Nikel Pallat ist eine Legende der deutschen Subkultur. Er wurde 1945 in Potsdam geboren, hat einen liberalen, bildungsbürgerlichen Familienhintergrund, wuchs in Berlin und Göttingen auf. Mit 14 las er das Kommunistische Manifest, machte später das jahrgangsschlechteste Abitur – und begann 1966 eine Ausbildung beim Finanzamt. 1969 zog er nach Berlin, kam mit der Musikszene dort in Kontakt und arbeitete bei einem Steuerberater, noch bis 1972. Da war er längst schon Teil von TON STEINE SCHERBEN, zuständig für Tontechnik und Organisation.
Durch die Notwendigkeit, die auf dem bandeigenen Label David Volksmund veröffentlichten Platten irgendwie in der Republik zu verteilen, baute er ein kooperatives Vertriebssystem auf, aus dem schließlich 1982 der Independent-Musikvertrieb Energie für alle (kurz: EFA) entstand, der lange Zeit die wichtigste Adresse für Punk und Artverwandtes in Deutschland war. 1993 war Pallat dann Mitgründer von Indigo, bis heute einer der großen Indie-Vertriebe hierzulande, und für Indigo arbeitet er immer noch, auch wenn er das Renteneintrittsalter lange schon hinter sich gelassen hat. Im Frühjahr 2023 erschien seine Autobiografie „Das schillernde Leben des Nikel Pallat“.
Nikel, ich bin seit über dreißig Jahren selbstständig, und der schlimmste Horror im Leben jedes Selbstständigen ist die Ankündigung einer Steuerprüfung. Wie bist du in all den Jahren als Selbstständiger mit diesem Thema umgegangen angesichts deiner beruflichen Erstausbildung beim Finanzamt?
Bei TON STEINE SCHERBEN wurden wir in den acht Jahren, in denen ich dabei war, gar nicht geprüft. Das lag sicherlich daran, dass wir keine Steuererklärung abgegeben haben und wir auch nicht so leicht auffindbar waren. Auch in Nordfriesland kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich da eine Steuererklärung für die Band abgegeben habe. Wie sich das dann später regulierte nach meiner Zeit, weiß ich nicht. Auch als ich dann selber selbstständig war, habe ich nur eine Betriebsprüfung gehabt, und die verlief relativ harmlos, weil es nichts zu verbergen gab. Ich hatte da die nötige Gelassenheit.
War die Nicht-Anmeldung damals ein bewusster Akt des Widerstands?
Die David Volksmund Produktion wurde nie als Gewerbe angemeldet, und TON STEINE SCHERBEN als Künstlergruppe auch nicht. Also sind wir auch gar nicht erst zum Finanzamt gegangen. Wir konnten so natürlich auch keine Mehrwertsteuer in Rechnung stellen oder Mehrwertsteuer absetzen und so weiter. Wir waren einfach inkognito.
Es waren damals andere Zeiten. Heutzutage wird jede Band vom Finanzamt automatisch als GbR eingestuft. War es damals einfacher, unter dem Radar zu fliegen?
Ja, früher war es auf jeden Fall einfacher, schon weil kein Datenabgleich mit anderen Stellen stattfand. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob heutzutage die GEMA oder die GVL die Umsätze ihrer Mitglieder nicht weitermeldet ans Finanzamt. Kann sein, dass so ein Datenabgleich stattfindet, aber den gab es damals nicht. So war es sicherlich leichter, unter dem Radar zu bleiben.
Letztlich hat der Staat ja aber doch immer wieder Möglichkeiten gefunden, Leute, die ihm zu widerspenstig waren, auch von der finanziellen Seite her irgendwie zu packen. Von daher ist es wirklich faszinierend, dass man TON STEINE SCHERBEN in der Hinsicht in Ruhe gelassen hat.
Wenn man nicht amtsbekannt ist, wenn man nirgends gemeldet ist, wenn man keinen Gewerbeschein hat, dann ist da zunächst kein Rankommen. Ganz unbeobachtet blieben wir aber nicht: In unserem letzten Jahr in Berlin brauchten wir unsere Telefonrechnung nicht mehr zu bezahlen. Da war es denen wichtiger, uns abhören zu können, als dass wir die Rechnung bezahlen. Wir bekamen noch nicht mal mehr eine Mahnung.
Wer hat euch abgehört? Der Verfassungsschutz?
Wer auch immer in Berlin damals dafür zuständig war.
Mit TON STEINE SCHERBEN ging es 1970 los. Habt ihr damals eigentlich mitbekommen, was in den USA so jenseits von Jimi Hendrix passierte? Damals waren ja MC5 und THE STOOGES schon aktiv, die heute als Miterfinder des Punkrock gelten und eine ganz neue Schärfe in die Rockmusik brachten.
Wir haben damals eine gemeinsame kurze Tournee mit MC5 in Deutschland gemacht, und TON STEINE SCHERBEN haben das Konzert von ihnen in Berlin veranstaltet, in der TU-Mensa, zum Solidaritätsbeitrag von zwei oder drei Mark Eintritt. Das war 1972, die Tournee fing an in Frankfurt, in Würzburg spielten wir mit ihnen gemeinsam, Stuttgart war noch, und dann kamen wir nach Berlin, und vielleicht waren noch zwei, drei andere Konzerte. Das war eine tolle Erfahrung, das mit ihnen zusammen zu machen. Wir hatten aber eigentlich keinen Draht zu denen, das ging recht anonym ab. Das waren die Amis, die haben ihr Ding gemacht, und ich weiß gar nicht, ob sie sich uns angehört haben. Wir kamen uns im künstlerischen oder auch persönlichen Austausch nicht besonders nah, das muss man klipp und klar sagen. Wir fuhren in getrennten Bussen, wir hatten natürlich eine andere Anlage als die, und ich weiß auch nicht, wer das Management von denen war, wer die nach Deutschland geholt hatte. Wir waren eben als Support mit dabei, und wie viel MC5 mitbekommen haben von dem, was wir in Deutschland machen, das weiß ich nicht. Es gab einmal eine interessante Szene: Zur Zeit des Konzerts in Würzburg gab es eine Hausbesetzung und das bekamen MC5 mit, und da waren sie, glaube ich, etwas erstaunt, was da plötzlich mit dem deutschen Publikum los war. Das Konzert in Berlin war wirklich gut gefüllt, da wurden sie gefragt, was macht der John Sinclair ...
... der ehemalige Manager der Band, der bis 1972 als prominenter Häftling wegen Marihuana im Knast saß ...
... und dazu gaben sie ein Statement ab, dass der eben immer noch im Knast sitzt. Ich habe damals jedenfalls mit niemanden von denen ein richtig intensives Gespräch geführt, so in der Art: Wie ist das bei euch in den USA, in Detroit? Wisst ihr, wie die Situation bei uns ist? Das gab es nicht.
Wie habt ihr als TON STEINE SCHERBEN Bands wie MC5 und STOOGES musikalisch wahrgenommen, in der Form, dass ihr gesagt habt, was machen die denn da?
MC5 waren uns wirklich sehr geläufig. Die STOOGES habe ich erst wesentlich später entdeckt. Da war ich auch gar nicht mehr bei der Band dabei, als die in Deutschland anders wahrgenommen wurden. Aber MC5, das bekam man mit, allein schon wegen der Berichte über John Sinclair. Und da beschäftigte man sich natürlich auch mit der Musik. Wenn du vom Musikalischen ausgehst, waren wir bei TON STEINE SCHERBEN aber weniger von Amerika beeinflusst, sondern mehr von englischen Bands, was die Musik, die Komposition und die Arrangements betraf. Aber MC5 kannten wir natürlich und wir fanden die auch toll, deren erste Platte war super und „Ramblin’ rose“ ist ein All-Time-Klassiker!
Bei Musikfan-Generationen sind fünf Jahre viel Zeit. Ihr wart eine Band der frühen Siebziger, Punk kam aber – wenn man mal die Jahreszahl 1977 nimmt – fünf Jahre später. Ihr werdet bis heute referenziert als „TON STEINE SCHERBEN, das war Punk, bevor die Leute es Punk nannten“. Wie habt ihr es, als Mitte der Siebziger Punk aus England rüberschwappte, dann wahrgenommen? Und wie standen die ersten Punks in Deutschland zu euch?
Speziell unser erstes Album ist ja sehr rauh, weil es live aufgenommen wurde, zumindest die erste Seite mit „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“, „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ und „Der Kampf geht weiter“. Das kann man wirklich von der musikalischen Härte und der Straightness her als Punk oder Protopunk charakterisieren, und das haben viele wahrscheinlich damals so gesehen, auch von der jüngeren Generation, die mit Punk groß geworden ist und uns darüber erst kennen gelernt hat. Wir hatten uns eigentlich als Rockband verstanden, das muss man deutlich sagen, die stilistisch völlig offen war. Rio und Lanrue ließen sich nie in ein musikalisches Konzept oder ein Image reinpressen. Da gab es eben den Text und dann mal die Musik oder mal die Musik. So konnten wir immer wählen zwischen den einzelnen Genres, die es gab oder die gerade angesagt waren. Das war überhaupt kein in sich abgeschlossenes musikalisches Konzept. Wenn du dir mal „die Schwarze“ anhörst, da war ich ja nicht mehr dabei, also was da an Stilvielfalt produziert worden ist, ist einfach unglaublich. Von einem einfachen Seemannslied über „Jenseits von Eden“ bis zu verträumten Liebesliedern und völlig schrulligen und abgedrehten Sachen, psychedelisch bis zum geht nicht mehr – es ist da alles dabei. Es gab nie eine stilistische Grenze. Das ist etwas, was ich heute schade finde, dass die meisten Bands sich musikalisch mal auf einen Stil festgelegt haben, und wer bricht denn da mal aus oder versucht, was wirklich anderes mit reinzubringen? Alle haben da ihre Leitplanken, und wehe, man kommt da mal ran. Nein, da geht man nicht drüber, und die Leitplanken sind sehr eng.
Ich selbst hatte damals mit 16, 17 durchaus Probleme, Musik außerhalb von „echtem“ Punk anzuerkennen. Billy Childish und THEE MILKSHAKES? Hm ... kein Punk. TON STEINE SCHERBEN? Krasse Texte, aber musikalisch ... kein Punk.
Punk wurde ja auch nicht adaptiert von TON STEINE SCHERBEN. Wenn man sich zum Beispiel die erste Platte von NINA HAGEN BAND anhört, die ja durchaus stilistisch breit ist, dann ist das Punkrock wirklich nur bei „Fickmaschine“. Sonst ist Frau Hagen musikalisch überall unterwegs. So ist es dir wahrscheinlich ganz ähnlich mit uns ergangen. Wir haben keinen Punkrock im engeren Sinne gemacht, auch wenn wir vielleicht die Besetzung dafür gehabt hätten.
In deinem Buch findet sich der Satz „Fernsehen ist ein Unterdrückungsinstrument in dieser Massengesellschaft.“ Ein krasser Satz, auch heute noch.
Der Satz ist damals in dieser WDR-Talkshow gefallen, wo ich den Tisch zertrümmert habe. Damals gab es ja nur drei Kanäle, die ARD, das ZDF und die dritten Programme. Es war ein dürftiges Angebot, kein Vergleich mit heute. Was einem heute, fünfzig Jahre später, an Bildern und Themen um die Ohren fliegt, das war damals völlig unvorstellbar. Man hatte sonst noch ein bisschen Kino und das Radio. Der Satz, der sollte eigentlich besagen: Wofür wird Fernsehen eingesetzt, wem nutzt es, und was nutzt es mir persönlich, und wie manipuliert es? Und von der Seite her war es für mich eine klare Aussage. Okay, Fernsehen ist ein Unterdrückungsinstrument: Diese Runde, wie wir da saßen, die konnte ganz liberal diskutieren. Aber im Grunde genommen veränderte es nichts. Du kannst radikale Sachen äußern, aber das ist, als wenn jemand im Hyde Park in London steht und irgendwas sagt: Es wird nicht in Politik umgesetzt, es hat keinen praktischen Nährwert. Du kannst damit vielleicht die Leute mal ein bisschen anturnen, so wie auch mich manche Leute mit ihren Fernsehinterviews über bestimmte Sachen nachdenken ließen. So ist es ja auch heutzutage noch, dass das eine oder andere vielleicht den einen oder anderen zum Nachdenken bringt. Aber im Grunde genommen ist es so, du sitzt da vor dem Bildschirm, könntest aber eigentlich in derselben Zeit auch aktiv was ganz anderes machen, eben wirklich rebellisch sein und irgendwas draußen inszenieren oder machen. Oder du pennst eben vorm Fernseher ein, irgendwann nach der Spätausgabe der „Tagesschau“.
Würdest du den Satz auf die heutige Zeit eins zu eins übertragen?
Ich weiß es nicht. Wir haben heute ein Medienchaos. Und man muss sich immer wieder fragen, wessen Interessen werden von welchen Medien vertreten, und wer macht welche Propaganda und wie viel? Was geschieht im Hintergrund, und was laufen da unterschwellig für Kampagnen ab, wo der normale Bürger überhaupt nicht durchschauen kann, wessen Interessen das dient? Wenn jetzt zum Beispiel so ein Medium wie Twitter komplett dem reichsten Mann der Welt gehört, dann wird das nicht den Sozialismus oder den Kommunismus predigen, sondern der verfolgt natürlich seine eigenen Interessen damit. Wenn Elon Musk ein exklusives Interview mit Ron de Santis macht, dann ist klar, da haben sich zwei gefunden. Und die ganzen Ängste, die in Deutschland herrschen ... Früher war es ja immer die „gelbe Gefahr“, die Chinesen, die fallen über uns her. Das war schon unter Konrad Adenauer in den Fünfziger Jahren der Spruch. Ich bin ja quasi mit China als Bedrohung groß geworden, und als Mao dann an die Macht kam, war er natürlich das absolute Feindbild für die normalen Medien mit seiner Kulturrevolution. Der Umgang mit China heutzutage ist weiterhin so angstbesetzt. Es wird nicht hinter die Dinge geschaut, es wird nur die eigene Interessenlage, also aus deutscher Sicht, gesehen: Wie retten wir unsere Märkte? Aber die politische Struktur, die dahintersteht, die ist natürlich sowieso scheußlich, weil es alte Kommunisten sind, und diese Vereinigung von Kapitalismus und Parteikommunismus ist für einen Normalbürger sowieso völlig irrational. Da wird überhaupt nicht rational irgendwo hinterfragt, was das möglicherweise für Steuerungsmöglichkeiten bietet, die gegen den kapitalistischen Markt funktionieren, obwohl man eben in China kapitalistisch ist – oder nicht, oder doch? Also dieses Zwitterding, dieses Hybride, was sie da seit Jahrzehnten machen, das ist niemanden im Westen geheuer. Und jetzt haben wir die Situation, dass China nicht mehr das bevölkerungsreichste Land der Welt ist, sondern Indien. Vergleich mal, wie in China der Wohlstand verteilt ist und was es an Armut in Indien gibt. China war das verhungertste Land nach dem zweiten Weltkrieg, aber das wird nicht gesehen.
Als Journalist sehe ich ein Land natürlich erst mal durch die Brille der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen, und da habe ich zu einem Land wie China eine ganz klare Meinung.
Da gebe ich dir Recht, da gibt es überhaupt nichts zu beschönigen. Um von da mal wieder den Bogen zu schlagen zu meinem Leben: Als Band bist du ein Medium, du kannst Aussagen transportieren, du kannst was machen. Und die Frage ist eben, wenn du eine Band bist, für wen bist du das Medium? Wenn du nur Liebeslieder singst, dann bist du nett und brav und lieb. Aber du kannst eben auch andere Sachen als Medium transportieren, so wie wir es gemacht haben, indem man aufklärerisch tätig ist und versucht, entsprechende Botschaften unter die Leute zu bringen. Das finde ich immer wieder spannend: Was haben die Leute, die aktuell Platten veröffentlichen, für Texte? Was für Botschaften wollen sie transportieren? Oder wollen sie gar nichts transportieren, nur ihr eigenes Ego darstellen? Das ist für mich unglaublich wichtig, weil wir eben als Medienleute mit dem Musikmedium sehr viel bewegen können – auch wenn wir nicht die Wahlen entscheiden. Aber wir können Stimmung machen und damit haben wir Möglichkeiten, die die Normalsterblichen nicht haben. Wir haben als Multiplikatoren ganz andere Möglichkeiten.
Ich finde es interessant, dass du aus der Aktivistenposition, die du mit TON STEINE SCHERBEN hattest, bald schon gewechselt bist in die Rolle, Tonträger mit entsprechendem Inhalt unter die Leute zu bringen. Heute bist du Mitinhaber von Indigo, einem der größten Independent-Vertriebe in Deutschland. Darüber wurden und werden Bands vertrieben, die sehr widerständig waren und sind, wo also entsprechende Botschaften über eure Kanäle in die Welt gepumpt werden.
Das war durchaus ein Ziel der ganzen Sache. Es gab deshalb auch mal Bands und Labels, mit denen wir nicht zusammengearbeitet haben. Es gab einen Künstler, wo wir darauf hingewiesen wurden, der ist absolut homophob, und der wurde aus dem Programm gestrichen. Wenn wir solche Hinweise bekamen, haben wir sehr genau und gewissenhaft hingeschaut. Man bekommt natürlich von ausländischen Labels auch mal Sachen angeboten, die man gar nicht im Detail überprüfen kann, etwa wenn man die Sprache und die Texte nicht versteht. Es ist nicht leistbar, jede Platte aus dem Ausland auf ihren inhaltlichen Gehalt zu überprüfen, da vertrauen wir unseren Label-Partnern, von denen wir hoffen, dass sie ähnlich denken wie wir, und bestimmte Sachen auch nicht unterstützen wollen. Bands wie FREI.WILD oder BÖHSE ONKELZ oder Egoldt mit Rock-O-Rama wären nicht bei uns in den Vertrieb gekommen. Da gab es immer eine klare Kante, das haben wir durchgehalten.
Da gibt es heute Mitbewerber auf dem Markt, die sehen das entspannter, die vertreiben so was ohne mit der Wimper zu zucken. Ist ja „nur“ ein Geschäft.
Das ist immer die faule Ausrede im Fall der Fälle: Wenn wir es nicht machen, machen es die anderen. Dadurch finden die natürlich immer jemanden, der das für sie vertreibt. Apropos: Es kommt immer wieder vor, dass Songs von TON STEINE SCHERBEN gekapert werden von Rechtsradikalen und wir nichts dagegen machen können. Und wenn du was dagegen machst, dann kriegen die noch eine höhere Aufmerksamkeit, weil sie sich dann in einer Opferrolle inszenieren. Ein Song wie „Allein machen sie dich ein“ wird eben immer wieder gecovert.
Kannst du dich erinnern, wann du den Begriff „independent“ oder „indie“ das erste Mal wahrgenommen hast?
Den Begriff „independent“ in der Bedeutung gab es damals überhaupt noch nicht. Der ist irgendwann aus England rübergeschwappt. Als wir anfingen, war unser Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“. Das heißt, wir hatten keine Möglichkeiten, unsere Platten in die Läden zu bekommen. Es gab höchstens die theoretische Idee, meinetwegen bei Polydor anzuklopfen und zu fragen, ob die unsere Platten ins Programm aufnehmen wollen. Das war bei den Strukturen und bei dem Personal, das damals, Anfang der Siebziger Jahre, noch in diesen Firmen tätig war, überhaupt nicht denkbar. Also blieb uns eigentlich nur übrig, es selber zu versuchen, wenn wir unsere Sachen unter die Leute bringen wollten, und das haben wir auch von Anfang an sehr konsequent durchgezogen. Wir standen auf der einen Seite, und uns gegenüber stand die Musikindustrie: Wie kommen wir trotzdem in die Plattenläden, denn es gab ja die Nachfrage nach unseren Sachen? Ein großer Teil unserer Abnehmer war der traditionelle linke Buchhandel, von dem heutzutage nur noch wenige Läden übrig geblieben sind. Diese Buchläden waren damals also ein Weg, nach außen zu kommen. Anfang der Siebziger Jahre fand ein grundsätzlicher kultureller Bruch statt. Viele junge Leute gründeten Plattenläden, um die englischen Platten, die der normale Plattenladen, also der alte, konservative Plattenladen gar nicht führte, überhaupt erst auf den Markt zu bringen, vor allem eben Sachen, die als Import kamen. Der normale deutsche Plattenladen kaufte bei Polydor über den Vertreter ein, aber die hatten damals keinen Import-Dienst und so weiter. Wenn eine neue Platte von THE WHO bei Polydor rauskam, okay, dann gab es das. Aber es gab ja zig andere Bands, die sonst überhaupt nicht nach Deutschland in die Läden gekommen wären, und diese neuen Plattenläden setzen darauf, mit Importen ganz andere Akzente ins Programm zu bringen. Diese Läden waren für uns also die besten Ansprechpartner. Teils gab es Ketten, etwa Govi oder Phonac oder elpi, und die waren sehr an uns interessiert, weil sie wussten, dass wir nicht über fünfzig sind, sondern auch zwischen 25 und 35. Die hatten Interesse an unseren Platten, weil sie mitbekommen hatten, das ist der heiße Underground. Da rannten wir offene Türen ein, das war bei den anderen Läden ganz anders, da hieß es, wenn eine Platte schon „Keine Macht für niemand“ heißt, das wollen wir nicht.
Bisweilen habe ich das Gefühl, dass Menschen aus der Punk-Szene denken, dass sie DIY und das Gründen des eigenen Plattenlabels überhaupt erst erfunden haben. Was ja nicht stimmt. Das hat ja schon eine Generation davor erfunden, die entsprechenden Vertriebsstrukturen aufgebaut, etwa mit dem EFA-Vertrieb, der später die Platten vieler legendärer Punklabels nach Deutschland brachte. Mit welchem Bewusstsein seid ihr das angegangen und habt das weitergespielt?
Es gibt ein berühmtes Buch von Jerry Rubin, das heißt „Do it! Scenarios of the Revolution“, das ist schon Ende der Sechziger in Amerika erschienen. Dessen Botschaft war: „Mach es selbst und warte nicht auf andere!“ Das war ein gewisser Affront gegen Hippies, aber es fasste das Gefühl der Leute aus der damaligen Zeit zusammen: Wir warten nicht auf die anderen, wir packen es selber an, wir machen unsere eigenen Konzerte, wir machen Woodstock, unsere eigenen Labels, und so weiter. So fing das in Amerika an, und dieses Buch war auch sehr beliebt in Deutschland, es gab eine Übersetzung als Taschenbuch. Do it, mach es – das wurde mit „yourself“ ergänzt, mach es selbst, das war Hilfe zur Selbsthilfe. Wir brauchen es für uns selber, und deswegen mussten wir es auch selber machen, um unsere Musik unter die Leute zu bringen. Nicht darauf warten, dass es andere für uns erledigen. Das war der Ausgangspunkt, die Grundphilosophie für die Aktivitäten an sich.
Selbstermächtigung ist ein heute oft verwendeter Begriff.
Sorry, „Ermächtigung“, das hört sich ein bisschen zu politisch an. Aber auf jeden Fall war es eine Situation, wo man sagt, wir können das selber anpacken. Es gab Buchhandlungen, die anders waren als früher, an jeder Straßenecke kamen plötzlich Pizzerien auf, so was gab es ja davor noch nicht in Deutschland, und es gab neue Buchverlage, die sich mit emanzipativer Literatur beschäftigten. Da gab es sehr interessante Leute unter den Verlegern, die extrem links waren, wie Klaus Wagenbach, und die fragten sich, wie kriege ich das jetzt neu organisiert. Aus einer Abspaltung entstanden dann der Rotbuch Verlag, der Kursbuch Verlag und so weiter. Es war wahnsinnig viel in Bewegung, und das auch im Filmgeschäft. Da wurde auch versucht, es anders zu machen, zum Beispiel die Fassbinder-Filme am Anfang. Das war eine völlig andere Produktionsform als die, die bei Constantin oder Artur Brauner gängig war. Es war ein von unten, von den Leuten selbst kommender Ansatz.
Inwiefern sind Aspekte von selbstbestimmten Arbeitsstrukturen, also als Kollektiv oder Genossenschaft, bei EFA und später bei Indigo ein Thema gewesen?
Ich bin schon immer ein absoluter Fan von Genossenschaften gewesen. EFA als Genossenschaft zu machen, das war damals einfach nicht umsetzbar. Es waren vier Einzelfirmen, die da kooperierten und ihre Sachen einbrachten, die also schon existierten. Das irgendwie zusammenzuwerfen, das schien ziemlich unmöglich zu sein. Vielleicht wäre das heute eher möglich, daraus eine Genossenschaft zu gründen. Eine Genossenschaft war auf jeden Fall nicht die einfachste Gesellschaftsform. Deshalb sind wir dann bei einer GmbH gelandet. Ich finde Genossenschaften aber grundsätzlich großartig, weil da nicht das Profitdenken auf einen Einzelnen bezogen so herausgestellt wird. Weil die Firma dann den Leuten gemeinschaftlich gehört und der Gewinn nicht so komplett privatisiert wird, wie es sonst im Kapitalismus der Fall ist. Leider konnte ich in meinem Berufsleben keine Genossenschaft gründen.
Es gibt ein Zitat von Michael Polten von HANS-A-PLAST: „Nikel hat den Vertrieb professionalisiert.“ Was hat dich damals angetrieben und befähigt, die ansatzweise vorhandenen Strukturen zu bündeln?
Es zu professionalisieren, das war einfach notwendig geworden. Am Anfang waren wir mit unserer David Volksmund Produktion alleine, dann starteten wir bei April Records zu viert, und bei Schneeball waren es mal acht bis zehn Bands und es kamen ständig Leute, die uns fragten, können wir nicht unsere Interessen zusammenschmeißen oder unsere Firmen oder unsere Strukturen, um das alles auf eine noch größere Basis zu stellen? Ob das nun Eigelstein war oder die STRASSENJUNGS aus Frankfurt mit ihrem Label Tritt Records oder eben auch No Fun Records, die hatten alle irgendwie mitbekommen, da gibt’s schon so eine Struktur, also das, was wir aufgebaut hatten. Aber zu der Zeit gab keinen Punkrock-Vertrieb im engeren Sinne. Es gab nur ein paar Ansätze, wie Das Büro in Düsseldorf oder Rip Off in Hamburg. Also gab es genügend Leute, die sagten, lasst uns das zusammen machen, aber bei einer absoluten Selbstständigkeit, was die Produktionsseite betrifft, und dann wollen wir sehen, dass wir die Platten gemeinsam in die Läden bringen. Mit der Zeit brauchte das eine etwas professionellere Struktur. Der eine brachte Punkrock aus England ein, hatte aber nur das Vertriebsrecht für ein bestimmtes Gebiet, und so weiter. Das musste alles erst mal zurecht geschliffen werden, damit man einen bundeseinheitlichen Vertrieb hinbekam. Und dann war der eine oder andere mal geschmäcklerisch und sagte, nee, also, mit dieser Musik will ich nichts zu tun haben und so weiter. Die Struktur für all das musste man eben bauen, und das waren die vier Einzelfirmen unter dem Namen EFA. Das war der Zeitpunkt, 1982, wo man sagen konnte, jetzt haben wir wirklich einen bundeseinheitlichen Vertrieb auf die Beine gestellt. Diesen Übergang, den Michael Polten beschreibt, das war die Zeit, wo die Punks nicht wussten, wie kriegen wir das hin mit dem Vertrieb, und das nun mit uns zusammen aufziehen wollten. Die wollten uns als Vertrieb, als Verteiler benutzen, weil sie sahen, sie schaffen das nicht, ihre Platten selbst in die Läden zu bringen.
Das war damals also insofern eine sehr schöne Zeit, als sich jede Menge Möglichkeiten boten, sich sehr viel gestalten, aufbauen und vorantreiben ließ. Heute ist die Lage eine andere: Vinyl boomt, aber der Absatz physischer Tonträger ist in den letzten zehn Jahren stark zurückgegangen. EFA ging 2004 in Konkurs, du hattest schon 1993 den Indigo-Vertrieb mitgegründet, der bis heute existiert und seit 2019 das Logistikgeschäft in der gemeinsam mit Cargo Records gegründeten Firma 375 Media gebündelt hat. Statt zu gestalten, wirkt das heute bisweilen wie ein Rückzugsgefecht angesichts von boomendem Streaming. Wie nimmst du die heutige Situation und Entwicklung im Musikgeschäft wahr, im Vergleich zu diesen Aufbaujahren damals?
Das Geschäft hat sich grundsätzlich geändert. Die Musikbranche wird seit Jahrzehnten totgesagt, zumindest was den physischen Vertrieb von Tonträgern betrifft. Zuerst gab es diesen riesigen Schock Anfang der Zweitausender Jahre, wo Musik noch kopiert wurde.
... also von CD auf CD-R oder auf die Festplatte.
Ja, das haben viele Leute, glaube ich, inzwischen vergessen, weil sie gar nicht mehr ihre alten, damals kopierten CDs zu Hause in der Sammlung haben. Aber du kannst dich selber vielleicht daran erinnern, wie viele Kumpels dich angehauen haben, gib mir mal die CD, ich zieh mir eine Kopie. Dieses Phänomen gibt es heutzutage nicht mehr, aber damals war es ein großes Thema und es hieß, wir brauchen Kopierschutz, weil wir sonst unsere CDs nicht mehr in der Menge verkaufen können, die wir sie früher verkauft haben. Das Problem wurde allerdings abgelöst durch die Digitalisierung, durch Downloads, plötzlich konnte man sich die Sachen am Computer anhören, in größerem Ausmaß, als es je zuvor der Fall war. Inzwischen reden wir vom Streamen, das ja erst in den letzten fünf bis zehn Jahren aufgetreten ist, und damit hat sich wieder alles verschoben. Die Entkörperlichung der Musik findet weiterhin statt. Aber es ändert nichts daran, dass weiterhin Musik produziert wird und manche Leute lieber irgendwas in der Hand halten. Viel schlimmer ist für mich, dass eine Firma wie Indigo und auch Cargo einfach zu wenig wirklich interessante Neuheiten von Newcomern bekommen. Das ist zum Teil noch Corona-bedingt, aber es hat eine jahrelange Vorgeschichte, dass eine Albumproduktion im Normalfall nicht mehr durch die Tonträgerverkäufe refinanziert werden kann, es sei denn, man ist ein großer Star, Aber wenn du ein Newcomer bist, dann hast du deine Aufnahme, musst die bezahlen, du verkaufst als Newcomer vielleicht trotzdem noch 1.000 bis 2.000 LPs und CDs, aber damit kannst du die Kosten nicht decken. Und die Mengen, die wir in den Handel bringen konnten, wurden von Jahr zu Jahr immer geringer, so dass mit den Einnahmen nicht mehr zu refinanzieren ist, was an Produktionskosten im Studio und für die Herstellung bezahlt werden muss. Das wurde aber bis heute nicht kompensiert durch die Gelder, die man durchs Digitale reinbekommt. Es gab keine Substitution für die weggefallenen Einnahmen. Man muss also, wenn man als Musiker überleben will, mehr Konzerte spielen und Platten am Merchstand verkaufen und somit zweigleisig fahren. Und dieser Prozess ist durch Corona verstärkt worden, weil jahrelang nur sporadisch Auftritte möglich waren und keiner ein Risiko eingehen wollte, weil eben zu befürchten war, man kriegt die Produktionskosten nicht wieder rein. Die Leute saßen also auf dem Trockenen, und wenn du keine öffentliche Förderung bekommst oder einen reichen Onkel oder die Oma hast, die dir mal Tausende Euro rüberschiebst, dann hast du keine Chance, etwas zu produzieren. Man ist bei den Produktionskosten also immer am Limit und weiß nicht, ob das überhaupt jemals eingespielt wird. Und das wird sich auch nicht durch das Streamen ändern, weil die Streaminganbieter nur Kleingeld rüberschieben. Deswegen kommen Neuheiten von Leuten, die irgendwas machen wollen, die sich trauen, irgendwas zu veröffentlichen, immer weniger auf dem Markt. Nach Corona gibt es jetzt so einen gewissen Nachholeffekt, weil einige Leute, die völlig ausgebremst wurden, sich jetzt endlich trauen, ihre Platten, die sie schon vor drei Jahren machen wollten, rauszubringen. Es ist eine brachiale Zwickmühle, in der diese jungen Bands stecken.
Ich sehe den Effekt, dass viele kleine Labels die Frage stellen, wozu brauche ich überhaupt noch einen Vertrieb? Die 300 oder 500 Platten, die werde ich im Direktkontakt mit den Fans los, über meinen kleinen Mailorder und im Tausch mit anderen kleinen Labels. Diese total wichtige Struktur, die ihr damals aufgebaut habt, die dafür sorgte, dass selbst in der kleinstädtischen Provinz coole Punk-Platten zu bekommen waren, die wird durch diese Schrumpfung des Marktes, durch Streaming und durch diese Direktkontakte ausgehöhlt.
Das Phänomen ist mir bekannt und es ist auch schlüssig, dass man sich als Label sagt, ja, wozu brauche ich den Vertrieb, das Direktkundengeschäft ist viel interessanter für mich. Das mag am Anfang, bei Debüts, richtig sein, aber wenn du als Label weiterkommen willst, mal eine größere Veröffentlichung haben willst, ist ein Vertrieb sinnvoll. Bei manchen Debüts fragen wir uns auch, ist das überhaupt schon soweit marktreif? Ja, das könnte man in der Breite verteilen, aber das Risiko ist hoch, dass die Platten nach einem halben Jahr als Retoure wieder eingesammelt werden, weil keine Nachfrage dafür besteht, weil die Band nur regional einen gewissen Bekanntheitsgrad hat: Wer fragt nach denen in Norddeutschland? Da sitzen wir dann in der Klemme, wenn es überhaupt keine Nachfrage gibt und wir die Retouren abwickeln müssen, und es entsteht ein riesiger Frust, wenn wir ihnen nach einem halben Jahr die Platten zurückschicken. Es ist eine Gratwanderung, wie vieles. Aber auch wenn du als Label Export machen willst, ist ein Vertrieb sicherlich wichtig.
Was treibt dich an, bis heute einer von jenen zu sein, die das offizielle Renteneintrittsalter längst überschritten haben, aber trotzdem einfach ihren Job weitermachen?
Für mich ist es beglückend, das muss ich ganz ehrlich sagen, dass ich durch die Arbeit einen sehr strukturierten Alltag habe und überhaupt nicht in irgendein Loch gefallen bin. Viele Leute denken ja, jetzt gehe ich in Rente, da fängt mein zweites Leben an, ich mache Reisen, ich fange an zu töpfern oder weiß der Himmel was. Alles Pläne, die bei den meisten Leuten nicht in Erfüllung gehen, leider, sei es aus finanziellen Gründen oder warum auch immer. Aber ich weiß, ich habe hier meine gewachsenen Strukturen, ich habe meine Leute, ich habe meine Freunde, ich habe meine Probleme, ich habe meine Freuden. Und es ist einfach ein super Ding, mit den Leuten zusammenzuarbeiten, mit denen man schon immer zusammengearbeitet hat. Es ist so schrecklich, wie viele Leute einfach in ein Loch fallen, wenn sie aufhören zu arbeiten, weil sie ihre ganzen alten Kontakte auf einen Schlag verlieren. Wir mussten ja leider das Indigo-Lager auflösen vor ein paar Jahren, und dann habe ich mir mal überlegt, wen von diesen Leuten hast du überhaupt seitdem irgendwann mal wieder gesehen, oder mit wem hast du überhaupt mal gesprochen, oder mit wem hast du überhaupt mal Kontakt gehabt? Das waren über 20 Leute, da sind vielleicht drei, denen ich noch mal irgendwo über den Weg gelaufen bin. Mit der Rente ist man auf einmal weg, und die ganzen Leute, mit denen man früher zu tun hat, mit denen hat man dann nichts mehr zu tun. Die sind nicht mehr da, die brauchen dich nicht mehr. Und jetzt bist du plötzlich alleine, und dieses Loch ist schrecklich für die meisten. Ich achte also darauf, dass ich nicht in dieses Loch reinpurzel.
Hast du ganz klassisch einen Acht-Stunden-Tag? Oder wie suchst du dir deine Wochenarbeitszeit aus?
Nine-to-five, das bin ich nicht. Ich lebe in Bremen und bin zwei Tage pro Woche in Hamburg. Den Rest mache ich, und das war schon vor Rente und Corona so, aus dem Homeoffice in Bremen. Ich bin schon lange vernetzt mit dem Computersystem, das war nie ein Problem. Ich musste ja schon immer viel reisen für Indigo. Nicht anwesend sein zu müssen in Hamburg, um irgendwelche Sachen zu klären, das war schon immer wichtig für mich.
Wenn ich mir dein Buch so anschaue, dann tauchen zwar immer wieder mal Frauen auf, aber eigentlich beschreibst du dieses Musikbusiness als Männerbusiness.
Ja gut, aber über wen soll ich berichten? Leider gibt es relativ wenige Labels, die von Frauen geführt werden. Gudrun Gut mit ihrem Label monika oder die Labels Tradition & Moderne und Traumton habe ich zu Indigo geholt. Dass Birgit Heuzeroth seit Jahrzehnten Beggars Germany leitet, das habe ich im Buch nicht im Detail ausgeführt. Leider war es auch immer schwierig, bei Indigo Frauen in eine Position zu bringen, die über das typische Bild wie Promotion oder Buchhaltung hinausgeht. Wir hatten über all die Jahre nur eine Frau im Außendienst! Die Realität ist tatsächlich so, wie du es beschreibst. Allerdings haben wir jetzt mit Manuela Nikele eine Geschäftsführerin bei 375 Media, die wirklich sehr versiert ist, die ich sehr zu schätzen weiß und die einen super Job macht. Mein Buch spiegelt die Realität wider, mit jeder anderen Aussage würde man sich was vormachen.
Letzte Frage: Wo ist das Beil abgeblieben? Das Haus der Geschichte in Bonn hätte es sicher gerne als Exponat.
Das ist irgendwann mal in Berlin in der Wohngemeinschaft am Tempelhofer Ufer, wo wir gelebt haben, beim Holzhacken kaputt gegangen. Es wurde nicht archiviert.
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Es hackt!
Am 03.12.1971 fand beim WDR in Köln die Talkshow „Ende offen“ statt. Der Titel der Folge war „Pop & Co – die andere Musik zwischen Pop und Kommerz“. Für den erkrankten Rio Reiser von TON STEINE SCHERBEN sprang dessen Bandkollege Nikel Pallat ein und schaffte es, unter seiner Jacke ein Beil – keine Axt – ins Studio zu schmuggeln. Während der Diskussion, bei der ein Musiker, drei Produzenten und drei Musikkritiker über das Musikgeschäft diskutierten, zückte Pallat, der kurz zuvor das Talkformat des WDR noch als „scheißliberale Sendung“ und das Fernsehen generell als „Unterdrückungsinstrument“ bezeichnet hatte, plötzlich das Beil und sagte „Wenn überhaupt noch was passieren soll, muss man sich gegen den Unterdrücker stellen, man muss parteiisch sein“, und hackte damit auf den Tisch ein, der aber standhielt. „So, jetzt können wir weiterdiskutieren“, sagte er schließlich und packte die Mikros vom Tisch ein, die brauche er für Leute in Jugendstrafanstalten. Seit einigen Jahren verleiht der VUT/Verband unabhängiger Musikunternehmer*innen e.V. im Rahmen des Reeperbahn Festivals in Würdigung von Nikel Pallats Aktion die „Indieaxt“ als „Auszeichnung für besondere Verdienste für die unabhängige Musikbranche und ihre Künstler_innen“.
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Timeline
1970 Rio Reiser (voc, gt), R.P.S. Lanrue (gt), Kai Sichtermann (bs), Wolfgang Seidel (dr) und Nikel Pallat (als zweiter Sänger und Manager) gründen die Band in West-Berlin aus einer Lehrlingstheatergruppe, zuerst mit dem Namen ROTE STEINE. Durch ihren Auftritt beim Love-and-Peace-Festival auf Fehmarn erhalten sie erstmals größere Aufmerksamkeit, da sie das Publikum anstiften zu randalieren, nachdem die Veranstalter mit den Einnahmen abgehauen sind.
1971 Mit David Volksmund Produktion gründet die Band eines der ersten deutschen Indielabels. Dort veröffentlicht sie ihr Debütalbum „Warum geht es mir so dreckig?“.
1972 Ihr zweites Album „Keine Macht für Niemand“ erscheint. Darauf ist unter anderem der „Rauch Haus Song“ zu finden, den Reiser nach einer Hausbesetzung zu Ehren von Georg von Rauch schrieb, der vier Tage zuvor von der Polizei erschossen worden ist.
1975 Mit ihrem Album „Wenn die Nacht am tiefsten ...“ kehrt die Band den linken Parolen den Rücken zu und konzentriert sich mehr auf musikalische Feinheiten. Die Band hat zuvor auch Berlin verlassen und lebt von nun an auf einem Bauernhof in Nordfriesland.
1981 Das vierte Album „IV“ entsteht größtenteils mit Hilfe von Tarotkarten. Das Album schlägt auch musikalisch eine neue Richtung ein.
1983 Das letzte Studioalbum „Scherben“ orientiert sich musikalisch wieder mehr an älteren Sachen.
1985 Die Band löst sich auf und hinterlässt hohe Schulden. Die Mitglieder verfolgen nun Soloprojekte, am erfolgreichsten Sänger Rio Reiser (der 1996 im Alter von 46 Jahren stirbt), und gehen in verschiedenen Konstellationen, teils mit neuem Namen, bis heute immer wieder auf Tour.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #169 August/September 2023 und Joachim Hiller