Wer sich seine Gehörgänge sowie sein Bewusstsein nach der Taubwerdung durch die alltägliche, unumgängliche Berieselung mit weichgespülter „Härte“ mal wieder so richtig durchpusten lassen möchte, sollte mal einen Blick in den hohen, grauen Norden Englands werfen. Dort ist in den letzten Jahren, unter der Oberfläche der britischen Musiklandschaft, ein zartes Pflänzchen zu stattlicher Größe herangewachsen. Das in Newcastle beheimatete Quintett LAVOTCHKIN erinnert stilistisch an Genregrößen wie CURSED oder RISE AND FALL, schafft es aber mühelos, der Plagiatsfalle zu entkommen. Mit atemberaubender Kompromisslosigkeit und fast physisch spürbarer Wut prügeln die Jungs dem zum Verkaufsargument degradierten Wort „Hardcore“ all seinen anhaftenden Mief, seine Klischees, seine zur großen Langeweile verkommene Selbstreproduktion aus. Ich sprach mit Gitarrist und Sänger Martin Downing.
Martin, unser letztes Treffen ist jetzt ungefähr ein Jahr her. Wie hat sich LAVOTCHKIN seitdem entwickelt?
Seitdem hat sich eine Menge getan. Nach der Europatour waren wir hier in Großbritannien mit BRIDES unterwegs. Danach mussten wir eine kleine Auszeit vom Touren nehmen, weil wir alle komplett pleite waren. Zwischen Dezember 2008 und September 2009 haben wir drei Wochen im Studio verbracht, haben sechs Touren in Großbritannien und zwei auf dem Festland absolviert. Dann hat uns das echte Leben eingeholt und wir hatten einfach keine Kohle, um das so fortzusetzen. Außerdem hatten wir einen Haufen Songs aufgenommen und mussten uns um den bestmöglichen Weg kümmern, diese zu veröffentlichen. Von Oktober 2009 bis Januar 2010 waren wir also mit Organisatorischem beschäftigt. Wir haben uns letztendlich dazu entschieden, einige der aufgenommen Songs auf unserem eigens dafür gegründetem Label Shark City herauszubringen. Die EP ist im Juni dieses Jahres erschienen. Im Februar haben wir dann ein paar England-Konzerte mit unseren Freunden CROCUS und den Belgiern YOUR HIGHNESS gespielt. Eine bereits geplante Tour für Mai wurde kurzfristig gestrichen. Im Juni waren wir dann für drei Wochen mit THROATS unterwegs. Eine großartige Tour! Ach ja, wir haben dieses Jahr auch unser fünfjähriges Bandjubiläum gefeiert. Sich über Jahre zu bewähren, sich als Band durch die Höhen und Tiefen zu kämpfen, ist in diesen schnelllebigen Zeiten eine wenig gewürdigte Aufgabe, aber wir sind definitiv stolz darauf, nach all den Jahren immer noch da zu sein.
Die jüngst veröffentlichte EP heißt „Widow Country“. Warum, denkst du, sollten die Leute eure neue Scheibe antesten?
Weil ich überzeugt davon bin, dass es das Beste ist, was wir je veröffentlicht haben.„Widow Country“ ist brutal ehrlich; keine solche Bullshit-Düstermusik. Es gibt große Riffs, herunter gestimmte Gitarren, langsame und schnelle Parts, etwas Melodisches, viel Feedback, ein paar kleine Soli sowie angepissten Gesang. Wir haben Einflüsse von allem, was wir an Heavy-Musik mögen, miteinander verschmolzen und sind stolz auf den Versuch, unseren eigenen Weg zu gehen, anstatt aktuellen Trends zu folgen.
Worauf bezieht sich der Titel der EP?
Der Titel bezieht sich auf den Zustand dieses Landes – und ebenso auf unseren Gemütszustand. England ist derzeit kein glücklicher Ort. Es fehlt irgendetwas. Eine Gesellschaft voller Sehnsucht nach etwas Verlorenem. Die Leute suchen etwas, das sie nicht haben können und auch niemals wieder haben werden. Ich denke, es spiegelt auch meinen Gemütszustand wider: Ich trinke zu viel, um die Frustration und Traurigkeit zu betäuben. Ich weiß, es wird dadurch nur schlimmer, aber ich mache trotzdem weiter. Ich vermisse irgendwas. So in der Art wie eine Witwe.
Eure Musik ist ziemlich düster und aggressiv. Kann ich die Klänge als Spiegel eures Innenlebens interpretieren? Und was sind die Gründe für diese mutmaßliche Unzufriedenheit?
Irgendwie kannst du das schon. Die Band basiert auf Frustration. Die Welt um uns herum ist scheiße, die Musiklandschaft in Großbritannien ist sehr verworren und launisch, und sowieso haben wir alle unseren eigenen Probleme. Zu sagen, die Musik und die Texte seien eine Art Freisetzung der Wut, wäre eine massive Untertreibung. Im Großen und Ganzen sind wir keine traurigen, wütenden oder aggressiven Menschen, aber ohne die Band weiß man nie, was passieren würde, denn Ungeduld und Frustration müssen irgendwie auf konstruktive Art und Weise aus einem heraus oder es frisst einen auf. Ich denke, unser Sound ist das Ergebnis des Versuchs von fünf Menschen, ihre Dämonen zu vertreiben.
Was treibt euch an, eine Band wie LAVOTCHKIN am Laufen zu halten?
LAVOTCHKIN wird von der gemeinsamen Lust angetrieben, dunkle, schwere, ehrliche und aggressive Songs zu schreiben. Wir sind verwurzelt im Punk und Hardcore und haben den kollektiven Drang, neue Dinge auszuprobieren, unseren Sound sowie uns als Musiker weiterzuentwickeln. Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit sind uns wichtig. Wir sind alle einfach das, was wir sind, egal, was die Leute darüber sagen oder denken. LAVOTCHKIN ist einfach das, was es ist: eine von der Musik,die wir lieben, kreativ inspirierte Reflexion unserer selbst. Wir fahren so viele Touren, weil wir es lieben, Konzerte zu spielen, neue Leute kennen zu lernen, Freunde wieder zu treffen, miteinander rumzuhängen, gute Bands anzugucken. Alles in allem wollen wir Sachen machen, an die wir uns zufrieden erinnern können, mit denen wir versuchen können, unsere Kinder zu überzeugen, dass sie coole Väter haben, haha! Mensch ist nur einmal jung!
Was sind eure Pläne für die nahe Zukunft?
Leider hat uns vor kurzem mit Paul unser Drummer verlassen, um sich auf seinen Job und seine neue Band zu konzentrieren. Wir sind im Gutem auseinander gegangen und danken ihm für die tollen fünf Jahre! Mit Gibbo, einem langjährigen Freund, früher bei der Crust-Band BURNING THE PROSPECT, haben wir schon einen neuen Schlagzeuger gefunden. Die ersten Konzerte mit ihm stehen jetzt an – und um ehrlich zu sein, hat dieser Personalwechsel ein wenig Frischluft mit sich gebracht. Für den Rest des Jahres stehen ein paar Festivals, verschiedene einzelne Konzerte und eventuell eine größere Tour im Dezember auf dem Plan. Im November wird eine Split-7“ mit END TO EMPIRES erscheinen und dann stehen noch Arbeiten an unserem für Anfang 2011 geplanten Debütalbum an. Diesbezüglich sind wir fokussierter und enthusiastischer als je zuvor in der Bandgeschichte. Das Experimentieren mit verschiedenen Ideen in den letzten Jahren hat uns wirklich geholfen, herauszufinden, in welche Richtung wir die Band ganz genau wachsen lassen wollen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #92 Oktober/November 2010 und Konstantin Hanke
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #94 Februar/März 2011 und Jens Kirsch