KIRA ROESSLER

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In the quiet

Wer einen Blick auf die Punk-Szene von L.A.-der 1970er und 1980er Jahre wirft, stößt unweigerlich auf zwei Namen: Paul und Kira Roessler. Die Geschwister spielten beide in bemerkenswerten Bands, darunter THE SCREAMERS, TWISTED ROOTS oder THE NIG-HEIST. Aber es war vor allem Kira Roesslers Zeit bei BLACK FLAG, die sie zu einer Wegbereiterin für Frauen in einer männerdominierten Welt machte. Sie ersetzte Chuck Dukowski am Bass und blieb zwei Jahre lang in der Band und nahm mit BLACK FLAG fünf Alben auf. Kurz nachdem sie BLACK FLAG 1985 verlassen hatte, gründete sie zusammen mit ihrem späteren Ehemann Mike Watt (MINUTEMEN, fIREHOSE) das Projekt DOS, auf dem beide ausschließlich Bass spielten. Vor kurzem veröffentlichte sie ein Soloalbum mit dem Titel „Kira“, das sich deutlich von dem abhebt, was man von ihr vielleicht erwarten würde, aber schöne Überraschungen bietet. Zur Zeit lebt sie in Südkalifornien, wo sie im Dialogschnitt für große Hollywood-Produktionen arbeitet, zuletzt etwa „Die letzte Fahrt der Demeter“ oder „Transformers: Aufstieg der Bestien“. Zur Zeit nimmt sie im Kitten Robot Studio ihres Bruders neue Musik auf.

Ich habe kürzlich irgendwo gelesen, dass du als Kind eine Weile in Nordkalifornien gewohnt hast. Wo und wann genau? Erinnerst du dich an Musik, die du damals gehört hast, und hat sie dich irgendwie beeinflusst?

Ich habe zwei Jahre mit meinen Eltern in Moraga gelebt, als ich zwischen elf und dreizehn Jahre alt war. Moraga ist ein Vorort von San Francisco, wo mein Vater damals arbeitete. Ich besuchte die Junior Highschool. Musikalisch war das eine sehr trostlose Zeit für mich. Ich hatte mit dem Klavierspielen aufgehört und noch nicht mit dem Bassspielen begonnen. Meine Eltern befanden sich in einer Ehekrise und ließen sich am Ende unseres Aufenthalts dort scheiden. Dann zogen wir nach Los Angeles, wo die Schwester meiner Mutter lebte. Als ich mit Punkrock in Berührung kam, war ich sehr angetan von verschiedenen nordkalifornischen Bands ... besonders von THE AVENGERS.

Auf der High School hast du an einem Projekt namens „Innovative Program School“, kurz IPS, teilgenommen, genau wie dein Bruder, aber auch Darby Crash, Pat Smear und andere später bekannte Punkmusiker. Es heißt, dass es auf Scientology oder den Prinzipien des umstrittenen „Erhard-Seminar-Trainings“ (EST) basierte. Was hast du dort für Erfahrungen gemacht?
Es war eine Zeit, in der die Hippie-Kultur in einigen Gegenden noch sehr dominant war. Ich glaube, IPS hatte einen größeren Einfluss auf meinen Bruder als auf mich. Die Scientology- oder EST-Wurzeln wurden nicht so sehr betont ... aber die Lehrer hatten diesen Hintergrund und der Ansatz basierte auf diesen Ideen. Aber wir bekamen trotzdem normalen Unterricht und Bildung inmitten all dieser seltsamen „Übungen“, die sie uns machen ließen. Ich beschloss einfach, in der 10. Klasse so viele Punkte wie möglich für den Abschluss zu sammeln, weil man so in seinem eigenen Tempo lernen konnte. Als ich in der 12. Klasse war, hatte ich einen sehr reduzierten Stundenplan, da ich die meisten Anforderungen bereits erfüllt hatte.

Wie bist du mit deinem Songwriting-Ich in Kontakt gekommen?
Das ist eine gute Frage. Das mit dem Songwriting lief extrem langsam und überhaupt nicht nach meinem Zeitplan. Wenn ich so zurückblicke, war Songs zu schreiben für mich anfangs ein Teil der Show ... Ich war in einer Punkrock-Band, also brauchte ich ein paar Songs, um dazu zu schreien. Erst als ich anfing, Gute-Nacht-Geschichten für meine kleinen Neffen aufzunehmen, kam es mehr aus dem Herzen. Ich verwendete klassische Kindergeschichten, ergänzte sie aber um ineinander greifende Basslinien, um die Atmosphäre einzufangen ... Als meine Neffen älter wurden, hatten auch die Erzählungen mehr emotionalen Tiefgang und die Basslinien mussten dem Rechnung tragen. Als Mike und ich später DOS gründeten, eine Band mit zwei Bässen, bot es sich an, ein paar davon als erste Tracks zu verwenden. Ich hatte schon immer Gedichte und Tagebuch-Nonsens verfasst, aber den musikalischen und den verbalen Ausdruck meiner Gefühle zusammenzubringen, dafür brauchte ich sogar noch länger. Meine ersten Stücke für DOS, für die ich Texte hatte, waren fast so lächerlich wie meine früheren Punkrock-Songs! Doch langsam begann ich zu spüren, dass ich mich tatsächlich durch meine Musik ausdrücken kann. Ob jemand anderes diese Gefühle nachempfindet, wer weiß? Heute verwandeln sich alle meine Einfälle und Emotionen in Songs. Die meisten davon werde ich wahrscheinlich nie veröffentlichen, aber sie sind ein Spiegel meines tagtäglichen Lebens.

Hast du immer eigene Stück geschrieben, auch als du in anderen Bands warst, wo du nicht die Hauptsongwriterin warst?
In den meisten Bands, in denen ich gespielt habe, war ich das nicht. Ich genieße die Herausforderung, interessante Basslinien für die Songs anderer zu schreiben. Ich versuche gerne, die Emotionen zu erspüren, die jemand mit seiner Musik ausdrücken will. Jetzt meine eigene Musik zu schreiben, ist etwas total anderes. Als ich bei BLACK FLAG war, habe ich nicht viele komplette Songs beigesteuert ... Ich habe einige Texte geschrieben, die ich Mike überlassen habe und die zu MINUTEMEN-Stücken wurden. Aber es war nicht so kreativ wie jetzt, da ich die meisten meiner Songs alleine in meinem Zimmer schreibe.

Was ist deine Definition von Musik?
Eine schwierige Frage, um es vorsichtig auszudrücken. Für mich ist es ein Hörerlebnis, das mit Emotionen verbunden ist. Das braucht keine Regeln, kein Format. Nur eine Methode der Kommunikation durch Klang. Die Instrumente dienen bloß als Werkzeuge, auch damit ist alles möglich.

Wenn du auf dein musikalisches Leben zurückblickst, gibt es da ein Projekt oder eine Arbeit, die dir am meisten Spaß gemacht oder dich am meisten beschäftigt hat?
Nun, da DOS eine engagierte Übung in Bass-basierter Musik war und der Bass mein bevorzugtes Werkzeug ist, würde ich sagen DOS. Ich habe hier gelernt, wie man komponiert und Räume erschafft. Ich habe gelernt, Leerstellen mit meinen eigenen Ideen zu füllen. Ich habe gelernt, mit dem Bass Musik zu schreiben, und das hat alles andere beeinflusst, was ich gemacht habe und immer noch mache.

Was denkst du, wie du mit deiner Musik experimentierst? Deine Projekte sind alle ziemlich unterschiedlich. Hast du jemals versucht, einen „Hit“ zu schreiben?
Mir ging es immer darum, die ideale Bassline zu schreiben, das ist für mich schon anspruchsvoll genug. Aber nein, ich habe nie versucht, etwas zu schreiben, das eine breite Masse ansprechen soll. Was das Experimentieren angeht ... Ich versuche, alle meine Gefühle in eine Line zu packen, sei es textlich oder musikalisch. Dann erweitere ich sie und manchmal wird daraus ein Stück – und manchmal nicht. Aber es ist immer etwas, das mir hilft, mein Leben zu verarbeiten. Dass ich in so verschiedenen Projekten war, hat sich einfach ergeben. Ich war aber schon lange nicht mehr Teil einer Band. Ich beteilige mich gern an Aufnahmen, wenn mich jemand bittet. Ich mag die Herausforderung, mich in die Vision eines anderen Menschen einzufügen.

Sind Texte und Song- oder Albumtitel genauso wichtig wie die Musik?
Das glaube ich nicht. Texte und Songtitel sind oft der einfachste Weg, um etwas auszusagen. Emotionen mit Hilfe von Musik einzufangen, ist eine viel schwierigere Aufgabe. Aber die Texte sind vielleicht wichtig für andere, damit sie dem auf die Spur kommen, was ich ausdrücken will. Ich habe gerade herausgefunden, dass Albumtitel wichtig sein können, damit jemand die Musik findet, die du veröffentlicht hast. Wenn jemand auf einem dieser Portale sucht, willst du ja, dass ihm dein Album auffällt.

Gibt es etwas, das du in deinem Publikum auslösen willst? Wie sollen sich die Leute fühlen, nachdem sie deine Musik gehört haben?
Ich möchte, dass sie lachen, weinen, rebellisch werden. Ich weiß auch, dass das womöglich nicht passiert. Wenn ich es aber schaffe, das leiseste Glucksen oder einen Moment der Traurigkeit zu erzeugen mit dem, was ich sage, dann ist das ... mega. Wir sind alle nur in unserer eigenen Welt gefangen. Es ist beinahe zu viel erwartet, dass sich jemand anders mit meinen Erfahrungen identifizieren kann. Aber genau dafür ist es da, das zu versuchen. Ich möchte also, dass sie durchatmen und versuchen, etwas zu spüren, und sehen, ob sie eine Verbindung herstellen können.

Gibt es bestimmten Personen, die du mit deiner Musik erreichen willst?
Vielleicht einen Bassisten, der nicht weiß, wie er sich ausdrücken soll ... Vielleicht jemanden, der einen Verlust erlebt oder Ärger hat und sich mit den Gefühlen identifizieren kann ... Vielleicht jemanden, der eine Aufmunterung braucht und sich an meinem Sarkasmus erfreut, aber niemand Bestimmtes.

Ist Südkalifornien für dich der beste Ort, um kreativ zu arbeiten? Ich weiß, dass du eine Zeit lang an der Ostküste studiert hast.
Ich habe nach dem College ein Jahr lang wieder in meiner Geburtsstadt New Haven gelebt und hatte dort auch meinen ersten Job. Damals machte ich ausschließlich Musik in meinem Zimmer auf meinem Vierspur-Kassettenrekorder. Zuerst für die Gute-Nacht-Geschichten für meine Neffen in L.A., damit sie mich nicht vergessen. Dann schickten Mike und ich uns Kassetten hin und her, und auf diese Weise entstand, während ich dort lebte, unsere erste DOS-Platte. Nur für die Aufnahmen bin nach L.A. geflogen. Da ich bevorzugt zu Hause schreibe und aufnehme – meine Soloplatte ist im Grunde mit einer virtuellen Band entstanden, bis Paul und ich sie abgemischt und fertiggestellt haben –, denke ich, dass ich überall kreativ sein könnte. Aber meine Kontakte hier haben es mir ermöglicht, eine Band zusammenzustellen, mit der ich live auftreten konnte in den letzten Jahren. Ich kenne die Leute hier einfach. Allerdings gibt es in L.A. eine Menge Konzerte, also hat das Publikum eine große Auswahl. Es wäre vielleicht einfacher, Leute dazu zu bringen, zu deinem Gig zu kommen, wenn es nicht zwanzig Alternativen gäbe!

Du hast in einem Interview mal gesagt, wenn du etwas während deiner Zeit bei BLACK FLAG gelernt hast, dann Geduld und Ausdauer. Heute hast du einen stressigen Job im Dialogschnitt beim Film. Hat etwas von dem, was du damals erlebt hast, dein späteres Berufsleben beeinflusst? Hat dir das stundenlange Hocken im Van mit der Band auf Tour geholfen, in anderen Bereichen deines Lebens zurechtzukommen?
Alle meine Erfahrungen haben mich weitergebracht. Leider sind es rückblickend vor allem meine Misserfolge und Unzulänglichkeiten, aus denen ich etwas lernen konnte. Ich musste erst in so vielen zwischenmenschlichen Interaktionen scheitern, um die grundlegendsten sozialen Kompetenzen zu erwerben, aber ich habe es geschafft. Sicherlich habe ich schon sehr früh bei BLACK FLAG gelernt, dass das Einzige, was hilft, Ausdauer ist. Nur wenn man alles gibt, kann man etwas erreichen. Aber auch, dass technische Fähigkeiten soziale Schwächen nicht wirklich wettmachen können. Daran arbeite ich immer noch sehr hart, denn es ist mir immer leichter gefallen, meine technischen Skills zu verbessern als meine sozialen.

In dem Wort Ausdauer [endurance] steckt das Verb ertragen [endure]. Wo wir gerade von Dingen sprechen, die du ertragen musstest: Gab es BLACK FLAG-Songs, mit denen du dich besonders schwer getan hast? War es seltsam, auf der Bühne zu stehen, als „Slip It In“ gespielt wurde?
Das klingt so, als ob du danach fragst, ob es emotional hart war, nicht physisch. Das Spielen der meisten Songs war körperlich sehr anstrengend. Die meiste Zeit musste ich kämpfen, um zu überleben, und habe versucht, durchzuhalten und gut zu spielen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sich die Songs negativ auf mich auswirkten. Ich habe mich mehr auf die Musik als auf die Texte konzentriert und „Slip it in“ hat einen tollen Groove. Wenn du „My war“ spielst, willst du irgendwann Leute umbringen. Und bei „Nothing left inside“ möchtest du dir am liebsten dein eigenes Herz aus der Brust reißen.

Du hast sicher eine Menge Rickenbacker-Bässe gespielt. Hast du einen Endorsement-Vertrag von ihnen oder ein Signature-Modell?
Ha! Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie ein Endorsement! Ich habe nur darum mit einem Rickenbacker angefangen, weil ein Typ mir einen ausgeliehen hat, als ich anfing, Bass zu spielen ... und ihn mir schließlich für einen guten Preis überließ. Im Laufe der Jahre habe ich festgestellt, dass sie klanglich durchaus ihre Probleme haben. Ich musste erst den Tonabnehmer, die Brücke und so weiter anpassen ... Bei Fender-Bässen hatte ich immer das Gefühl, dass der Hals für meine Hände zu breit ist. Ich wollte schon immer einen blauen Bass haben, nachdem ich mal einen auf der Bühne gesehen hatte. Nachdem mein blassgelber Bass gestohlen wurde, kaufte ich mir einen blauen. Dann hat Mike einen Custom-Bass für mich anfertigen lassen, bei dem der Hals wie ein Rickenbacker gebaut ist und durch den Korpus geht. Aber die Kopfplatte ist eher wie ein Telecaster gestaltet. Es ist also ein einzigartiges Design. Es ist mein erster Signature-Bass. Die Marke heißt Garz, dahinter steckt ein Kerl namens Mike Garza.

Der Bass als Instrument steht selten im Vordergrund.
Die Leute sehen den Bass immer noch als Hintergrundinstrument. Ich bin mir nicht sicher, ob sich das ändern wird. Es wird Leute geben, die ihn in den Mittelpunkt stellen, wie Mike und ich, aber das wird wahrscheinlich die Ausnahme bleiben. Wer weiß, was zukünftig in Hinsicht auf Instrumente passieren wird? Vielleicht wird Musik eines Tages nur noch mit dem Computer gemacht ... Mir bedeutet der Bass alles.

Du hast unlängst ein neues Album mit dem Titel „Kira“ veröffentlicht. Ich habe dein Video zu „The ghosts“ gesehen, konnte aber keine anderen finden. Drehst du gerne Videos, sind weitere geplant? Außerdem habe ich gehört, dass du wieder ins Studio gehst. Wird es das von deinem Bruder sein? Hast du vor, auf Tour zu gehen oder sogar nach Europa zu kommen?
Ich habe mehrere Videos veröffentlicht. Auf dem Kitten Robot-YouTube-Kanal gibt es ein Lyric-Video und ein komplettes Live-Set von einem Auftritt in San Pedro ... Die Produktion des Musikvideos war ein schwieriger Prozess. Ich habe mir ein „Design“ überlegt und musste dann feststellen, dass ich kein besonderes Talent dafür mitbringe. Ich habe gerade mit dem Aufnehmen einiger Basic Tracks für eine potenzielle nächste Platte begonnen. Der Schlagzeuger, mit dem ich spiele, Dave Bach, hat auch ein Studio, also haben wir dort mit ein paar Sachen angefangen. Ich bin mir aber sicher, dass auch ein Teil bei meinem Bruder im Kitten Robot Studio entstehen wird, da er auch auf dem Album spielen wird. Auf Tour zu gehen, ist im Moment eher unwahrscheinlich. Das ist einer der Gründe, warum ich das Live-Video machen wollte, damit die Leute einen Eindruck davon bekommen können, wie Kira solo live ist.

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Diskografie
Solo: „Kira“ (CD, Kitten Robot, 2021/LP, Last Exit Music. 2023) • TWISTED ROOTS (with Pat Smear): „Pretentiawhat“ (7“, Tim Ferris, 1981) • BLACK FLAG: „Family Man“ (LP, SST, 1984) • „Slip It In“ (LP, SST, 1984) • „Live ’84“ (LP, SST, 1984) • „Loose Nut“ (LP, SST, 1985) • „The Process Of Weeding Out“ (12“, SST, 1985) • „In My Head“ (LP, SST, 1985) • „Who’s Got The 10 1/2?“ (LP, SST, 1986) • DOS (with Mike Watt): „Dos“ (LP, New Alliance, 1986) • „Numero Dos“ (12“, New Alliance, 1989) • „Justamente Tres“ (CD, Kill Rock Stars, 1996) • „Dos Y Dos“ (CD/LP, Org/Clenched Wrench, 2011) MINUTEFLAG: „s/t“ (7“, SST, 1986)