In ihrer Heimat Australien genießen THE LIVING END aus Melbourne Kultstatus. In Sachen Rock sind sie eine der erfolgreichsten Bands auf dem Kontinent überhaupt – bei ihnen ist das eine Mischung aus ursprünglich Punk und Rockabilly sowie mittlerweile „klassischen“ Rock-Elementen. Warum die drei Australier ihr neues Album nun aber wenig heimatverbunden „Wunderbar“ betitelten und am anderen Ende der Welt in Berlin aufnahmen, das erklärt Sänger Chris Cheney im Gespräch.
Chris, die erste Single von eurem neuen Album heißt „Don’t lose it“. Was verliert man, wenn man mit seiner Band 24 Jahre lang unterwegs ist?
Oh, das ist schwer zu sagen. Man gewinnt ja eher etwas hinzu über diesen Zeitraum.
Wie sieht es beispielsweise mit der Wut der Jugend aus?
Das stimmt. Die verliert man. Aber nicht im Sinne von: Wir sind nicht mehr wütend. Sondern eher im Sinne von: Man ist älter und reflektierter und bemisst Dinge anders. Früher haben wir alles rausgebrüllt. Heute sind wir reifer.
Und diese Reife ist wiederum das, was ihr im Laufe eurer Karriere gewonnen habt?
Genau. Wir wissen es zu schätzen, diesen Beruf, der nicht alltäglich ist, und der es uns ermöglicht, viel zu reisen, ausüben zu dürfen und damit unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Als junger Mensch denkt man über so etwas ja nicht nach.
Würde der Chris von 1994 THE LIVING END von heute immer noch cool finden?
Letztlich schon, denke ich.
Das klingt ein wenig zögerlich ...
Ist es auch. Weil er wahrscheinlich nicht alles verstehen und nachvollziehen könnte, was die alten Typen vor ihm auf der Bühne machen. Ich meine, wir haben uns ja auch musikalisch weiterentwickelt. Wir sind professioneller geworden. Haben bereits große Shows gespielt. Unsere musikalische Bandbreite ist viel größer als früher. Das würde der junge Chris vielleicht nicht alles toll finden.
Und was würdest du ihm als erfahrener Musiker gerne mit auf den Weg geben?
Ich würde ihm sagen: Genieße das, was ihr da tut! Denn wir haben die Band und alles, was damit zusammenhing, früher zu selten, zu wenig genossen. Wir waren die ganze Zeit damit beschäftigt, Songs zu veröffentlichen und zu touren. Alles hat sich nur um THE LIVING END gedreht. Es war zu viel. Zu viel, wenn man bedenkt, dass man all das ja nur einmal im Leben erlebt. Da muss man auch mal innehalten und nicht nur durchrauschen.
Es scheint, als seien das offensichtlich hinzugelernte Innehalten und Nicht-Durchrauschen auch die Gründe, warum es THE LIVING END bis heute miteinander ausgehalten haben und zu einer der bekanntesten Bands Australien wurden.
Definitiv. Die Zeiten, in denen es nicht so war, waren auch die, in denen ich die Sache fast beendet hätte. Damals, vor „State Of Emergency“, das ja 2006 rauskam. Da war es fast zu viel geworden.
Also kann man daraus schließen, dass ihr diesen „state of emergency“ innerhalb der Band seitdem nicht wieder erreicht habt?
Genau so ist es. Es ist gut gegangen. Wir touren nicht mehr so exzessiv. Wir gönnen uns Auszeiten. Die Band ist nicht mehr der absolute Mittelpunkt im Leben.
Nun heißt euer neues Album „Wunderbar“, ein deutscher Titel. Warum?
Wir haben die Platte ja in Berlin aufgenommen, wo wir viele Freunde haben. Wir hatten auch Los Angeles auf dem Schirm, wo ich ja seit einigen Jahren lebe. Dort hätten wir auch ins Studio gehen können. Aber wir wollten etwas anderes ausprobieren. Zudem lieben wir Deutschland und sind hier immer gerne unterwegs. Also wollten wir alles irgendwie auf Deutschland beziehen. „Wunderbar“ sollte auf gar keinen Fall so klingen, als sei es im Norden Australiens aufgenommen worden. Was letztlich schon komisch ist, wie ich selber zugeben muss. Denn eigentlich ist „Wunderbar“ die australischste unserer bisherigen Platten ...
Das musst du erklären.
Nun ja, wir haben eine große Bandbreite in den Songs. Oder anders gesagt, es ist Platz zwischen den Songs. Sie liegen musikalisch und textlich weit auseinander, obwohl sie doch absolut zueinanderpassen.
Du meinst, die Beziehung der Songs untereinander ist so großflächig wie euer Heimatkontinent, der ja zwischen den wenigen Städten auch viel Platz bietet und Raum für viele Kulturen hat?
So ist es. Wir haben von allem ein bisschen dabei. Punk. Rock’n’Roll. Rock im Stile unserer australischen Kollegen MIDNIGHT OIL. Viele Facetten eben.
Nur das Didgeridoo als typisch australisches Instrument fehlt ...
Haha, das stimmt. Das fehlt. Aber unser Drummer Andy kann Didgeridoo spielen. Richtig gut sogar. Insofern passt auch das. Und vielleicht kriegen wir ihn dazu, es beim nächsten Album einmal auszupacken.
Nicht nur, dass ihr als Australier eine Platte in Deutschland aufnehmt und deutsch betitelt. Nein, ihr schreibt auch noch einen Song namens „Death of the American Dream“. Und schon ist es weltumspannend und politisch.
Ja. Dieser Song musste sein.
In welchem Moment wurde dir bewusst, dass der oft zitierte „American Dream“ vor die Wand gefahren wird?
Es gab keinen konkreten Moment. Es ist ein Gefühl. Beziehungsweise das, was um einen herum passiert. Wie schon gesagt, ich lebe in den USA, in diesem wundervollen Land. Und ich habe hier viele Freunde. Viele von denen schämen sich mittlerweile dafür, Amerikaner zu sein. Beziehungsweise sie schämen sich für das, was manche ihrer eigenen Nachbarn tun. Das finde ich traurig, tragisch. Sie sollten sich nicht mehr für die Verfehlungen anderer schämen müssen. Und genau das meine ich mit dem zerstörten Amerikanischen Traum: er ist nur noch eine Illusion. Nichtsdestotrotz hoffe ich und bin zuversichtlich, dass sich die Situation für die Menschen dort auch wieder zum Besseren wendet. Es gibt genug gute Menschen in den USA.
Apropos gute Menschen: Ihr seid befreundet mit DIE TOTEN HOSEN. Sie gehören zu den größten Rockbands hierzulande. Ihr seid in Australien eine große Nummer. Seid ihr die australischen Hosen?
Nein. Nicht einmal annähernd. Der Status, den diese Jungs bei euch inne haben, ist weit von unserem entfernt. Mehr noch, wir empfinden es als Ehre, dass sie uns bereits mehrfach als Support zu ihren Touren eingeladen haben. Und es war großartig, dass Campino und die anderen auch während der Aufnahmen zu „Wunderbar“ im Berliner Studio vorbeikamen, um ein paar Songs mit uns einzusingen und einzuspielen.
Immerhin was die Popularität angeht, wirst du, Chris, im Wikipedia-Eintrag zu Melbourne unter „C“ wie Cheney sogar als erwähnenswerter Sohn der Stadt aufgeführt.
Tatsächlich? Wow! Das wusste ich noch gar nicht. Das ist nicht schlecht, haha!
Du stehst quasi gleich neben Nick Cave ...
Oh, ein ganz großer Künstler! Mit ihm möchte ich mich nicht vergleichen. Mit ihm kann ich mich nicht vergleichen.
Und doch war er in deiner Melbourner Zeit beinahe dein Nachbar. Hast du ihn mal in der Stadt getroffen?
Ja, habe ich. Mehrere Male sogar. Eine unfassbar beeindruckende Persönlichkeit. Ich kann dir sagen: Nick Cave hat eine riesige Aura. Wahnsinn!
Eine lebende Legende, so wie auch die STRAY CATS, die euch als Band erwiesenermaßen geprägt haben.
Absolut! Ich kenne deren Schlagzeuger Slim Jim sogar persönlich. Die STRAY CATS sind mit ein Grund, warum es uns gibt.
Sie haben sich jüngst wieder zusammengetan. Angeblich ist sogar eine neue Platte geplant.
Ja, ich weiß. Und ich weiß, dass Jim total aus dem Häuschen ist deswegen. Wie alle Fans.
Nun können derlei Reunions auch dazu führen, dass Musiklegenden sich selber zerlegen ...
Ja, ich habe das selber mal bei THE POLICE erlebt, als sie Ende der Nuller Jahre nach langer Zeit wieder zusammen auftraten. Das war nicht das, was ich erwartet hatte ... Das war nicht schön. Aber bei den STRAY CATS freue ich mich einfach als Fan. Das wird großartig!
Wir haben eben DIE TOTEN HOSEN angesprochen, ihr seid überhaupt recht bekannt für eure Kollaborationen mit Musikern verschiedener Genres. Eine derzeit ziemlich erfolgreiche Band aus eurer Heimat sind PARKWAY DRIVE, wann setzt ihr euch mal mit ihnen zusammen? Metal und Rock’n’Roll, das könnte doch interessant klingen, oder?
Mit PARKWAY DRIVE haben wir tatsächlich noch nichts gemacht. Aber das ist kein Wunder. Erstens sind auch sie, wie die TOTEN HOSEN, eine Stufe über uns und spielen mittlerweile wohlverdient Stadionshows. Und sie sind musikalisch einfach noch mal eine ganz andere Baustelle. Wüster. Lauter. Wer aus ihrem Küstenkaff, Byron Bay, kommt, der kann nun mal nicht anders. Der muss wüst und laut sein. Das ist ein Unterschied zu unserem Melbourne, wo du von Millionen anderen Menschen umgeben bist, haha.
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