötzlich auf jede beliebige Deppenband angewendet wurde.
Touch and Go machte Chicago in den frühen Neunzigern auch zum absoluten Treffpunkt der Noiserock- und Alternative-Szene und veröffentlichte Platten von unter anderem den BUTTHOLE SURFERS, SCRATCH ACID sowie deren Nachfolgern THE JESUS LIZARD, TAR und den Instrumentalberserkern DON CABALLERO. Ausgerechnet mit den BUTTHOLE SURFERS sollte es dann mächtige Probleme geben. Allgemein Usus bei Touch and Go Records war es, dass die Einnahmen (nach Abzug von Produktions- und Promotionskosten) zu gleichen Teilen zwischen Label und Bands geteilt wurden. Diese Vereinbarung wurde per Handschlag besiegelt. Das wurde 1995 von den BUTTHOLE SURFERS angefochten, denen die Vermarktung ihrer früheren Veröffentlichungen durch das Label nicht passte und die daraufhin mehr Geld forderten. Sie verklagten 1999 Touch and Go Records auf Herausgabe der Rechte, da (laut Wikipedia) „nach ihrer Ansicht keine Vertragslaufzeit vereinbart worden war und der Vertrag folglich durch sie gekündigt werden könnte; das Label berief sich auf die US-amerikanische Copyright-Gesetzgebung, die ihnen für 35 Jahre das Copyright zusicherte“. Die Band setzte sich vor Gericht durch, und Touch and Go hatte daraus gelernt und setzte nun auf schriftliche Verträge.
Aber Touch and Go waren ein ganz netter Verein im Vergleich zu der obskuren Gestalt, die 1986 erstmals an die Öffentlichkeit trat: Tom Hazelmyer. Der ehemalige US-Marine gründete in Minneapolis Amphetamine Reptile Records zunächst nur, um Platten seiner Band HALO OF FLIES zu veröffentlichen. Nach und nach wurde das Label aber zu dem Synonym für Noiserock Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger, bis es 1998 genauso plötzlich verschwand wie die ganze zugehörige Szene auch. Zwischenzeitlich hatte es sogar einen Deutschland-Ableger gegeben, um den sich erst die Leute von Glitterhouse kümmerten, später gab es ein Büro in Hamburg. Das abrupte Ende von AmRep lag unter anderem vielleicht auch daran, dass Hazelmyers Gebaren in der Öffentlichkeit immer seltsamer wurde und gegen Ende von AmRep mit dem Wort „exzentrisch“ recht unzureichend beschrieben ist. Anscheinend hatte der gute Mann bei den Marines einen veritablen Dachschaden mitbekommen. Und ich habe bei Gigs mit Leuten gesprochen, die mit ihm zu tun hatten und ihn recht unverblümt als „irre“ beschrieben, eine wandelnde Mischung aus Schußwaffenfetischismus und Paranoia.
Dazu passt auch die Anekdote, dass neu gesignte Bands zuerst in den labeleigenen Schießraum geführt wurden, wo sie mit automatischen Waffen auf eigens dafür aufgehängte Sandsäcke ballern mussten, um ihre Eignung unter Beweis zu stellen. Des Weiteren war Hazelmyer an einem recht hässlichen Zwischenfall mit Kevin Rutmanis (früher COWS-Basser, später bei den MELVINS) beteiligt. Denn Hazelmyer fühlte sich zum bildenden Künstler berufen und legte sich hierfür das originelle Pseudonym „Fucker“ zu. Als er dann bei einer Ausstellung seiner Werke das Gefühl hatte, die MELVINS, die zur Eröffnung gespielt hatten, würden sich über ihn lustig machen, attackierte er Rutmanis, der daraufhin von der Bühne stürzte und sich schwer verletzte. Beide Seiten einigten sich, und „Fucker“ konnte seine Schuld damit abgelten, dass er einige seiner Bilder unentgeltlich für das MELVINS-Buch „Neither Here Nor There“ zur Verfügung stellte.
Dennoch wäre der ganze Boom Anfang der Neunziger ohne AmRep undenkbar gewesen. Am laufenden Band wurden stilprägende Bands und auch Artworks hervorgebracht: neben Hazelmyers HALO OF FLIES unter anderem HELMET, HAMMERHEAD (die echten, nicht die aus Neuwied), die glücklosen JANITOR JOE, mit der später an einer Überdosis gestorbenen Kristen Pfaff von HOLE am Bass, SURGERY (deren ebenfalls heroinsüchtiger Sänger nach einem Gig an einem Asthmaanfall starb), LOVE 666, BOSS HOG (die Zweitband von Jon Spencer und seiner Frau Cristina Martinez nach dem Ende von PUSSY GALORE), die COWS (die berüchtigt waren für ihre exzentrischen Live-Auftritte, neben Attacken auf das Publikum hängte sich Sänger Shannon Selberg auch gerne mal Mausefallen an die Brustwarzen), TODAY IS THE DAY, GOD BULLIES, oder experimentelle MELVINS-Scheiben wie „Prick“, für die sie sonst kein Label fanden.
Es war definitiv eine wahnsinnig produktive und kreative Zeit – bis dann plötzlich alles vorbei war. Die Suche nach Gründen hierfür ist müßig. Mitte der Neunziger begannen sich die ersten Bands aufzulösen oder musikalisch die Richtung zu wechseln (TODAY IS THE DAY beispielsweise begannen Extrem-Metal zu spielen), und manche erlagen der Verlockung gut dotierter Major-Verträge, ohne an ihre Underground-Erfolge anknüpfen zu können. UNSANEs Major-Debüt „Total Destruction“ verkaufte sich zu Beginn in Europa erbärmliche 900-mal, woraufhin sie von Atlantic/WEA gleich wieder entsorgt wurden. Anschließend wechselten sie in einen On/Off-Modus, lösten sich auf (während Chefschreihals Chris Spencer mit CUTTHROAT 9 und später mit CELAN weitermachte), brachten plötzlich wieder zwei ordentliche („Blood Run“) beziehungsweise unglaublich großartige („Visqueen“) Reunion-Alben heraus und legten sich erneut schlafen. Neueste Entwicklung: da ist zumindest wieder eine weitere Platte angekündigt. HELMET und THE JESUS LIZARD bezahlten ihre Major-Deals mit lauen kreativen Zugeständnissen und GIRLS AGAINST BOYS veröffentlichten zwar mit „Freak*On*Ica“ auf Geffen ein hervorragendes Album, das jeden alternativen Tanzclub perfekt bediente, wurden dann aber via Knebelvertrag fünf Jahre auf Eis gelegt und brachten ihr erstes und bisher letztes Album nach der Zwangspause wieder bei einem kleinen Label heraus.
Und der Rest war Schweigen. AmRep hörte plötzlich auf, zu existieren, es kamen so gut wie keine neuen Bands mehr nach. Seltene Ausnahmen waren die großartig wahnsinnigen Waliser McLUSKY, die aber auch relativ schnell über den Jordan gingen und teilweise heute unter dem Namen FUTURE OF THE LEFT wieder aktiv sind. Und natürlich Steve Albini mit SHELLAC. Ansonsten ähnelte die darbende Noiserock-Szene einer Nostalgieveranstaltung und fand plötzlich weitgehend geschlossen in der Crypt-Style-Garagenrock-Szene wieder zusammen.
Plötzlich aber tauchten aus dem Nichts Bands wie PISSED JEANS, DŸSE oder TODD auf, die exakt an den Sound anknüpften, als wären sie die letzten zehn Jahre eingefroren gewesen und hätten das beinahe komplette Verschwinden der Szene einfach übersprungen. Und glücklicherweise wurden Touch and Go und AmRep relativ kurz nacheinander 25 Jahre alt und zogen zu diesem Anlass Geburtstagsfestivals auf, bei denen ihnen diverse Hausbands die Ehre erwiesen. Bands, die jahrelang nicht mehr zusammengespielt hatten, standen plötzlich wieder auf der Bühne, sogar BIG BLACK. Bei manchen blieb es eine einmalige Angelegenheit. Manche – wie THE JESUS LIZARD – waren dermaßen in Schwung, dass sie gleich noch ein paar Gigs in Originalbesetzung dranhängten, was mir die dankbare Gelegenheit gab, sie 2009 im Festsaal Kreuzberg doch noch live sehen zu dürfen, nachdem ich sie früher verpasst hatte. Und bei HAMMERHEAD ging die wiederentdeckte Liebe so weit, dass sie sich gleich ganz wiedervereinten und eine Tour samt neuem Album ankündigten. Was wohl auch unbekanntere Bands wie BIG’N dazu motivierte, im Original-Line-up wieder auf Tour zu gehen.
Klingt wie rückwärtsgewandtes Turnhallengetingel, aber da Noiserock nie konsensfähig war – nicht mal bei Punk- oder Alternative-Publikum, dem Noiserock oft zu schräg war –, glaubt man noch an das Gute im Menschen, nämlich dass Bands vor 50 Leuten in kleinen Clubs auftreten, weil sie einfach Bock darauf haben, denn reich wird man damit wahrscheinlich bis heute nicht. Und auch wenn Touch and Go mittlerweile Geschichte ist: Amphetamine Reptile scheint wenigstens wieder von den Toten auferstanden zu sein. 2005 kam ein erstes Release in Form einer 7“, und auch bis jetzt hat sich das Label nicht durch große Releases hervorgetan, eher durch das Herstellen von Sammlerstücken wie seltenen 7“s von den MELVINS oder HALO OF FLIES (nun H*O*F) in geringer Auflage. Nach der HAMMERHEAD-Reunion, die von AmRep betreut wird, kann man sicher davon ausgehen, dass das angekündigte Album dort erscheinen wird.
Es wird sich zeigen, ob das noch einmal ein letztes Zucken ist, oder ob wirklich ein sinnvolles Revival auf uns zukommt. Da ich den Kram wahrscheinlich noch mit 60 hören werde, würde es mir die nächsten paar Lebensjahre doch um einiges angenehmer gestalten.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #96 Juni/Juli 2011 und Stefan Gaffory