Ich gestehe: Auch ich bin einer von denen, die sich das Logo von ROCKET FROM THE CRYPT unter die Haut haben stechen lassen. Ich war jung und hatte das Geld. Doch diese Entscheidung war wohl überlegt, denn schließlich bedeutet mir diese Band bis heute eine Menge und hat mich durch Höhen und Tiefen begleitet, ebenso wie die der anderen Formationen, die Frontmann Speedo alias John Reis noch am Laufen hatte: DRIVE LIKE JEHU, SULTANS, HOT SNAKES. Die jeweilige Musik unterschied sich zwar von RFTC, aber war trotzdem nicht weniger gut und wichtig. Anno 2008 hat John nach einer kleinen Zäsur (der wichtigste Einschnitt war wohl das Ende von RFTC) nun wieder eine neue Band um sich versammelt. Glücklicherweise wurden die NIGHT MARCHERS mit ihrem Debüt "See You In Magic" meinen Erwartungen und Hoffnungen gerecht und schaffen es, dass die Gänsehaut an einer Stelle an meinem Bein besonders intensiv ist. Und da das letzte Gespräch zwischen unserer allseits beliebten Publikation und dem scheinbar rastlosen Musiker schon etwas zurück liegt, war es eines Abends an der Zeit, sich mit Herrn Reis mal über sein neuestes Ding zu unterhalten ...
"Wir machen uns gerade im Moment fertig, auf Tour zu gehen und packen unsere Sachen zusammen", ist als Antwort auf die klassische Eröffnungsfrage "Und? Was machst du gerade so?" nicht die schlechteste. Zunächst werden die USA bereist, dann geht es für ein paar Tage nach England ... Moment, da scheint bisher nichts in Deutschland geplant. "Wir hoffen natürlich, dass sich das schnellstens ändert", nimmt mir der mittlerweile Vater gewordene Musiker die Frage aus dem Mund. Man müsse halt abwarten, und die Zeit ihren Dienst verrichten lassen.
Wo wir gerade von der Zeit reden, wie lange hat die Arbeit an "See You In Magic" eigentlich gedauert? Gab es vielleicht Überbleibsel aus der Vergangenheit? Dieser Gedanke kommt einem nämlich aufgrund der unfassbaren Hitdichte dieses Werks. "Einige der Ideen sind schon recht alt, wenn man so sagen will, aber ich muss gestehen, dass ich dir da nicht mal sagen könnte, welche das genau waren. Richtig angefangen haben wir im April letzten Jahres und haben das gesamte Material in ein paar Wochen komponiert, im Sommer ging es dann ab ins Studio."
Und knapp zwei Wochen später wieder raus, was angesichts der widrigen Verhältnisse rekordverdächtig scheint. Doch Reis will davon nichts wissen. "Auch wenn einer von uns am anderen Ende des Landes wohnt, dann trifft man sich halt für zwei Tage, probt und geht dann los". Ein klassischer Weg um eine Rock'n'Roll-Platte aufzunehmen, oder? "Klar, hilfreich waren allerdings auch die 4-Spur-Demos, die ich von einigen der Songs schon in der Tasche hatte, so hatten wir schon mal eine Art Karte, einen Plan, der uns die richtige Richtung wies".
Der Rest der Band rekrutiert sich aus Bekannten aus dem musikalischen Umfeld des "Swamis" und stand in der Vergangenheit demnach schon mit ihm in Kontakt. Wie fand man schlussendlich zusammen? "Ich hatte die Songs und dann überlegt man sich, mit wem man das am besten spielen kann. Und dann dachte ich als Allererstes an Gar von BEEHIVE AND THE BARRACUDAS. Nicht nur weil ich mit ihm befreundet bin, sondern weil sich seine Art Gitarre zu spielen unheimlich von meiner unterscheidet. Gar hat einfach eine ganz andere, frische musikalische Sichtweise und bringt seine Art zu spielen in den, nun, Punkrock- und Rock'n'Roll-Kontext ein, und das ist sehr, sehr erfrischend." Außerdem sei es toll, jemandem mit an Bord zu haben, der besser Gitarre spielt als er selbst, gibt John lachend zu Protokoll, und mit Jason Kourkounis (Drums) habe er schon bei den HOT SNAKES sehr gerne zusammen gespielt. Dass das zu Ende ging, sei übrigens nicht der geografischen Entfernung, sondern einer anderen Band geschuldet. "So hatte er dann logischerweise weniger Zeit für uns, als er dann nicht mehr bei denen spielte, passte mir das dann ganz gut in den Kram." Mit dem Bassisten Tommy Kitsos war das anders. "Den hatte ich bisher nur mit den CPC GANGBANGS gesehen hatte, aber auch wenn die eher brutalen, ‚chaotischen‘ Rock'n'Roll spielen, so war Tommy der Anker, das solide Element der Band." Wie grandios er aber tatsächlich spielt, wurde Reis erst klar, als man gemeinsame Sache machte. Bei allen anderen Bassisten aus San Diego hätte man sich schon in etwa vorstellen können, wie es geklungen hätte, aber Tommy war erst vor einem Jahr dorthin gezogen und genau das machte ihn dann im Vergleich mit dem Rest zu diesem unbekannten und irgendwie anziehenden Ding. Es mache immer Spaß, mit neuen Leuten zusammenzuspielen, beendet Reis die Lobeshymne auf seine neue Band. "Frisches Blut, du verstehst schon ..."
Wo wir uns gerade schon in Details verlieren, muss man die Frage stellen, in wieweit nicht nur persönliche Fähigkeiten des einzelnen Musikers, sondern auch die Wahl des richtigen Equipments eine Rolle spielen. Oder anders gesagt: bringt eine Les Paul andere Ergebnisse als eine Telecaster? "Auf jeden Fall", setzt er an. "Ich kann natürlich nicht von anderen Leuten erwarten, dass sie das merken oder dass sie das überhaupt irgendwie interessiert, aber für mich persönlich war es großartig, andere Ideen mit anderen Sounds umsetzen zu können. Das war wahrscheinlich das Wichtigste an der ganzen Sache, in meinen Augen zumindest. Denn wir haben ja nicht versucht, den Rock'n'Roll von Grund auf neu zu erfinden oder vor unserer Vergangenheit zu flüchten. Die NIGHT MARCHERS sind halt von all den Songs und all der Musik beeinflusst, die wir schon immer gemocht haben. Und es macht großen Spaß, mit all diesen Klängen und Texturen herumzuexperimentieren. Früher wusste man nicht, wie das ging, man wollte nicht oder es fühlte sich irgendwie komisch an. Und jetzt ist das alles ganz selbstverständlich und aufregend."
Ein nicht von der Hand zu weisender Nachteil sei allerdings, dass das Touren nun relativ schwierig wird. "Wir benutzen sehr altes Zeug, nicht das rarste Equipment der Welt, aber halt schöne, alte Vox-Verstärker beispielsweise. Die lassen wir dann zu Hause. Das Album habe ich mit einer von mir selbst designten Gitarre, der ‚Scimitar‘ eingespielt", erzählt er nicht ohne Stolz in der Stimme. Diese entstand in Zusammenarbeit mit Tym Guitars gemäß seiner Vorgaben. "Mit der mache ich keine Faxen. Dieses Instrument ist für mich von unschätzbarem Wert, und wen dem jemals etwas zustoßen sollte, dann wäre ich, glaube ich, echt am Ende."
Bei ROCKET FROM THE CRYPT nannte man ihn (oder besser: er sich selbst) "Speedo", bei den SULTANS dann "Slasher" - so wie sich die Bands voneinander unterschieden, so könnte man annehmen, dass Reis einen anderen Charakter annimmt. Setzt man das als gegeben voraus, wären die NIGHT MARCHERS demzufolge das bisher persönlichste Album, denn hier gibt es keine Spitznamen, es geht um John Reis. "Das ist schwierig. Ich finde, dass ich dieses Mal all die verschiedenen Sachen, die ich bisher gemacht habe, in einer Band zusammenbringe. Man findet dabei ein wenig von der selbstsicheren und pompösen Rock'n'Roll-Aggression von ROCKET FROM THE CRYPT, ebenso wie von der dich erschlagenden und turbulenten Dramatik der HOT SNAKES und dem eher konventionellen Pop der SULTANS. Sogar wenn ich an Bands aus meiner Highschool-Zeit zurückdenke, sehe ich da immer noch eine ganz klare Verbindung zu dem, was ich heutzutage mache." Gilt das auch für die Texte? Denn diese scheinen im Vergleich zur Vergangenheit nicht ganz so abstrakt, sondern direkter formuliert. "Erstmal muss ich sagen, dass ich diese ganzen klassischen Themen im Rock'n'Roll wirklich liebe. Und es ist schon amüsant, wie fein doch manchmal der Unterschied vom totalen Klischee zum Klassiker ist. Generell sind es ja eher die kleineren, subtilen Dinge, die die guten von den schlechten Sachen abgrenzen. Das geschieht ganz individuell, der eine mag es so, der andere so. Wenn man das mal miteinander vergleichen würde, würde man zunächst viele Gemeinsamkeiten hinsichtlich Instrumentation oder Akkordfolgen entdecken. Aber wie es dann gespielt wird und welche Ideen dahinter stecken, das macht es dann gut." Und das sei auch mit ein Grund für seine Faszination für Musik aus den Fünfzigern und Sechzigern. "Es ist ja nicht nur so, dass diese Platten für meine Ohren besser klingen, aber nenne mir doch zum Beispiel mal heutzutage jemanden, der mehr abgeht als Jerry Lee Lewis oder Chuck Berry. Und darauf basiert alles, Rock'n'Roll, Soul, R&B, das ist quasi die DNA, wenn du so willst." Das heißt natürlich nicht, dass seitdem nur Müll erschienen ist, aber die haben die Latte damals einfach so hochgelegt, dass man da erst mal rankommen muss", meint John, um dann seufzend zu ergänzen: "Ich fühle mich manchmal wirklich so, als ob ich in der falschen Zeit geboren wurde ..."
Zurück in die Gegenwart: Die Vinylversion erscheint wieder über sein eigenes Label Swami Records, auch wenn das Ganze in Kooperation mit Vagrant Records entstand. Mit denen und ihrer Arbeit ist er sehr zufrieden, und: "Sie mögen die Platte! Ich erwarte natürlich nicht, dass die ganze Welt das, was ich mache, gut findet, aber diejenigen, die den Leuten erzählen, dass meine Platte raus ist, die sollten sie schon mögen. Ich habe wirklich keinerlei große Erwartungen an ‚See You In Magic‘ gehabt. Es ist nicht so, dass mir die Reaktionen der Leute egal sind, aber ich mache das jetzt schon so lange, dass der Erste, den ich damit glücklich machen und zufrieden stellen will, ich selbst bin."
Die Tatsache, dass er und die Band geschäftlich noch einige Zügel in der Hand halten (neben dem Vinyl beispielsweise das Merchandise), ist ihm von großer Bedeutung. "Wenn irgendjemand anderes etwas für deine Band versaut, wird das dieser Person kaum den Schlaf rauben, aber für dich sind die Musik und die Band beinahe alles. Und wenn du willst, dass die Dinge so laufen, wie du möchtest, musst du eben versuchen, die Kontrolle zu behalten. Das ist auch mein Hauptproblem mit dieser ganzen Download-Sache. Es geht mir nicht mal so sehr um den wirtschaftlichen Aspekt, sondern um die Tatsache, dass dir die künstlerische Kontrolle entzogen wird. Du kannst deine Kunst nicht mehr so präsentieren, wie du es möchtest. Wegen irgendeinem komischen Audioformat klingt das nicht so, wie du das meinst, es gibt kein Artwork, das Ganze wird aus dem Zusammenhang gerissen. Es verkommt zu Datenmüll, einem Wegwerfartikel. Und auch wenn ich es wirklich begrüße, dass du heutzutage viel mehr Musik entdecken kannst als noch in der Vergangenheit, so muss ich doch feststellen, dass es mir als Musiker und Bandmitglied irgendwie den Spaß an der Sache nimmt, wenn jemand dein Album schon vor dem Erscheinungstag in anderer Form, als du das geplant hast, auf dem Rechner hat."
Es war noch nie so einfach wie heutzutage, Musik aufzunehmen und in Umlauf zu bringen. Und ohne mich zum Richter über "die Guten" und "die Schlechten" aufspielen zu wollen, so muss festgestellt werden, dass wegen der unglaublichen Vielzahl an Musik (die sich alleine rein mengenmäßig überhaupt niemand anhören kann), die Qualität längst zu leiden begonnen hat. Reis hat eine differenziertere Meinung dazu. "Das stimmt nur zum Teil. Ich begrüße es durchaus, dass viel mehr Menschen jetzt die Möglichkeit haben, sich auszudrücken und künstlerisch tätig zu werden. Jedoch gibt es nur ganz, ganz wenige Bands, die dann auch live überzeugen und dich umhauen. Denn spätestens, wenn du vor Leuten auftreten willst und mit anderen zusammenspielen musst, trennt sich die Spreu vom Weizen."
Legendär sind nicht nur die Musik und die Tonträger, die John Reis in seiner Karriere bereits aufgenommen hat, oftmals trugen auch die herrlichen Linernotes aus seiner Feder zum Spaß an der ganzen Sache bei. So auch diesmal? "Nein, diesmal wollten wir das so minimal wie möglich halten. Wir haben das ganz bewusst so gemacht, dass wir so wenige Informationen wie möglich unter die Leute gebracht haben. Denn ich ahnte ja schon, dass es das eine oder andere Gespräch geben würde, und so kann ich das dann aus erster Hand erzählen." Das "offizielle" Info hingegen steht ganz in dieser Tradition, wie er zögernd zugibt: "Da hab ich mir wohl einen kleinen Spaß erlaubt." Denn neben der zu erwartenden Tendenz zur Übertreibung werden hier die Bands genannt, die die NIGHT MARCHERS als ihre Einflüsse ansehen, die FLAMIN' GROOVIES, Bo Diddley, Dez Cadena, THE NERVES und so weiter. "Das sind alles meine Lieblingsbands und Künstler. Ich bin immer schnell dabei, wenn es darum geht, über die Musik zu reden, die ich mag. Was vielen anderen Musikern offenbar nicht so leicht von der Hand geht, die wollen nicht, dass du erfährst, was in deren Sammlung steht. Vielleicht nicht einmal aus Scham, sondern weil sie vermeiden wollen, dass ihre eigene Musik dann im Vergleich weniger originell erscheint. Damit habe ich gar kein Problem, denn das sind die Bands und Menschen, die mich dazu bewogen haben, selber Musik zu machen. Deren Musik gibt mir Energie und Kraft, um mit dem Leben an sich, auch in schlechten Zeiten klar zu kommen."
Er sei in erster Linie Musikliebhaber, erst dann Musiker, warum also diese Begeisterung nicht teilen? "Ich wünsche mir zum Beispiel wirklich, dass THE NERVES die größte Band der Welt wären und nicht nur so ein Underground-Kult-Ding, das viele Musikhörer niemals kennen lernen werden. Ich höre deren Platten und frage mich: Die müssten doch eigentlich riesengroß und erfolgreich sein, warum ist das bloß nicht so?"
Nachdem jetzt jedem die Leidenschaft, die dieser Mann für die Musik hegt, klar sein sollte, muss man natürlich Fragen, wie es andersherum aussieht. Denn auch sein eigenes Schaffen ist für nicht wenige Leute immens wichtig und bedeutungsvoll. Kann er das nachvollziehen? "Ich hoffe, dass das, was ich mache, gemocht wird, und ich weiß, dass es eine kleine Gruppe Leute da draußen gibt, die sich von dem gleichen Lärm wie ich angezogen fühlen. Wenn wir spielen, mag das vielleicht nur nach ‚sich mit seinen Freunden amüsieren‘ aussehen, aber warum kann das nicht wirklich wichtig oder sogar der Sinn sein: Spaß haben, die Gesellschaft netter Menschen genießen und sich von gutem Rock'n'Roll unterhalten zu lassen? Und sich mit denjenigen kurzzuschließen, ist der Grund für uns rauszugehen und zu spielen. Denn diese Beziehung gibt uns allen irgendetwas. Nicht den Sinn des Lebens, aber vielleicht einen Zweck, eine Art von Kraft. Und das ist uns sehr wichtig. Und das führt dann dazu, dass das Gefühl, dass du vielleicht zur falschen Zeit am falschen Ort geboren wurdest, nicht mehr ganz so schlimm ist, dass du dich nicht mehr so fremd fühlst."
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #78 Juni/Juli 2008 und Tom Küppers
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #77 April/Mai 2008 und Tom Küppers
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #79 August/September 2008 und Kalle Stille