Ein komisches, aber auch erhebendes Gefühl, einer lebenden Legende gegenüber zu sitzen: Anlässlich des „Punk Kongresses“ in Kassel Ende September bot sich die Gelegenheit, Malcolm McLaren (Ex-Geschäftspartner von Vivienne Westwood bei der Londoner Boutique „Sex“, Ex-Manager der NEW YORK DOLLS, Erfinder der Bondage-Hose, Erfinder der SEX PISTOLS, Angst und Schrecken der Plattenbosse in den Jahren ’76/77, Public Enemy No. 1 jener Tage) anlässlich eines Restaurantbesuchs zu, nun, interviewen bzw. dem höchst interessanten Monolog dieses englischen Gentlemans zu lauschen. McLaren ist genau das: höflich, intelligent, spleenig, sehr gewählt artikulierend, gut gekleidet, ein Mann mit Manieren. Und so darf die Ox-Leserschaft sich glücklich schätzen, mittels ihrer Abo-Beiträge dem Herrn den 40 Euro Rotwein bezahlt zu haben, den er – immerhin unter fleißiger Mithilfe des Herrn Chefredakteurs – zu sich nahm und der ihm die Zunge lockerte. Und der Mann muss es ja wissen: Als pubertierender Jüngling steckten ihn seine Eltern nach der Schule in eine mit militärischem Drill durchgezogene Ausbildung zum Weinverkoster, die ihn schließlich zum Kunststudium brachte. Der junge Malcolm fragte sich nämlich, wo die ganzen hübschen Mädchen eigentlich hingehen, die er nahe seines Ausbildungsplatzes täglich in einem Tor verschwinden sah. Die Antwort: zur Art School. Und damit war klar, wo ihn sein weiterer Weg hinführen sollte ... Und während man noch die Speisekarte studierte, war man plötzlich auch schon mittendrin im Interview, deshalb der etwas unvermittelte Einstieg.
Malcolm, eine der großen Leistungung von Punkrock war, die Distanz von Publikum zu Band, von Fan zu Musiker, abgeschafft oder doch zumindest verringert zu haben.
„Ja, als Fan von Musik, von Popmusik, willst du ja nicht nur Fan sein, sondern Teil des Ganzen, willst auf der Bühne stehen, willst dich wichtig fühlen, etwas verändern. Punkrock hat das Publikum wichtiger gemacht als die Band, das ist seine Leistung. Und je schwächer die Bands wurden, desto mehr Macht bekam das Publikum. Für die umgebende Kultur war dieses Phänomen höchst erstaunlich. Nimm als Beispiel einen heute in London arbeitenden Bildenden Künstler wie Damian Hirst – der ist ein Kind des Punkrock. Jemand wie er bedient sich der Bildenden Kunst in einer Weise, wie sie ohne Punk niemals möglich gewesen wäre. Ohne Punk wäre jemand wie Hurst nicht so beliebt und bekannt geworden, denn erst durch Punk wurde die Gesellschaft so liberalisiert, der Status Quo der Kultur so verändert. Punk hat denen, die in Sachen Kultur das Sagen hatten, den Kopf abgeschlagen – Leuten wie Rod Stewart, ROLLING STONES, Elton John. Bei den Bildenden Künsten geschah dann dasselbe in den 90ern, etwa in London, weil die Medien genug hatten von immer den gleichen Storys, und vollbrachten die erstaunliche Leistung, sich auf einmal für Bildende Kunst zu interessieren – und plötzlich wurde die zu Fashion, zu Mode. Und so gestaltet Tracy Emin heute Taschen für Longchamps und Damian Hirst versucht sich als Innenarchitekt – für den arbeiten 30 Leute, der hat die verschiedensten Projekte. Künstler wurden zu Geschäftsleuten, Kunst zu Mode. Kultur aus diesem Blickwinkel zu sehen, ist etwas ganz anderes, als der Blick, den man in den 70ern und 80ern noch hatte. Und diese Veränderungen wurden ausgelöst durch Punkrock – darin liegt die Macht dessen, was damals geschah.“
Andererseits wird auch immer wieder gerne der Satz zitiert: „Punk is an attitude, not a fashion“.
„Die Punk-Attitüde ist heute Teil des Mainstreams! Die Attitüde war damals ‚Grab it while you can‘ – ‚Nimm mit, was du kriegen kannst‘. Und: ‚Mach keine Gefangenen, mach genau das, was du willst‘. Und: ‚Du kannst es schaffen‘. Punk hat Menschen in die Lage versetzt, die Kultur zu verändern, was 20 Jahre früher noch unmöglich war. Nach den 60ern, in denen wir wirklich geglaubt hatten, die Welt würde sich verändern, wachten wir auf – wachte ich auf –, und man sah, dass sich rein gar nichts verändert hatte, ja, es war sogar noch schlimmer geworden. Das löste in uns kleinen Kunststudenten so eine immense Wut aus, dass die sich dann in einer neuen Generation ihren Weg brach – später, als ich dann auf der Kings Road meinen Laden hatte. Diese Wut inspirierte Menschen und manifestierte sich schließlich in dem, was die Presse, die Medien, ‚Punk Rock‘ nannten. Wir hatten das ja nicht so genannt, das war ein Name, der uns gegeben wurde, um zu beschreiben, was wir da im London des Jahres 1976 so trieben. ‚Punk‘ war eine Bezeichnung der englischen Presse für Leute, die sie als Hooligans ansahen, als ‚artful dodgers‘, frei nach Dickens’ ‚Oliver Twist‘. Klar, ‚Punk‘ als Begriff hat seinen Ursprung in einem amerikanischen Begriff, den man aus Filmen mit James Cagney kennt, Filme über Jugendliche von der falschen Seite des Bahndamms.“
Diese eben beschriebene „Grab it while you can“-Attitüde hat ja weniger was mit der gerne zitierten D.I.Y.-Idee der Punkszene zu tun, eher was mit hemmungslosem Neo-Liberalismus.
„Auf jeden Fall. Punkrock hat gewissen Menschen Millionen und Millionen von Dollar eingebracht.“
Und, fühlst du dich deshalb schuldig?
„Warum? Ich bin kein Christ, ich fühle mich nie wegen irgendwas schuldig. Wobei ich sagen muss, dass es natürlich nicht so geplant war, wie es dann gelaufen ist. Mir ging es um ‚failure‘, um das Scheitern, um einen ungeheuer spektakulären Akt des Scheiterns. Großspurig zwar, aber ein Scheitern. Und so ist Punk dann auch, was seine musikalische Durchsetzungskraft anbelangt, gescheitert, eben weil Punk zu einer Mode wurde. Und wie jeder Mode wurde man eben auch Punk nach einer Weile überdrüssig, und aus Faszination wurde Abscheu. Irgendwann fängt man eben an, seine Idole zu hassen, und Mode hat eben immer was mit Saison zu tun. Was Punk aber geschafft hat: Es hat all die Kids da draußen dazu gebracht, einfach loszulegen und eine Menge Geld zu machen. Wenn ich mich an diese Zeit zurück erinnere – und das ist eine ganz persönliche Sicht der Dinge –, dann ist den meisten Menschen doch in Erinnerung geblieben, dass ich den Plattenlabels EMI und A&M Geld gestohlen habe. Das waren die Schlagzeilen! Und daran erinnern sich auch die Leute: Punkrock, das heißt doch, dass man Geld klauen kann, ohne dafür belangt zu werden. Und wenn es heute Millionen von Entrepreneuren gibt, von Geschäftsleuten, die so denken, dann hat das was mit Punkrock zu tun, der dieser Art von unternehmerischer Aktivität den ‚Spirit‘ verlieh: ‚Anybody can do it‘ lautet das Motto. Und deshalb ist England heute das, was es ist, und vollgepumpt mit Geld: ein Piratenhafen voller Offshore-Banken. London ist eine Gangster-Metropole, zehntausende krimineller russischer Millionäre tummeln sich da, und damit hat sich eigentlich gar nicht viel geändert, denn London war eben schon immer ein barbarisches Piratennest.“
Das klingt jetzt alles eher negativ. Denkst du, dass Punk auch irgendwelche positiven Werte hinterlassen hat?
„Punk hat jungen Menschen hinterlassen, dass man mit Musik so laut gegen die ältere Generation – Eltern, Lehrer, Bosse – anschreien kann, wie nur irgend möglich. Es gibt dir das Gefühl, wichtig zu sein, und ist ein einfacher, aber wirksamer Weg, um dich selbst auszudrücken. Punk gab und gibt solchen Leuten einen ‚raison d’etre‘, gibt ihnen die Methode vor und das Werkzeug in die Hand. Und Punk hat all die Vorbilder: SEX PISTOLS, THE CLASH, BUZZCOCKS, RAMONES, und so weiter. Das alles ist aber die schöne Seite des Punkrock, die nicht direkt was mit der wahren Macht zu tun hat: Wir leben in einer Welt, in der Macht und Geld alles bedeuten.“
Aber wie empfindest du es denn, wenn heute 15-jährige mit großer Begeisterung eine Band, ein Fanzine gründen? Erschreckt dich das, bist du begeistert?
„Ich finde das wundervoll! Ich finde es erstaunlich, dass die Idee des Punk heute noch von Menschen mit solcher Wichtigkeit behandelt wird. Für mich war das ja einst nur eine Episode, die sich über zwei Jahre hinzog. Man darf nie vergessen, dass die SEX PISTOLS insgesamt nur 18 Monate existierten. Danach musste ich das Land verlassen, ich war der Staatsfeind Nr. 1. Ich zog dann nach Paris, in die Stadt, die alles verkörpert, was die Engländer hassen, und wo man mich mit offenen Armen begrüßte. Ich kam mir vor wie Oscar Wilde. Erst ein Jahr später konnte ich dann nach London zurückkehren, und selbst da musste ich noch höllisch aufpassen. Ich kam mir vor, als hätte ich Lepra oder so.“
Bis heute wirst du ja gerne als durchtriebener, böser Manager dargestellt – und dann sitzt man mit dir hier in einem Restaurant und hat den Eindruck, es eigentlich mit einem ganz netten Typen zu tun zu haben.
„Nun, ich habe damals einfach alles getan, um diesen Eindruck des bösen Managers zu erwecken. Ich kannte die Musikindustrie damals nicht, dachte mir aber, es könne nicht schaden. Ich habe nie verstanden, wie man vor etwas Angst haben kann, und diese Furchtlosigkeit bedeutet in meinem Fall auch, dass Versagen nichts ist, wovor man Angst haben muss. Man muss den eigenen Misserfolg bereitwillig annehmen können. Und so furchtlos bin ich diesen Musikindustrie-Managern dann entgegen getreten, zudem mit dem Hintergrund, dass ich ja ein ganz anderes Programm hatte, als all die anderen Leute, mit denen die sonst so zu tun hatten: Ich bin nicht hier, um euer Freund zu werden, sondern um euch zu zerstören. I am evil, I am bad news. Das war wirklich lustig, das machte Spaß. Manchmal ist es einfach ein ungeheuer gutes Gefühl, ein richtig böser Junge zu sein. Nett zu sein, war einfach langweilig. Und wenn man jung ist, spiegelt das einfach dein Wesen wider. Und ich war glücklich, mich so böse geben zu können, wie ich nur konnte.“
Und du konntest sehr böse werden.
„Oh ja! Ich habe Richard Branson von Virgin vor versammelter Mannschaft erniedrigt, zum Deppen gemacht, ihm seine Machtlosigkeit gezeigt und habe ihn dann auch noch gewürgt. Einfach, weil er der Vertreter einer Plattenfirma war. Der war damals nur ein alter Hippie, der hatte noch keine Fluglinie und war noch nicht zum Ritter geschlagen worden. Er hatte nur eine miese Plattenfirma, und weil es keine andere Plattenfirma mehr gab, bei der ich die SEX PISTOLS hätte unterbringen können – alle anderen Türen waren längst zugeschlagen worden, nur seine stand noch einen Spalt offen –, gab ich alles. Ich konnte Branson nicht leiden, ich gab einen Scheiß auf ihn und sein Label, mir waren Schallplatten egal, aber die Band wollte eben eine Platte machen. Meine Meinung war, dass keiner eine Platte braucht, es geht doch um den Look, das Auftreten, was die Band auf der Bühne macht. Die Band sah das anders, nun ja, damals war man erst jemand, wenn man eine Platte raus hatte. Eine Platte, das war der amtliche Stempel, dass du es als Band geschafft hast, erst dann warst du echt, angekommen im Kreise der richtigen Bands. Also nervte mich die Band ständig, ihnen einen Plattenvertrag zu besorgen. Branson rief mich Tag und Nacht deshalb an, ich antwortete zum Schluss nur noch mit ‚fuck off, fuck off‘ – der machte mich echt verrückt. Als ich ihn dann endlich mal in seinem Büro besuchte, war das schlimmer als mein übelster Alptraum. Ich wusste, der würde mir in den Rücken fallen, sobald ich ihm den zukehrte. Schließlich blieb mir aber nichts anderes übrig, als bei ihm zu unterschreiben, und es wurde ein richtig übler Kampf, bis hin zu körperlicher Gewalt, ja, ich habe ihn wirklich gewürgt. Und ich habe ihm auch Freunde auf den Hals gehetzt, die sind auf sein Hausboot vorgedrungen, wo er wohnte, um ihn einzuschüchtern. Einmal habe ich auch mitten in seinem Büro meinen Penis rausgeholt und ihm auf den Teppich gepinkelt.“
Sprechen wir noch mal über das Verhältnis von Punk und Geld, über die „Take the money and run“-Attitüde.
„Es geht nicht darum, dass Menschen damals mit Punkrock Geld verdient haben. Nein, ich meine damit, dass Punkrock vielen Leuten, den Fans, den Kids im Publikum die Fähigkeit verlieh, in die Welt hinauszugehen und es mit allen aufzunehmen. Sie sahen, dass die SEX PISTOLS es geschafft hatten, für nichts, für absolut nichts Geld abzugreifen. Ein paar von denen sind später an der Börse enorm erfolgreich geworden. Es gab damals nicht wenige SEX PISTOLS-Fans, die direkt von der Arbeit im Financial District zu den Konzerten kamen.“
Später gab es dann ja den Film „The Great Rock’n’Roll Swindle“, der diese ganze Thematik aufgreift.
„Exakt, er zeigt, wie man mit nichts Geld machen kann. Und das war und ist bis heute mein wichtigster Beitrag zum Punkrock. Okay, ich habe auch den Look von Punkrock kreiert mit der Bondage-Hose: ein weiterer Aspekt von ‚failure‘, eine Hose mit einer Leine zwischen den Beinen, so dass man kaum damit laufen konnte – die unkommerziellste Hose überhaupt. Und trotzdem wollte die jeder haben.“
Denkst du, so was wie mit den SEX PISTOLS ist wiederholbar? Oder, dass der Erfolg von NIRVANA mit dem der SEX PISTOLS vergleichbar war?
„Nein! Das mit NIRVANA war was ganz anderes. NIRVANA waren zwar irgendwie auch von englischem Punkrock inspiriert, so viel ich weiß, aber die waren doch viel poetischer. NIRVANA waren echt, während die SEX PISTOLS erfunden, gekünstelt waren. Das war ja keine natürlich entstandene Band, sondern eine, die aus einer Modeboutique heraus konzipiert wurde. Ich brachte diese vier Menschen zusammen, das waren ja nicht vier Freunde, die plötzlich die Idee hatten, eine Band zu gründen und sich SEX PISTOLS zu nennen. Ich gab der Band den Namen, kümmerte mich um die Auditions. Es war alles gestellt und arrangiert, wobei sich die Band dann später schon verselbständigte. In den achtzehn Monaten, die die Band zusammen war, sprachen die untereinander doch kaum ein Wort! Und der beste Grund, warum die SEX PISTOLS so schlecht waren, liegt darin, dass die sich untereinander so immens hassten – mehr als irgend etwas anderes.“
Wie kamst du denn überhaupt auf die Idee, aus einer Modeboutique heraus eine Band zu gründen? Und was hatte das mit Kunst zu tun?
„Also, mich hat die Zeit an der Kunstakademie nicht wirklich gefordert in der Hinsicht, dass ich motiviert gewesen wäre, in die Kunstwelt einzutreten. Das war so Anfang der 70er. Als ich dann nach sechs Jahren Kunstakademie da stand mit der Idee, das Scheitern als Herausforderung zu sehen – was man uns an der Art School beigebracht hatte –, mit dem Willen, mein Leben und das anderer zu verändern. Als ich also überlegte, wie ich ein ganz großartiges Scheitern hinlegen könnte, da kam mir die Idee, einen Laden zu eröffnen, der so unkommerziell sein sollte, wie nur irgend denkbar. Sobald meine Läden wider Erwarten doch erfolgreich wurden, schloss ich sie. Der Laden in der Kings Road wandelte sich ständig, und mit jeder Neueröffnung wurde er provokanter, greller und skandalöser – und unkommerzieller. Als ich dann anfing, Sex-Artikel zu verkaufen und Hosen, in denen man nicht laufen kann, Kleidung aus Gummi, die sehr unangenehm zu tragen war, Gummimasken, Brustwarzenklammern und all so Zeug, da war das nicht gerade das Sortiment, das man sonst so auf der Kings Road fand. Dabei war der Trick, die Sachen so zu verkaufen, als seien sie genau das: typische Kings-Road-Mode.“
Wo lagen deine musikalischen Wurzeln, worin bestand deine musikalische Motivation, aus der „Sex“-Boutique heraus eine Band ins Leben zu rufen?
„Meine Inspiration war, unabhängig zu sein. Die Musikszene an sich interessierte mich nicht besonders. Aber wenn ich mir damals große Bands wie die BAY CITY ROLLERS so ansah, da dachte ich schon, dass man denen was entgegensetzen kann. Ich meine, die SEX PISTOLS waren achtzehn, die BAY CITY ROLLERS weit über zwanzig. Irgendwie dachte ich, das sei ein riesiger Altersunterschied. Ich selbst war damals ja schon recht alt, an die dreißig, ich kam musikalisch aus den 50ern und frühen 60ern, wuchs mit Billy Fury und anderen damaligen englischen Popstars auf. Und natürlich mit den ROLLING STONES und den BEATLES. Und ich besuchte die Art School. Mir fiel an den ROLLING STONES damals schon auf, dass sie schmutzig aussahen. Man muss sich das vorstellen, ich war ein totales ‚fashion victim‘, ich besuchte die Kunstakademie, und ich war total aufgebracht darüber, dass diese Band so schmutzig aussah. Und ich dachte mir, dass das einfach ein guter, interessanter Look ist. Ich erinnere mich an ein Erlebnis, als wir mit einer Gruppe Studenten im Zeichenunterricht auf der Chelsea Bridge standen und das Battersea-Kraftwerk zeichnen sollten. Plötzlich kamen da die ROLLING STONES mit einem Fotografen aus dem Battersea-Park. Und ich werde nie das Hemd des Drummers vergessen: das war eigentlich mal weiß gewesen, aber es war jetzt schwarz – vor Dreck! Ich fand es erstaunlich, als Star so ein komplett verdrecktes Hemd zu tragen, und ich habe dieses Bild nie vergessen. Was nun die Frage anbelangt, so muss ich zugeben, dass mich an Musik schon immer mehr der Look interessiert hat. Ja, mein Interesse galt ‚the look of music‘ und ‚the sound of fashion‘. Ohne die Band hätte ich nicht so viele Kleidungsstücke verkauft, wäre ich nicht so bekannt geworden. Band und Look, Musik und Mode gingen absolut Hand in Hand. Auf jeden Fall kam für mich zuerst die Mode, und dann die Musik. Die RAMONES waren für mich ein Beispiel für eine ganz andere Zeit: Die trugen die Kleidung eines Jack Kerouac, das war ein Look aus dem Jahr 1949: eine gebrauchte Polizei-Lederjacke, ein schmutziges weißes T-Shirt, enge Levi’s-Jeans, Biker-Boots. Das war überhaupt nichts außergewöhnliches, aber es erfüllte das Klischee des Outlaw-Schicks. Nur neu war daran eben überhaupt nichts.“
Du bist heute häufig in China. Wie empfindest du es, wenn du da jetzt Punk-Kids siehst, die dort heute die Design-Ideen aufgreifen, die von euch vor über 30 Jahren entwickelt wurden?
„Also, der größte Akt der Rebellion, den ein junges Mädchen heute in China begehen kann, ist ihre Haare von schwarz auf pink umzufärben. China ist immer noch eine sehr organisierte Gesellschaft, und so etwas zu tun, ist enorm freakig. Die Chinesen sind nach all den Jahren unter Mao enorm konservativ.“
Gleichzeitig weist China aber heute die höchste Rate an Schönheitsoperationen auf.
„Ja, aber das hat damit ja nichts zu tun. Die werden von den Frauen ja nur gemacht, um ihrem Boss besser zu gefallen, der wiederum erwartet, dass der Körper einer Frau perfekt aussieht. Das Traurige im heutigen Asien ist wirklich, dass du als Frau den Job nicht bekommst, wenn dein Köper nicht perfekt aussieht.“
Ist es heute in China gefährlicher, ein Punkrocker zu sein als 1977 in London?
„Das ist in China weniger gefährlich, eher ein bisschen schockierend. Unterm Strich ist die chinesische Gesellschaft viel offener, als wir das gemeinhin denken.“
Und doch gibt es noch viele Tabu-Themen.
„Natürlich. Aber das kann man über die USA heute auch sagen. Wer im Westen will sich da herausnehmen, den Osten für seine Tabuthemen zu kritisieren? Die Tragödien, die sich im Namen westlicher Regierungen ereignen, sind ja keinen Deut besser, ja in mancher Hinsicht sogar schlimmer. Cat Stevens, einen alten Hippie-Sänger, hat man nicht in die USA einreisen lassen, sondern nach Heathrow zurückgeschickt. Das ist doch alles ein schlechter Scherz.“
Malcolm, was hat dich überzeugt, hier nach Kassel zu kommen, um an diesem „Punk-Kongress“ teilzunehmen?
„Ha, das habe ich nicht entschieden, das war mein Büro in Paris. Die waren der Meinung, es wäre gut für mich, da hinzugehen. So einfach ist das.“
Und warum dachten sie, das sei gut?
„Ich denke, sie dachten, es sei gut, wenn ich mir mal anschaue, was dieser Tage in Deutschland, in Kassel so läuft. Und meine Reaktion war ‚Okay, maybe ... well, why not? Alright.‘“
Und, bedauerst du deine Entscheidung jetzt?
„Nein, ich bedauere nie etwas. Egal, was du tust, du lernst immer etwas dabei. Irgendeine Erinnerung bleibt dir immer.“
Hast du vorher mal an einem ähnlichen Seminar teilgenommen, bei dem es auch um das ging, was du seinerzeit mit ausgelöst hast?
„Nein, bisher nicht. Ich habe nur vor einer Weile mal für MTV eine Art Vorlesung gehalten. Und ich muss sagen, MTV ist eine wirklich böse, unheimliche Organisation, in dem Sinne, dass es denen überhaupt nicht um die Musik geht, es ist eine reine Geldvermehrungsmaschine. Nicht, dass es mir etwas ausmachen würde, dass sie von den Plattenfirmen Geld nehmen, gerade das finde ich lustig: die kassieren nicht zehntausende, sondern hunderttausende Euro – eine außergewöhnliche Firma, wirklich. Denn im Gegensatz zu anderen Sendern bezahlen die nicht für ihre Ware, bekommen sie auch nicht umsonst, sondern lassen sich dafür bezahlen. Das finde ich alles nicht so schlimm. Richtig schlimm ist, dass es ein wirklich durch und durch reaktionärer Konzern ist, der komplett für George W. Bush ist. Und ich selbst bin auch überzeugt davon, dass MTV eine Mitschuld hat am vorhersehbaren Tod der Musikindustrie – und die weiß das auch selbst.“
Warum?
„Weil die enorme Mengen Geld nehmen für absolut nichts! Es ist längst bewiesen, dass man mit Musikvideos noch nie Platten verkauft hat. Nie, nie, nie, nie, nie! Nie in den ganzen 20 Jahren, die MTV existiert, heute nicht und zu Anfang nicht. Dass Videos Platten verkaufen, ist ein absoluter Mythos. Nimm irgendein Beispiel, NIRVANA etwa: Die Platte hätte sich auch ohne MTV verkauft. Nur sind die Plattenfirmen heute in der Situation, dass sie ihren Bands die Produktion eines Videos nicht verweigern können, auch wenn es absolut nichts bringt. Aber was sollen sie tun, wenn die Band und deren Management darauf bestehen? Dabei muss letztlich ja die Band von ihren Einnahmen das Video bezahlen.“
Madonna wäre deiner Meinung nach auch ohne ihre Videos zum Star geworden?
„Genau wie NIRVANA. Die Leute wollten die Musik hören, die Platte haben – dafür brauchten sie kein Video. Und sie wollten die Band live sehen. Oder Madonna: Deren Fans geben lieber 185 Dollar für eine Konzertkarte aus, als sich für zehn Dollar das Album zu kaufen.“
Weil sie das Album längst per Download gezogen haben.
„Nein! Weil sie es nicht wollen! Die wollen das Konzert sehen.“
Sorry, aber dein Argument, die Leute wollten Authentizität, klingt doch etwas naiv.
„Das ist es aber nicht. Es zeigt nur, dass die Leute an echten, realen Erfahrungen interessiert sind, nicht an virtuellen. Nimm mal als Beispiel den Kauf von CDs: Die Plattenläden sind nicht besonders schick, die Ware wird nicht verführerisch präsentiert, der ganze Vorgang ist nicht besonders sexy, die CD selbst ist kein schönes Objekt – du hast es mit einem wertlosen Produkt zu tun, das ist das Problem. Und die junge Generation hat das längst herausgefunden. Warum sollen sie für eine CD 15 Euro ausgeben, wenn ein CD-Rohling nur ein paar Cent kostet? Es gibt da kein Verhältnis zwischen Preis und empfundenem Wert. Demgegenüber sind die Leute bereit, für Konzerte richtig viel Geld zu bezahlen – da bekommen sie Realität, ein Event, das Publikum hat das Gefühl, aktiv teilnehmen zu können. Die gehen da mit ihren Freunden hin, haben zusammen Spaß, haben ein Ereignis, an das sie sich erinnern können. Und nicht zu vergessen der ‚Ich war da, ich habe es selbst gesehen‘-Effekt: ‚Ich habe die ROLLING STONES gesehen, habe Madonna gesehen‘. Was ist dagegen der bloße Besitz einer CD? Bankangestellte besitzen CDs. Früher war das anders, da waren es musikverrückte Kids, die Platten gekauft und besessen haben, nicht Bankangestellte. Heute kaufen die Bankangestellten die CDs, viel mehr als die Kids kaufen können, denn die haben kein Geld. Und die Kids kaufen keine Platten mehr, denn sie wollen ja nicht so sein wie Bankangestellte. Die Menschen wollen Authentizität, und sie wissen sehr wohl, dass sie in einer Welt leben, in der alles käuflich ist. Und in der die Verantwortung für das eigene Tun da endet, wo der Auftritt zu Ende ist. Nimm nur mal Tony Blair, das ist der erste Karaoke-Premierminister, den England hat. Er ist ein pathologischer Lügner! Aber das ist egal, denn er weiß, wie er mit dem Fernsehen umzugehen hat.“
Er hat auch was von einem TV-Prediger.
„Ja, er hat auch was von einem christlichen Fundamentalisten. Aber er ist auch gut dafür zu sagen, er höre sich nach einem anstrengenden Tag noch etwas THE CLASH an – bevor er ins Bett geht und sein Nachtgebet spricht.“
Das ist ja beinahe so schlimm wie, dass man uns Bill Clinton seinerzeit als den „Rock’n’Roll President“ verkauft hat.
„Und der denkt das heute noch. Das ist ja auch das Problem von Kerry, dass er sich nicht aus dem Schatten von Clinton lösen kann. Ich bin der Meinung, dass wir heute in einer ‚Karaoke-Welt‘ leben, in der alles käuflich ist, und gleichzeitig suchen die Menschen nach dem Wahren, Echten, das nicht zum Verkauf steht. Und das wollen sie dann noch mehr als alles andere.“
Wie passt dazu die ganze Diskussion um das Downloaden von Musik?
„Es ist ganz einfach: Es ist eine komplette Lüge, wenn die Musikindustrie behauptet, sie würde Verkaufseinbußen erleiden, weil die Leute Musik downloaden. Als ich ein kleiner Junge war, nahm mein Vater Musik aus dem Radio auf Band auf, jeden Samstagabend die Top 20. Und dann hatte er die Top 20 auf Band, konnte sie so oft abspielen, wie er wollte, und musste die Platten nicht kaufen. Und das war in den 50ern. Und später, als in den 70ern dann die Compact-Cassette den Markt erobert hatte, konnte man noch viel einfacher direkt aus dem Radio aufnehmen – und die Leute machten das auch. Es war cool, und natürlich hat die Musikindustrie getobt, versuchte in England eine Sondersteuer auf Leerkassetten durchzusetzen. Dann kam die CD und veränderte die Arbeitsweise komplett, denn plötzlich hatten die A&R-Leute in den Plattenfirmen ganz andere Möglichkeiten, konnten sich beliebig in den Archiven bedienen und Platten veröffentlichen, ohne sich weiter um die Künstler zu kümmern. Es war ja schon alles aufgenommen und bezahlt! Das Problem war ein paar Jahre später nur, dass sie zu diesem Zeitpunkt ihre Archive hemmungslos geplündert hatten und das, was mal einen Wert hatte, in wertlosen Plunder verwandelt hatten, dessen Wert die Menschen da draußen nicht mehr erkennen konnten und wollten. All diese Zusammenstellungen, entstanden in der Verantwortung von irgendwelchen A&R-Leuten ohne Gefühle und Leidenschaft für die Musik. Warum hätten sie sich auch drum kümmern sollen, das war ja nur wertlose Supermarktware. Musik zum Abspülen, Musik zum Scheißen, Musik immer und überall. Und letzten Endes hat das der Musik ihren Wert genommen – man hat der Musik keinen Respekt mehr entgegen gebracht. Und als dann das Internet noch ins Spiel kam, mit der Möglichkeit Musik runterzuladen bzw. als Dateien auszutauschen, schuf das eine Welt, die es all den Kids ermöglichte, endlich nicht mehr diese schrecklichen Virgin Megastores aufsuchen zu müssen, wo tausende CDs in ordentlichen Reihen aufgestapelt sind, von A bis Z, und dazwischen Angestellte, die sich einen Scheiß um dich kümmerten, aber immer einen Blick auf dich warfen, damit du auch ja nichts klaust. So eine Umgebung für Musik ist doch schrecklich, das hat doch keine Seele und keine Leidenschaft, da baute man als Kunde doch keine Verbindung zu so einem Laden auf.
Und dann kam das Internet und brachte dir die Musik direkt nach Hause, du hattest einen Grund, zu Hause zu bleiben, es war dein privates, eigenes Ding, und du hattest nix mehr zu tun mit dem schrecklichen Virgin Megastore, mit der Shopping Mall. Stattdessen findet Musik zu Hause statt, deine Freunden können vorbeikommen, ihr könnt gemeinsam neue Musik finden und entdecken. Und so entstand diese wunderbare neue Welt, in der Kids die Geschichte ihrer Kultur entdecken können, ohne immer gleich irgendwas kaufen zu müssen. Das hat auch was mit Erziehung und Bildung zu tun, und wenn die umsonst sein soll, dann muss auch die Popkultur umsonst sein. Gerade was die ganzen alten Aufnahmen anbelangt, da haben doch Künstler und Plattenfirmen längst Geld damit verdient, warum sollte das nicht umsonst sein? Wir haben die Popkultur geschaffen, jetzt gehen die Plattenfirmen hin und denken, sie würden sie besitzen und könnten dafür kassieren. Noch mal: Ich bin der Meinung, dass Popkultur niemand gehört, frei sein und umsonst zugänglich sein sollte. Abgesehen davon ist die Popkultur sowieso schon lange tot, die findet nur noch an den CD-Verkaufsdisplays der Tankstellen statt, wo dann ‚Summer Love‘-Compilations oder ‚Musik zum Scheißen‘ verkauft wird. So sieht’s doch aus. Um so besser, wenn man die Musik dann auch losgelöst von diesem ganzen Mist downloaden kann, und eine neue, junge Generation den Wert dieser Musik neu entdecken kann. Und die Tage, als man sich als was Besseres fühlen konnte, nur weil man Mitglied im SEX PISTOLS- oder LED ZEPPELIN-Fanclub ist, sind lange vorbei. Diese alten Tage kommen nur wieder, wenn eine dieser Bands irgendwo in einer riesigen Halle spielt. Und selbst da könntest die Besucher wahrscheinlich nicht als Fan einer bestimmten Band identifizieren, die sind einfach da, weil sie eine Band live sehen wollen. ‚Live in ihrer Stadt‘ vermittelt ihnen das ein Gefühl von Authentizität, die sie nicht verspüren, wenn sie eine CD dieser Band im Plattenladen kaufen müssen – und ich persönlich kann mir nicht vorstellen, was unsexier sein könnte als ein Virgin Megastore. Da arbeiten hässliche Menschen, der Laden ist hässlich, es ist schrecklich. Wenn es nach mir ginge, würden die sofort alle geschlossen.
Dementsprechend finde ich die Möglichkeiten, die das Internet bietet, extrem aufregend, und der Kerl, der Napster erfunden hat, ist für mich der erste Heilige des 21. Jahrhunderts. Er hat die ganze Lawine losgetreten, er ist wichtiger als Elvis Presley. Er hat die Gefängnisse geöffnet, denn nichts anderes sind die Archive von Sony, BMG, RCA, EMI, Warner & Co. Warum ich so begeistert bin? Weil so das Interesse an Popkultur zu neuem Leben erweckt wurde, und zwar auf die richtige Weise. Und wenn etwas umsonst ist, können die Leute auch viel schneller herausfinden, was cool und was nicht cool ist. Das Konzept des Albums, das man für viel Geld kaufen muss, hat den entscheidenden Nachteil, dass man oft genug zu Hause dann feststellt, dass einem ja nur ein Song so richtig gefällt. Und so gehst du am nächsten Tag wieder in den Laden und kaufst dir noch ein Album, in der Hoffnung, dass es dir besser gefällt. So funktioniert eben unsere westliche Konsumgesellschaft, die Leute müssen permanent dazu verführt werden, immer mehr und mehr zu kaufen. Das bisherige System erfüllt nur diesen Zweck, und deshalb hassen seine Vertreter die Gesetzlosigkeit des Internets. Da nehmen sich die Leute, was ihnen gefällt und lassen den Rest links liegen.
Deshalb gefällt mir auch das Prinzip von Apples iTunes, wo du einzelne Songs kaufen kannst und nicht ein ganzes Album nehmen musst. Da kannst du dir am Computer zusammenstellen, was du willst. Du bist dein eigener DJ, bist selbst ein Künstler. So macht Musik wieder Spaß, so bleibt sie lebendig, mit dem Ergebnis, dass daraus eine Generation entsteht, der Musik wieder wichtig ist. Ich bin mir auch sicher, dass ohne das Internet die Musikszene längst tot wäre. Wer würde sich denn sonst noch ein Muddy-Waters-Album kaufen? Du kannst doch nur noch im Netz solche alten Musiker entdecken, sicher nicht im Plattenladen. Da würde der sicher unter ‚M‘ stehen, hahaha, und eine Blues-Abteilung gibt es ja sowieso nicht mehr. Und wenn, verirrt sich dahin sicher kein 16-Jähriger, sondern nur 75-jährige Haschraucher.“
Wie nutzt du persönlich das Internet?
„Ich bin ständig damit in Kontakt. Aktiv und wenn ich mit Kids zu tun habe, die sich als Hacker betätigen. Das ist eine ganz besondere Erfahrung, ich finde deren Attitüde aufregend. Mit was willst du denn heutzutage in der Schule bei deinen Freunden noch punkten? Mit der neuen Platte von Madonna? Cool ist es, wenn dir der Geheimdienst auf den Fersen ist, weil du Hacker bist. Das ist der neue Underground, Leute, die versuchen sich der modernen Kommunikationsmittel zu bemächtigen, der Kultur der Großkonzerne und sie selbst neu zu erfinden. Es gibt da zum Beispiel eine Szene von Leuten, die mit modifizierten Gameboys Musik machen. Die nennen sich nicht selbst Künstler, für die sind Künstler Leute, die mit den kommerziellen Konzernen in Verbindung stehen. Die sehen sich selbst als ‚reversible engineers‘. Man muss erkennen, dass die Großkonzerne längst die Kontrolle verloren haben. Die versuchen zwar weiterhin, diesen oder jenen Musiker mit irgendwelchen Auszeichnungen zu versehen, für diesen oder jenen Preis zu nominieren, aber das interessiert doch kaum noch jemand. Unsere Gesellschaft besteht heutzutage aus einer Ansammlung von einzelnen ‚Stämmen‘, von Menschen, die sich in unzähligen Nischen bewegen, gerade im Netz.
Und die Plattenfirmen hassen das, denn sie haben keine Kontrolle, und glauben immer noch, sie sollten die Fäden in der Hand halten, dass die Billboard 100 der einzig offizielle ‚Stamm‘ sind. Das ist doch Quatsch, kein Mensch interessiert sich mehr dafür, wer auf Platz 1 der Charts ist. Weißt du, wer gerade ein Deutschland die Charts anführt? Nein? Eben. Frag jemand auf der Straße, in einer Kneipe: Das interessiert niemand mehr, es ist absolut irrelevant. Vor 20 Jahren war das noch ganz anders, da wusste das jeder, es war wichtig für die Jugendkultur. Und warum ist es dir egal? Weil du nicht in die Virgin Megastores dieser Welt gehst, du willst nicht zu den Leuten gehören, die da hingehen. Genauso versagt heute auch MTV darin, den Leuten zu erklären und zu zeigen, was Popkultur ist. Das ist vorbei, das ist Geschichte, und deshalb verliert MTV auch allenthalben Marktanteile. Ich war ja bei denen auf einer Konferenz, und denen geht der Arsch auf Grundeis. Die Kids schauen MTV einfach nicht mehr, die halten das für einen schlechten Scherz.“
Du hast uns jetzt jede Menge Gründe und Beispiele genannt, weshalb mit Musik und dem Internet kein Geld zu verdienen ist. Aber wie und wo ist denn noch Geld zu verdienen mit Musik?
„Der einzige Bereich, wo man noch Geld verdienen kann, ist die altmodische Variante: Auf Tour gehen und in Bars, Clubs und Hallen live spielen. Die Band im direkten Kontakt mit dem Publikum, ohne Plattenfirma dazwischen. Das Publikum bezahlt, und wenn sie das, was passiert, nicht mögen, fliegen ein paar Tomaten – oder es gibt Beifall.“
Und damit wäre man dann wieder da, wo man vor 30 Jahren schon mal war.
„Absolut. Und wenn man eben mal 30, 40 Jahre zurückgeht in der Musikgeschichte, dann waren die Plattenfirmen damals bei weitem nicht in dieser allmächtigen Position, die sie in den 90ern dann erreicht hatten. Sie tanzten auf den Köpfen der Künstler herum, traten sie in den Staub, die Künstler waren irrelevant geworden, es galt das Hire & Fire-Prinzip. Zum Glück ist das heute alles vorbei, kein vernünftiger Künstler unterschreibt mehr einfach so einen Plattenvertrag, die bringen ihre Platten lieber selbst heraus. Wenn du auf diese Weise, independent, 25.000 verkaufst, verdienst du daran mehr, als wenn die Industrie 500.000 verkauft. Und jeder weiß das heute auch, keiner lässt sich heute mehr verarschen. Und kein vernünftiger Musiker will sich mehr von solchen Idioten vermarkten lassen, denn er weiß ja, dass sie das in der denkbar schrecklichsten Weise tun würden. Die schicken dich zu dämlichen MTV-Interviews und all so was.“
Punk hatte und hat auch immer was mit der Aneignung öffentlicher Räume zu tun, doch in heutigen Großstädten ist es kaum noch möglich, Flyer und Plakate zu kleben, und Aktivisten wie Adbusters werden verfolgt.
„Ich weiß, wie das heute in London abgeht, da ist das Aufhängen von Flyern mittlerweile illegal. Dabei geht die Geschichte von öffentlichen Ankündigungen mittels Flyern bis aufs alte Rom zurück, war schon damals eine einfache Methode, anderen mitzuteilen, was abgeht. Später dann kamen offizielle Werbetafeln, Billboards, dazu, auf denen Unternehmen gegen Bezahlung für ihre Produkte warben. In den letzten 20 Jahren hat sich das etwas geändert, denn niemand glaubt mehr, was auf diesen Plakaten steht. Es ist eine Kultur des Täuschens. Es sind alles nur Lügen, und wir wissen das. Bei illegalen Flyern und Postern ist das etwas anders: Wir wissen, dass sie illegal sind, und deshalb ziehen wir in Erwägung, dass es stimmt, was da steht. Was nun London anbelangt, so spielt es keine Rolle, dass der Bürgermeister Ken Livingston ein Linker ist, für illegales Plakatieren stecken sie dich trotzdem ins Gefängnis. Und das trifft dann auch Firmen wie Sony, die sich seit Jahren dieser Werbemethode bedient hatten. Ähnlich ist das bei Graffiti, nur war das schon immer eine viel undergroundigere Kultur, die kaum zu fassen und zu fangen ist. Die Menschen sollten allmählich verstehen, dass Graffiti schon seit Ewigkeiten zur städtischen Kultur dazugehört, dass es das schon immer gab. Das wird immer auf die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts und Hip-Hop reduziert, aber das stimmt ja nicht. Auch die Punks machen und machten Graffitis, sprühen Bandlogos an Wände. Das hat immer auch was mit dem Markieren eines Territoriums zu tun, wie das Hunde oder Katzen machen, das ist immer auch ein Akt der Rebellion gegen eine empfundene Repression. Unter anderem dagegen, dass große Unternehmen sich immer mehr des öffentlichen Raumes bemächtigen.“
Und das muss man ja nicht einfach hinnehmen ...
„Ja, doch die Rufe danach, all jene, die dagegen kämpfen, einfach einzusperren, werden immer lauter. Die Welt wird immer konservativer, es wird immer schwieriger, die Regeln zu brechen, immer schwieriger, überhaupt eine Meinung zu haben. Wir alle wissen, dass das Internet eigentlich der einzig verbliebene und weitgehend unkontrollierte, gesetzlose öffentliche Raum ist, und deshalb sind die Anstrengungen, es unter Kontrolle zu bringen, ja auch so groß. Zum Beispiel existieren in China kaum Gesetze und Regelungen zum Copyright, das ist einzigartig, und die Menschen wissen nicht mal, warum da irgendwas illegal sein könnte. Ich war erst kürzlich wieder in Peking, und da möchte ich eben eine kleine Geschichte erzählen: Wenn du in Peking irgendwo essen gehst, kommt schon nach ein paar Minuten jemand zu dir, mit einer kleinen Mappe voller Filme, die gerade in Hollywood erschienen sind. Und nicht nur das: Wenn du danach fragst, bekommst du auch so ziemlich jeden anderen Film, den du schon immer mal sehen wolltest, ganz egal ob aus den 40ern, 50ern, 60ern oder 70ern. Und so eine DVD kostet dann 25 Cent. Und natürlich wird die chinesische Regierung jeden Tag von allen Botschaftern der westlichen Staaten mit Anfragen bombardiert, wann sie denn endlich gedenke, diesen Copyrightverletzungen Einhalt zu gebieten. Und dazu noch Vertreter aller großen Unterhaltungskonzerne. Und immer wieder heißt es: Bitte ändert euer Urheberrechtsgesetz. Und die Chinesen haben darauf immer wieder die gleiche Antwort: Wir haben ganz andere, viel größere Probleme. Zum Beispiel, dass von einem Tag auf den anderen all die Menschen, die jetzt diese DVDs kaufen, nichts mehr zu tun hätten. Heute hat beinahe jeder Haushalt, ganz egal wie arm er auch sein mag, einen DVD-Player. Das Freizeitvergnügen von hunderten Millionen Chinesen besteht alleine daraus, Filme auf DVD anzuschauen. Es ist deshalb schon jetzt absehbar, dass die Chinesen derzeit auf dem besten Wege dahin sind, das in cineastischer Hinsicht gebildetste Volk der Welt zu werden. Und daraus wird eine Filmkultur entstehen, die alle anderen auf der Welt überragen wird. Du kannst dich mit den Leuten über Orson Welles, Doris Day oder Quentin Tarantino unterhalten, die kennen die, weil sie alle ihre Filme gesehen haben, weil sie jede Woche sieben, acht Filme schauen. Das ist wirklich unglaublich.“
Und wie ist das in Sachen Musik?
„Da sind sie noch nicht so weit, da besteht noch kein so großes Interesse. Das Interesse liegt da eher bei Karaoke, darüber nehmen die Chinesen Musik wahr. Sie haben eine enorm große Karaoke-Kultur aufgebaut, und die Menschen bringen manchmal Wochen damit zu, Lieder von Elton John, Jimi Hendrix und und und einzuüben. Die ganze Familie geht dann in eine Karaoke-Bar, alle Freunde werden eingeladen, und dann singt auch jeder sein Lied. Die junge Generation hat reihenweise Karaoke-Platten zuhause, mit meist recht gut gemachten Backingtracks zu allen Hits, und die gehen jetzt hin und mischen und schneiden daraus neue Musik – und das ist für mich das erste und einzige neue musikalische Genre seit einer Ewigkeit, das zudem überwiegend chinesisch ist. Ich nenne es ‚Post-Karaoke‘. Die mischen sich aus verschiedenen Karaoke-Platten neue Songs zusammen und singen dazu – etwas Englisch, etwas Chinesisch – und das Ergebnis ist eine ganz eigene Art, Popmusik zu machen. Und das ist mittlerweile schon eine recht große Szene, vor allem in Peking. Ich habe unlängst auch mit ein paar jungen Chinesen, die solche Musik machen, zusammen gearbeitet. Und es ist heute auch so, dass jede Band in Peking am Ende ihres Konzertes als Zugabe noch so einen Post-Karaoke-Song spielt, der mit Hip-Hop anfängt und dann über Barry White bei chinesischer Oper endet.“
Diese von dir produzierte chinesische Girlband hast du ja auch auf dem Punk-Kongress per Video vorgestellt.
„Diese Band heißt WILD STRAWBERRIES und war Anfang 2004 auch schon in Europa auf Tour. Es sind Girls, die in dieser Post-Karaoke-Kultur aufgewachsen sind und jetzt ihr eigenes Ding machen, mit beschleunigten Karaoke-Tracks, über die sie mal in Englisch, mal in Chinesisch singen. Das Video war zu ihrer Version von ‚Foxy lady‘. Ich habe parallel dazu auch noch ein paar andere Projekte betreut, unter anderem die GAMEBOY MUSICIANS, die die Software der alten Gameboys so modifiziert haben, dass sie als musikerzeugende Maschinen taugen – und das ist mittlerweile eine internationale Szene von ‚Rock’n’Roll Gameboys‘ mit unzähligen Beteiligten. Ich habe daraus eine Liveshow konzipiert, und als einzigen Tonträger dazu eine 45er-Vinyl-7“ – für mich das einzige in Frage kommende Format, denn ich finde CDs schrecklich.“
Hörst du selbst heute noch aktiv Musik?
„Nur selten. Ich habe so viel Musik gehört in meinem Leben, und so gibt mir das eigentlich keine Kicks mehr – leider. Ruhe ist mir mittlerweile lieber. Aber ich arbeite täglich mit Musik, und wie ich vorhin schon sagte, finde ich sowieso den ‚look of music‘ interessanter: Wie sieht eine Post-Karaoke-Band aus, der Rock’n’Roll-Gameboy-Sound? Bei letzteren sieht man auf der Bühne nur Schatten, sie wollen nicht gesehen werden.“
Ich bin wirklich verblüfft von dem Enthusiasmus und Eifer, mit dem du über Musik sprichst.
„Das liegt nur daran, dass ich über die Jahre immer ‚on the road‘ geblieben bin. Das erste Buch, das ich seinerzeit als Student las, war Jack Kerouacs ‚On The Road‘, das zweite ‚Naked Lunch‘ von William S. Burroughs. Mir wurde beigebracht, immer ‚on the road‘ zu bleiben. Die Straße ist die Reise, die niemals endet, und das hat auch was mit der Idee des Flaneurs von Baudelaire zu tun, dem Prinzip, nach links abzubiegen, wenn man eigentlich nach rechts abbiegen sollte. Die Straße als Idee, im Laufe seines Lebens Wissen anzuhäufen, habe ich einst als Kunststudent kennen gelernt und bin ihr treu geblieben. Und nur so konnte ich auf diese Gameboy-Kids in Paris stoßen, irgendwo jenseits der Périphérique, in dem Gürtel kleiner Städte mit verlassenen Fabriken. Dort, in einer alten Halle, traf ich diese Kids, an den Wänden unzählige alte Computer, das sah aus wie ein Museum. Und in der Mitte des Raumes Plattenspieler, mit Singles drauf, gepresst irgendwo in der Nähe von Prag, wo ein paar alte amerikanische Hippies sich ein Vinyl-Presswerk aufgebaut haben. Und da haben diese Kids ihre Musik pressen lassen, nur auf Vinyl, denn obwohl sie ihre Musik digital erzeugen, akzeptieren sie als Format nur die 7“. Für die ist die 7“ sexy und verführerisch, einfach echt. Und die Verbindung zwischen ihrer Musik auf der Basis früher Videospiele und der 7“ sind die frühen 80er, als die Videospiele auftauchten und kommerzialisiert wurden und gleichzeitig das Ende der 7“ und des analogen Formats eingeläutet wurde. Diese Kids zu sehen, zu verstehen, warum sie sich ‚reversible engineers‘ nennen, das macht mir Spaß. Dass sie nicht altmodisch mit elektrisch verstärkten Gitarren Punkrock machen, fand ich obendrein interessant. Die sind vielmehr die Enkel von KRAFTWERK – die es obendrein gut finden, dass nicht jeder ihre Platten hören kann, denn wer hat denn noch einen Plattenspieler heutzutage? Und dazu passt, dass ich erst vor ein paar Wochen in einem superschicken Laden in Paris Plattenspieler entdeckt habe: keine superteuren HighEnd-Plattenspieler, sondern recht simple, bezahlbare, und ich habe das Gefühl, dass es eine Renaissance des Vinyls gibt. Eine interessante Entwicklung inmitten der Ruinen der Musikindustrie, die uns alle dazu bringen wollte, nur noch CDs zu kaufen.“
Malcolm, ich danke dir.
„Es war mir ein Vergnügen. Und ich hoffe, der Wein hat dir geschmeckt. Der Chianti, den sie uns zuerst gebracht hatten, war ja auch wirklich schrecklich.“
Joachim Hiller (plus circa sechs andere Fragesteller am Tisch)
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