Nicht nur beim letztjährigen Punk-Kongress in Kassel, wo er als Gast geladen war, sondern auch sonst musste ich die Erfahrung machen, dass der Name Marty Thau nicht gerade vielen Leuten ein Begriff ist. Und das ist eine Schande, denn schließlich würde sich ohne den freundlichen Mittsechziger heute womöglich keiner mehr an die NEW YORK DOLLS erinnern (deren Manager er seinerzeit war), oder an SUICIDE, oder an die FLESHTONES, an BLONDIE, an Richard Hell. Marty Thau war zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle, nämlich Anfang der Siebziger in New York City, als der Seventies-Punk geboren wurde. Mit seinem Label Red Star Records mischte er ganz gut mit, war Ausgangspunkt vieler erfolgreicher Karrieren. Seit Kassel war ich mit Marty in Kontakt geblieben, und so stellte ich ihm dann endlich ein paar Fragen, die er per Email beantwortete.
Bitte stell dich mal vor ...
„Ich bin 65 Jahre alt, war mal wer im Musikgeschäft und versuche immer noch, in diesem Haifischbecken eine Rolle zu spielen. Aber ich muss zugeben, meine besten Tage liegen wohl hinter mir. Allerdings haben viele der Künstler, mit denen ich das Glück hatte zusammenzuarbeiten, ob als Produzent, Manager, Plattenfirma oder einfach als Vertrauter, wieder oder immer noch Erfolg: die NEW YORK DOLLS, SUICIDE, RICHARD HELL & THE VOIDOIDS, BLONDIE, FLESHTONES, John Cale, Martin Rev oder die REAL KIDS. Also habe ich in gewissem Maß immer noch einen gewissen Einfluss.“
Was war deine erste Begegnung mit Rock/Pop-Musik? Wie kam es dazu, dass du eine aktive Rolle in dem Geschäft spieltest?
„Ich war ein altkluges Punk-Kid aus New York, und Pop, Rock und Latin Music war meine Religion. Ich hatte keine Pläne, im Musikgeschäft zu arbeiten. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Pläne für irgendwas, außer hinsichtlich der Mädchen, die ich verführen wollte. Ich habe an der New Yorker Universität Kommunikationswissenschaft studiert, und danach habe ich mich auf eine Anzeige in der NY Times hin für eine Stelle beim Billboard Magazine beworben, wo ich 1964 als Assistent der Geschäftsführung begann. 1966 wechselte ich dann zu Cameo Parkway und wurde dort PR-Manager. Das war eine heißes, kleines Label, wir hatten Hits wie ‚96 Tears‘ von QUESTION MARK & THE MYSTERIANS – unsere bekannteste Veröffentlichung –, oder die Aufnahmen von TERRY KNIGHT & THE PACK – aus denen später GRAND FUNK RAILROAD wurden –, oder Donny Hathaway und Chubby Checker, um nur einige zu nennen. In Laufe des Jahres hatten wir 28 Platten in den Charts. 1967 wechselte ich dann zum neu gegründeten Buddah-Label als Vizepräsident und PR-Direktor und hatte dort die nächsten drei Jahre großen Erfolg mit Bubblegum-Hits wie ‚Yummy yummy yummy‘ von OHIO EXPRESS, ‚1-2-3 Redlight‘ von 1910 FRUITGUM COMPANY und ‚Green tambourine‘ von den LEMON PIPERS. Wir hatten aber auch R&B-Hits wie ‚Oh happy day‘ von den EDWIN HAWKINS SINGERS, ‚It’s your thing‘ von den ISLEY BROTHERS, ‚Ooh child‘ von den FIVE STAIRSTEPS oder ‚This is my country‘ von CURTIS MAYFIELD & THE IMPRESSIONS. Die haben sich alle enorm gut verkauft, und Buddah war so etwas wie die Erfolgsgeschichte der Indies in den Sechzigern, und ich galt als einer der tonangebenden Promotion-Manager.“
Wann, wie und warum haben sich die Dinge für dich geändert? Wann hast du erkannt, dass da draußen etwas anderes abgeht? Etwas, das später Punk genannt wurde?
„Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger war Amerika politisch in Aufruhr, überall gab es Drogen, und ich habe ‚Yummy yummy yummy‘ und anderes Zeugs, was die Industrie für banal hielt, gepusht. Zu Hause hörte ich Jimi Hendrix, LED ZEPPELIN, YARDBIRDS, John McLaughlins MAHAVISHNU ORCHESTRA, ROLLING STONES, SANTANA, MOODY BLUES, doch im Büro hätte ich geschworen, dass 1910 FRUITGUM COMPANY die größte Erfindung seit geschnittenem Brot wären, denn dafür wurde ich bezahlt. Tief in meinem Inneren aber lagen mir die Sixties-Kids und die neuen Themen, die sie diskutierten, am Herzen. Also kündigte ich bei Buddah und begab mich auf die Suche nach der Musik, die das sagte, woran ich wirklich glaubte. Ich wurde Teilhaber bei einer unabhängigen Produktions- und Vertriebsfirma namens Inherit Productions, und wir veröffentlichten dort Van Morrisons ‚Astral Weeks‘ und ‚Moondance‘, ‚Vintage Violence‘ und ‚Church Of Anthrax‘ von John Cale, dazu noch Leute wie Miriam Makeba, die hervorragende afrikanische Sängerin, die Bluesmusiker Mike Bloomfield und Barry Goldberg, Dorothy Morrison, die Sängerin von ‚Oh happy day’, Mama Cass Elliott, und GLASS HARP mit Phil Keaggy, einem großartigen unbekannten Gitarristen. Zwei Jahre später, nachdem ich praktisch im Studio gelebt hatte, verließ ich Inherit auf Druck meiner Frau. Einige Monate später entdeckte ich die NEW YORK DOLLS im Mercer Arts Center und wurde ihr Manager. Die Dolls galten zu dieser Zeit als subversiv, denn sie behandelten ernsthaft die Themen der Zeit – Gewalt gegen Frauen, Zensur, den Vietnam-Krieg, Sexualität in allen denkbaren Formen – während die breite Öffentlichkeit Brei wie Carly Simon, James Taylor oder Carole King hörte. Bei den Dolls ging es nur um Informationen und Unterhaltung. Und die Essenz war, dass es kein Limit gab, wenn es darum ging, das Establishment zu hinterfragen und auseinander zu nehmen. Hinter den Kulissen erkannte ich aber den Preis, den sie für ihre Transenfummel zahlten – das war nur eine überdrehte Antwort auf die Glitter-Szene. Ich dachte, sie würden größer werden als die ROLLING STONES, aber die Musikindustrie hielt sie für zu gefährlich, zu radikal, zu schwer zu vermarkten, zu Furcht einflößend, um mit ihnen im gleichen Raum zu sein, und für zu schwer zu verkaufen. Ich fragte mich, auf welchem Planeten diese Leute lebten. Für mich spiegelten die Dolls die Gesellschaft wider und waren ein Sprachrohr ihrer Generation. Jedes Mal, wenn ich mit Leuten von der Plattenindustrie über sie sprach, rannte ich vor eine unsichtbare Mauer ... ‚Können die so gut spielen wie die ALLMAN BROTHERS?‘ ... ‚Sind die schwul?‘ Die ganz falschen Fragen also. Die homophoben Plattenbosse verstanden einfach nicht den Humor der Dolls, sie unterschätzten ihre Kraft und stempelten sie demzufolge als durchgedrehten Freak Novelty Act ab. ‚Finger weg ...‘, flüsterten sie. Unnötig zu sagen, aber die Dolls waren eine der großartigsten und einzigartigsten Bands, und es ist eine Schande, dass die Musikindustrie das nicht erkennen wollte. Aber alles in allem waren es Johnnys und Jerrys Drogengeschichten, die sie fertig gemacht haben. Ich sehe das so: Die NEW YORK DOLLS waren die Speerspitze der New Yorker Musikszene, sie spiegelten die Frustration der Kids wider, sie waren Informations- und Inspirationsquelle für viele Kids, die am Rande der Gesellschaft standen, und sich ausgeschlossen fühlten. Was die Dolls besonders machte, war, dass sie trotz all der verächtlichen Kritiken noch über sich lachen konnten. Nach ihnen kamen die RAMONES, BLONDIE, SEX PISTOLS, CLASH, DAMMNED, PRETENDERS, SMITHS und Dutzende andere, die durch sie amüsiert, inspiriert und berührt wurden, trotz oder gerade wegen ihrer menschlichen Schwächen. Ende 1975 rief mich Jerry Nolan, der Schlagzeuger der Dolls, an und erzählte mir, dass sich downtown eine neue Szene entwickele, und dass ich mir das mal ansehen solle. Johnny Thunders berichtete von einer heißen neuen Band namens RAMONES, die einen ziemlichen Aufruhr verursachten, und ich sollte sie mal anchecken, die würden wohl groß. Also tat ich das, und ich erlebte die frühen Auftritte zukünftiger Stars wie Patti Smith, SUICIDE, die HEARTBREAKERS mit Johnny Thunders und Richard Hell, die CRAMPS, Tom Verlaines TELEVISION, die TALKING HEADS und BLONDIE. Die ersten Stimmen der ‚blank generation‘. Ich wusste, dass ich im richtigen Moment am richtigen Ort war.“
Weißt du noch, wann und in welchem Zusammenhang du zum ersten Mal über den Begriff „Punk“ gestolpert bist? Heutzutage wird der Begriff „Sixties Punk“ oder „Garage Punk“ ja für Bands wie die SONICS verwendet.
„Ich habe den Begriff zum ersten Mal 1966 gehört, damit wurde die musikalische Attitüde mancher Detroit-Bands beschrieben – MC5, IGGY & THE STOOGES, QUESTION MARK & THE MYSTERIANS –, deren Musik von dort aus in viele amerikanische Städte verbreitet wurde, doch das verblasste im Vergleich zu den psychedelischen Bands aus San Francisco oder den Brit-Bands, die damals sehr angesagt waren. Für manche bedeutete Punk amateurhaft, primitiv, blauäugig, andere dachten bei Punk an unprätentiösen, jungen, gitarrengetriebenen Rock’n’Roll ohne Verbindung mit ‚erwachsener‘ Moral. Ich muss sagen, dass Punk ursprünglich die weniger gebildeten Schichten anzog, später sprangen jedoch auch die Intellektuellen darauf an.“
Siehst du eigentlich eine Verbindung vom so genannten Sixties-Punk über MC5 und STOOGES zu den NEW YORK DOLLS und später dann den SEX PISTOLS? Oder ist das nur ein Mythos, den sich später die Musikjournalisten ausgedacht haben?
„Ich sehe da eine Verbindung. Alle Bands, die du erwähnt hast, waren die Stimme aus dem Bauch, das war für weiße Arbeiterklassekinder am Rande der Gesellschaft, die eine Antwort auf die Aufgeblasenheit der späten 60er suchten. Punk war die Musik der Generation nach der Hippie-Bewegung. Als die Wall Street Mitte der Sechziger den ‚Jugend-Markt‘ mit seinen enormen finanziellen Möglichkeiten entdeckte, kamen die exzentrischen Impressarios mit Ohren für kommerziellen Sound, gesteuert von dem Drang, das Rad neu zu erfinden. Dann kamen dazu noch Demographen, Wirtschaftswissenschaftler, Anwälte, Erbsenzähler und strategisches Marketing. Darüber ging dann das Romantische der Musik von Kids für Kids verloren. Alles wurde so ernsthaft, als andere Musikgenres sich mit Rock’n’Roll vermischen wollten. 16-jährige Halbstarke wollen nun mal nicht hören, wie eine Miles Davis-Trompete ihre leidenschaftlichen Gitarrenriffs versaut.“
Du benutzt auch den Begriff „Independent“. Wie waren damals die Strukturen im Musikgeschäft, und was änderte sich bei Bands wie den Dolls?
„‚Independent‘ bedeutete damals etwas anderes, das waren normalerweise die Veteranen der Vierziger und Fünfziger. Manche von ihnen, wie Leonard Chess oder Ahmet Ertegun waren Musikkenner. In der Regel veröffentlichten sie die Musikstile, die die Majors nicht verstanden oder womit sie nichts zu tun haben wollten. Das soll heißen: ‚Race Music‘, aus der Doo Wop wurde, und dann Rock’n’Roll. In jeder größeren Stadt im ganzen Land gab es damals einen Vertrieb. Die Majors hatten damals noch keine eigenen Vertriebe oder Presswerke, und damals war es auch noch nicht so, dass die Majors 95% aller Platten veröffentlichen. Die Indie-Labels von heute sind meistens finanzschwach, und sie können nur den Weg bereiten für eine Band, in der Hoffnung, dass sie später auf einem Major landen. Natürlich gibt es heute auch Indies, die Millionen verdienen, allerdings eher im Rap/HipHop-Bereich. Die heutigen Rock-Indies sind eher eine Zuchtstätte für die Majors, und das meiste der wirklich guten Musik kommt von ihnen. Die Majors sind einfach nur eine Geldmaschine, sie haben generell keinen Geschmack, keine Street Credibility, und sie haben keinen Sinn dafür, was Kunst ist. Sie gehen kein Risiko ein, sie veröffentlichen nur immer neue Versionen ihres vorgekochten Mülls.“
Später hast du dann dein eigenes Label Red Star gegründet. Wie, wann, warum?
„Das erste New Wave-Label der Post-Hippie-Ära hatten Dave Robinson und Jake Riviera mit Stiff Records in England aufgebaut. Mein eigenes Red Star-Label ist so was wie die erste amerikanische Antwort auf Stiff. Ich wollte immer schon Herr meines eigenen Schicksals sein und nicht in die spießige Politik der Majors eingebunden werden. Kaum jemand konnte damals etwas mit meinem Musikgeschmack anfangen, und für die waren Leute wie die Dolls schmierig, billig und ohne musikalische Verdienste. SUICIDE waren für sie lauter, dissonanter Lärm – von dem skandalösen Namen mal abgesehen –, und wie könnten denn einfach nur zwei Leute – ohne Gitarren! – überhaupt erfolgreich sein? Damit meine Musik gehört werden konnte, musste ich sie schon selbst veröffentlichen, das hätte sonst niemand getan.“
Glaubst du, dass „independent“ heute überhaupt noch eine Bedeutung hat? Ein großes Indie-Label scheint heute manchmal nicht viel anders als Sony BMG zu arbeiten.
„Ich glaube, dass es darauf ankommt, was man dabei herausbekommen will. Die Indies von heute können sich nicht mit den Majors messen. Ihnen fehlt das Geld. Wenn sie aber ihr Geschäft auf fruchtbare Weise betreiben und genau wissen, wen sie unter Vertrag nehmen, können sie überleben. Aber es ist ein harter Überlebenskampf. Als Eigentümer kann man vielleicht ganz gut von einem Indie leben, aber die Angestellten sind meistens unterbezahlt Die meisten Indies können sich einfach nicht lange über Wasser halten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Da spricht das Geld.“
Darf man als Punkband Erfolg haben?
„Wer mit etwas Verstand will denn nicht erfolgreich sein? Erfolgreich zu sein, ist kein Verbrechen. Und jeder Künstler, der halbwegs vernünftig ist, wird dir das bestätigen. Vielleicht sollte ich noch diesen Gedanken hinzufügen: Künstler sind gnadenlos, wenn es um Geld geht, und vielleicht deshalb, weil das, was sie tun, so immateriell ist, und es so schwer ist, damit Geld zu verdienen.“
Tim Yohannan vom Maximum rock’n’roll-Fanzine war der Meinung, dass Punkbands, die groß werden, die Verantwortung haben, das Geld, das sie verdienen, wieder in die Punkszene zu investieren. Damit das Geld, das mit Punk verdient wird, nicht in die Taschen der Multis wandert. Glaubst du, dass das richtig ist?
„Nein, das tue ich nicht. Künstler sind nur sich selbst gegenüber verantwortlich. Das ist ein naiver und veralteter Gedanke. Solche Ideen haben in den Sechzigern während der Hippie-Ära schon mal herumgespukt. Das ist reine Rhetorik für Ahnungslose.“
Wann wurden Punk und Politik zum ersten Mal vermischt? Wie kam es dazu? Und war das gut, oder hätte Punk ein rücksichtsloser Rock’n’Roll-Lebensstil bleiben sollen, bei dem es nur um Saufen, Chicks und Partys geht?
„Ich denke, das begann in England mit den SEX PISTOLS. Amerikanischen Punksters ging es eher um Kommentare zur Gesellschaft und die Rituale der Teenager-Romanzen. Damals hätte ich auch gesagt, dass Punk sich um Partys drehen sollte, doch heute kann dich ungeschützter Sex dein Leben kosten, und die Drogen können deine Hirnzellen braten. Ich bin sicher, jetzt sagen wieder einige junge männliche Leser: ‚Er ist ein alter Sack. Hört nicht auf ihn. Er würde nur gerne noch so wild feiern können wie wir.‘ Nun, das stimmt natürlich, doch mittlerweile habe ich erkannt, dass es eine sehr gefährliche Welt da draußen gibt, und dass man besser Augenmaß bewahrt, wenn man 90 werden möchte.“
Heute gibt es conservativepunk.com und Hardcore-Punkbands, die wiedergeborene Christen sind. Ist das ein Indiz dafür, wie vielfältig diese Subkultur ist, oder ist das eine Degeneration?
„Es zeigt nur, dass der Punk-Ethos viele unterschiedliche Typen von Menschen anspricht. Punk ist heutzutage nicht mal halb so gefährlich wie vor Jahren noch. Punk und seinen kontroversesten Vertretern wurden längst die Reißzähne gezogen.“
Die NEW YORK DOLLS – oder was davon übrig geblieben ist – sind wieder zusammen und arbeiten an einem Album für Roadrunner. Deine Gefühle dabei?
„Ich glaube, sie werden wohl eine sehr gute Platte machen, und sie wird sich auch sehr gut verkaufen. David hat nichts verloren über die Jahre, er ist immer noch ein ausgezeichneter Songwriter und Top-Frontmann. Syl ebenso. Sie haben sich mit talentierten jungen Musikern umgeben, und wie ich höre, bekommen sie nur gute Kritiken für ihre Shows, und die sind immer ausverkauft. Ich gönne ihnen den Erfolg, denn das bestätigt meine Meinung von ihnen – eine Meinung, für die ich damals ausgelacht wurde, als ich quasi auf der schwarzen Liste stand, weil ich an sie glaubte. Manche Dinge dauern nun mal etwas länger, in diesem Fall 30 Jahre.“
Wo wir gerade von den Dolls reden: Wie war es für dich, letztes Jahr nach Kassel zu kommen und dort Malcolm McLaren zu treffen? Aus meinen Gesprächen mit dir und ihm habe ich den Eindruck gewonnen, dass eure Auffassungen von Punk weit auseinander liegen. Wie hast du ihn damals in den Siebzigern wahrgenommen? Wie wichtig oder unwichtig war er?
„Nun, als erstes sollte er mal sein Country-Club-Outfit verbrennen und einen neuen Redenschreiber engagieren. Trotzdem mag ich ihn aus irgendeinem seltsamen Grund. Er ist smart, und seine Ausbeutung der Dolls hat mich nie gestört – nur dass er behauptete, ER wäre ihr Manager und mich einen Papiertiger nannte. Es tut mir Leid, aber ich bin auch nur ein Mensch und gelegentlich hege ich schon einen Groll gegen ihn. Er war immer ein ausgesprochen trendiger Typ und war nie besonders wichtig für mich, aber er weiß wirklich, wie man die Presse manipuliert. Er ist ein amüsanter Limey-Bastard.“
Kann Musik, sei es Rap, Techno oder Rock, die Welt ändern? Oder ist das nur naives Wunschdenken und Musik ist Opium für die Massen?
„Ich glaube nicht, dass irgendeine Form von Musik die Welt signifikant verändern kann, aber sie kann manchmal einen kleinen Beitrag leisten. Rap beispielsweise. Wenn es da nicht um dicke Hintern geht, ändert das überhaupt nichts am Ausgang des Irak-Krieges, es besiegt weder Seuchen noch den Hunger in Afrika, löst nicht die Umweltprobleme und ändert nichts an den Vorurteilen, dem Hass, der Korruption, über die wir in der Zeitung lesen. Doch es kann ein Lächeln auf die Gesichter der Menschen zaubern, und vielleicht brauchen wir wirklich das, was du ‚Opium für die Massen‘ nennst. Hoffentlich können die Live8-Konzerte etwas bewirken, aber das bleibt abzuwarten. Es scheint, dass die Mächtigen der Welt ihre eigene Agenda haben, und da können wir wenig dran ändern, aber das heißt nicht, dass wir es nicht versuchen können.“
Hatte das Logo von Red Star und der Name eine politische Bedeutung? Und was wurde aus dem Rechtsstreit mit Heineken?
„Red Star, als Firmenname und als Logo, hat mir viel bedeutet. Zuerst bedeutet ein Stern neben einem Musiktitel in den Charts, dass der Titel aufsteigt, nicht dass ich mit Red Star erwartet hätte, in die Charts zu kommen ... Zweitens bedeutet ein roter Stern in England bei Postlieferungen ‚Eilig!‘. Und letztlich wollte ich gerne möglichst vieldeutig verstanden werden. Es bedeutete nicht, dass ich Kommunismus predige. Ich bin Kapitalist mit kommunistischen Neigungen, aber ich sorge gerne für Unruhe, wann immer es geht. Es gibt immer genug von allem für jeden, aber manche sind nun mal gierig und wollen alles für sich. Sieh dir doch mal an, wer im Weißen Haus sitzt! Was den Heineken-Fall betrifft, sie wollten den Namen Red Star für Schallplatten benutzen, mit denen sie ihr Bier promoten, unter dem Deckmantel, mit diesen Platten etwas für unterprivilegierte Kinder zu tun. Es ist erstaunlich, welche durchsichtigen und irreführenden Kampagnen sich die Marketing-Leute heute ausdenken. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, sie haben mich bezahlt, um die Differenzen aus der Welt zu schaffen, und ich habe ihnen erlaubt, den Namen ‚Red Star Sounds‘ für ihre Promo-Veröffentlichungen zu verwenden. Allerdings war es ihnen nicht erlaubt, Platten auf dem Markt zu verkaufen, und sie durften auch nur vier Veröffentlichungen pro Jahr machen. Das war eine chaotische Situation damals, und es hat mich in meinem Glauben bestärkt, dass die Leute dir das Hemd vom Leib klauen, wenn du sie nur lässt. Die Welt ist grausam!“
Sanctuary hat vor kurzem die „2 x 5“-Compilation wiederveröffentlicht. Kannst du mir etwas über diese Veröffentlichung erzählen? Welchen Hintergrund hatte das damals, und welche Bedeutung hat „2 x 5“ heute?
„‚2 x 5‘ ist eine Compilation, die ich 1980 zusammengestellt und herausgebracht habe, und da sind fünf New Yorker Bands mit je zwei Stücken drauf. Jimmy Destri, der Keyboarder von BLONDIE, hat sie produziert. Bands wie die STROKES, dazu Little Steven’s Garage Radio Shows und Konzerte haben mich überzeugt, dass es an der Zeit war, ‚2 x 5‘ wieder herauszubringen. Außerdem gab es ‚2 x 5‘ bislang nicht auf CD, und Sanctuary wollte das gerne machen. Guter Rock’n’Roll ist immer relevant, wenn er idealistisch, rotzig, enthusiastisch und energisch ist. Die Stücke auf ‚2 x 5‘ sind beeinflusst von Bands wie den STANDELLS, den SONICS, 13th FLOOR ELEVATORS oder der CHOCOLATE WATCH BAND, und sie sollten rohe Emotionen rüberbringen und die Wahrheit sagen. Deshalb ist ‚2 x 5‘ auch heute noch von Bedeutung. Ich erwarte nicht, durch diese Platte reich zu werden, aber es ist eine sehr würdevolle Compilation.“
Kümmerst du dich um die Lizensierung des Red Star-Kataloges? Welche Platten gibt es denn heute, und auf welchen Labels sind sie erschienen?
„Ja, manches ist an andere Firmen lizensiert, manches habe ich verkauft, aber fast alle Titel sind erhältlich. Dazu gehören SUICIDEs klassisches, selbstbetiteltes erstes Album, die ersten beiden NEW YORK DOLLS-LPs – jetzt auf Universal –, die RAMONES-Demos, die ich 1975 produziert habe, die erste BLONDIE-LP, ‚Destiny Street‘ von RICHARD HELL & THE VOIDOIDS, die ‚Blast Off‘-LP der FLESHTONES, die REAL KIDS-Debüt-LP, Martin Revs ‚Clouds Of Glory‘ und die ‚Songs Of The Naked City‘-Compilation.“
Was machst du heute, womit beschäftigst du dich?
„Ich schreibe meine Memoiren, und ich habe gerade ein Drehbuch namens ‚Trash‘ fertiggestellt, von dem ich hoffe, dass es irgendwann verfilmt wird. Das ist die Geschichte eines Mini-Punkrock-Moguls, der zwischen seinen Träumen, dem Geld und der Leidenschaft der New Yorker East-Village-Halbwelt hängt. Jeder fährt auf ihn ab, doch er ist angewidert von der Gier und den ständigen Manipulationen in den Untiefen des Musikbusiness, und er wird langsam genau zu der Lüge, die er so verachtet. Das ist noch lange nicht alles, aber ihr müsst schon acht Dollar bezahlen, um das überraschende Ende zu erfahren – vorausgesetzt, das wird überhaupt jemals verfilmt ... “
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #62 Oktober/November 2005 und Joachim Hiller