Es mag daran liegen, dass sie aus dem beschaulichen Aosta im äußersten Nordwesten Italiens kamen, und nicht aus einer Metropole wie Turin oder Mailand, aber KINA waren schon immer anders. NEGAZIONE und UPSET NOISE verabschiedeten sich in Richtung Crossover, KINA blieben, wie sie waren, das Trio spielte immer am Limit seiner musikalischen Fähigkeiten, machte keinerlei Kompromisse. Ende der 80er bis Anfang der 90er hatten wir relativ viel mit einander zu tun. Wir tauschten Platten für unsere Bauchläden, organisierten Konzerte und Touren für einander, besuchten uns gegenseitig. Dann riss der Kontakt ab, für Jahrzehnte, irgendwann fand man sich wieder, dank Social Media. Und so kam es zu diesem Interview mit Sergio Milani von KINA über gestern, heute und morgen.
Dass es auch ein Wiedersehen gab, das es in sich hatte, verdanke ich dem westfälischen Städtchen Lemgo. Sergio verwechselte es kurzfristig mit einen Ort in Italien und dachte, ich käme dort wieder auf Tour. Das musste ich leider verneinen, meinte aber, wenn er jemanden kenne, der vier oder fünf Auftritte klarmachen könnte, würde ich Gewehr bei Fuß stehen. Er antwortete, er würde sich mal umhören, einen Tag später hatte ich das Angebot, mit ihm und seiner neuen Band OMBRA auf Tour zu gehen, dabei würden sie gleichzeitig die Rolle als meine Backing-Band übernehmen.
Es wurde eine Woche, die ich so schnell nicht wieder vergessen werde. Mein Gepäck verschwand gleich auf dem Hinweg, unser Schlagzeuger ging uns in Imperia verloren und tauchte erst 24 Stunden später wieder auf, Sergio selbst vergaß auf der Suche nach ihm die Hausnummer der Bandwohnung und musste auf einer Parkbank übernachten. In Turin schlossen wir uns in dem Zimmer, in dem wir übernachten sollten, versehentlich ein und kamen nicht wieder raus, unser Akkordeonspieler hätte sich um ein Haar in die Hosen gemacht. Von den Lachkrämpfen hatte ich tagelang Muskelkater und be all dem lernte ich Sergio – wieder – besser kennen und stellte fest, dass er wirklich sehr viel zu sagen hat.
Früher mag es KINA-Bassist Gianpiero gewesen sein , der viel von der Kommunikation außerhalb Italiens übernommen hatte, wegen seiner besseren Englischkenntnisse. Aber jetzt, während der Autofahrten, bei dem Herumhängen vor dem Auftritt, mit Belle Gassi gehen, beim Frühstück und am Day Off oder beim gegenseitigen Anschreien, während ich verzweifelt versuche, hinten auf Sergios Roller eine gute Figur zu machen – da merkte ich, dass da eine Geschichte ist, die erzählt werden will. Den Aufhänger lieferte schließlich „Se Ho Vinto Se Ho Perso“, ein neuer Dokumentarfilm über KINA, aufgrund dessen die Band 2019 noch mal auf Tour durch Italien ging und im November die womöglich letzten beiden Konzerte als KINA in Göttingen und Berlin spielte. Der Film lohnt sich sehr, vor allem wenn man Italienisch versteht oder die Version mit Untertiteln ausfindig machen kann. Das Interview führte ich mit Sergio im Februar 2020.
Sergio, bitte stell dich uns kurz vor.[/b]
Ich komme aus Aosta, einer Kleinstadt in den Bergen im Nordwesten Italiens. Zum Hardcore kam ich via Punkrock. Von 1982 bis 1997 war ich Schlagzeuger und Sänger bei KINA. Danach gründete ich FRONTIERA zusammen mit dem KINA-Gitarristen und -Sänger Alberto und Roberto, einem jungen Architektur-Studenten. Das machten wir bis 2012. Nebenbei spielte ich von 1994 bis 2000 noch in der Punkband SUPERJACK. Ich organisierte Tourneen und Konzerte, als KINA betrieben wir dazu noch mit Blu Bus zwischen 1984 und 1998 eines der besten und aktivsten Indielabels Italiens. 2013 gründete ich die Folkpunk-Band OMBRA. Neben meiner Leidenschaft für Musik interessiere ich mich fürs Bergsteigen, Kung-Fu und Geschichte. Seit jeher versuche ich, meine Liebe für diese Aktivitäten mit meinen libertären Ansichten in Einklang zu bringen. Mir war es immer wichtig, meine Gefühle und das, was ich aus Erfahrungen gelernt habe, durch mein Beispiel und mittels der Songs, die ich spiele und singe an andere weiterzuvermitteln. Und ich habe eine große, weiße Hündin namens Belle, mit der ich in die Berge gehe.
Wie kam der Dokumentarfilm zustande? Es muss ein ziemlich emotionaler Rückblick gewesen sein nach all den Jahren, oder?
Der Film war die Idee des Regisseurs Gianluca Rossi, der ein guter Freund von uns ist. Er sagte: „Ich möchte gerne ein Doku über KINA machen, aber nicht bloß die Geschichte der ‚legendären‘ Band. Ich möchte zeigen, wer ihr seid, wie ihr heute denkt und lebt.“ Der Film heißt „Se Ho Vinto, Se Ho Perso“, und der Soundtrack besteht zum größten Teil aus diesem Album von 1989. Wir kennen Gianluca sowie die Filme, die er bereits gemacht hat, seit Jahren. Er kommt aus der gleichen Szene wie wir, spielte in Punkbands, war in AJZs und besetzten Häusern aktiv. Er war genau der Richtige, um diesen Film zu machen. Er hat uns zwei Jahre lang begleitet, bei unseren Jobs, während der Freizeit, brachte uns zum Reden, half uns dabei, uns zu erinnern und beim Sichten von alten Filmaufnahmen, die wir während unserer Tourneen gemacht hatten. Am Ende der Dreharbeiten schlug er vor, für das Filmende und den Abspann einen Song live neu aufzunehmen. Also nahmen wir „Troppo lontano“ neu auf. Der Clip wurde auch für einen Werbetrailer verwendet, der sehr viel positive Resonanz im Netz bekam. Es hat uns gezeigt, dass es immer noch sehr viel Interesse an KINA gibt. Als wir den fertigen Film gesehen haben, war klar, dass Gianluca einen sehr guten Job gemacht hatte. Vom ausgewählten Bildmaterial über die Musik bis zu den Interviewsequenzen. Kurz gesagt, der Film hat einen schönen Rhythmus und vermeidet dabei, in „Revival“-Nostalgie abzudriften. Im Zuge dessen habe ich vielleicht zum ersten Mal wirklich verstanden, was KINA für mich bedeutete und wie wichtig diese Erfahrungen auch in meinem späteren Leben noch waren. Komisch, oder?
KINA, FRONTIERA und OMBRA – was gibt es für Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei den drei Projekten?
Ich glaube, es gibt mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Gianpiero und ich schrieben immer die Texte bei KINA, Alberto und ich die Musik, trotz einiger Unterschiede kann man, glaube ich, sagen, dass FRONTIERA die logische Weiterentwicklung von KINA waren. Außerdem spielten wir immer noch einige KINA-Songs bei FRONTIERA, auch wenn wir versuchten, uns abzusetzen beziehungsweise weiterzuentwickeln, trotzdem gab es einen roten Faden, der uns daran erinnerte, wo wir herkamen. Bei OMBRA versuche ich etwas gänzlich anderes. Ich singe und spiele Banjo, der Rest der Band spielt Akkordeon, elektrische und akustische Gitarren, akustischen Bass, Schlagzeug, manchmal kommen noch Geige und Whistle dazu. Songs dafür zu schreiben, ist komplizierter, Proben und Konzerte klarmachen ebenfalls. Aber am Ende des Tages kommen die Einflüsse und die Einstellung aus der jahrzehntelangen Arbeit mit KINA und FRONTIERA immer durch, und das ist auch gut so. Wenn ich allerdings auf Konzertflyern „OMBRA, ex-KINA“ lese, empfinde ich das als ein wenig übertrieben.
Du hast erzählt, wie frustriert du warst, weil FRONTIERA nie die gleiche Anerkennung bekamen wie KINA – obwohl das FRONTIERA-Line-up mit zwei Gründungsmitgliedern von KINA am Ende länger als KINA selbst existierte.
Genau! Vielleicht gelang es uns nie, etwas völlig Eigenständiges und Neues zu machen und der Schatten von KINA verfolgte uns deswegen. Veranstalter fragten oft nach KINA-Songs, die eine oder andere Reunion-Show gab es auch. Aber es waren sporadische Events. FRONTIERA war was anderes, wenn auch nicht so sehr, wie wir dachten. KINA waren wir jedoch auch nicht ... Vielleicht kamen die Leute zu FRONTIERA-Konzerten, um KINA zu sehen, und obwohl der Sound der Gleiche war, wollten die Leute lieber die KINA-Songs, die sie kannten – und hatten wenig Interesse an neuen Stücken.
Warum OMBRA und Folkpunk?
Man sagt ja Schlagzeugern nach, unter einem unterdrücktes Protagonisten Syndrom zu leiden, weil sie immer hinten sind und von niemanden gesehen werden, haha, vielleicht ist da was Wahres dran. Bei OMBRA verließ ich mein Schlagzeug und ging mit meinem Banjo nach vorne. Allerdings ist das Banjo ein kreisförmiges Instrument aus Metall, Fell und Holz, es vibriert und wird mit Schrauben zusammengehalten. Fast wie eine Trommel! Ich komme aus einer Familie von Musikern und Musikliebhabern, meine Eltern und Großeltern hatten alle einen Bezug zu Musik, mein Bruder unterrichtet Gitarre am Konservatorium. Ich lernte in einer lokalen Band Schlagzeug spielen, war aber das schwarze Schaf der Familie, da ich zuerst Beat hörte, später dann Punk und Hardcore. Aber ich mochte die traditionelle Musik der Alpenregion immer. Ich denke, es war auch immer ein präsenter Einfluss in der Musik von KINA. Marco von NEGAZIONE nannte uns mal die „HÜSKER DÜ der Berge“ und für eine Weile war das fast so etwas wie der Spitzname von KINA. Jemand anderes meinte, KINA seien eine Hardcore-Band, die Singer/Songwriter-Lieder mit Folk-Seele spielen. Bei OMBRA ist der Folk-Anteil jetzt natürlich deutlicher, vermutlich weil wir traditionelle Instrumente verwenden, wir sehen uns aber nicht als Teil der traditionellen Folk-Szene. Wir kommen alle vom Punk, beziehen uns auf linke, libertäre Zusammenhänge. Wir spielen auf Partys, in Clubs, AJZs und besetzten Häuser. Wir teilen uns die Bühne mit Singer/Songwritern, Folkmusikern und manchmal auch mit Punk- und Hardcore-Bands.
Was bedeutet das Genre Folkpunk für dich?
Für mich hat der Begriff wenig Bedeutung und ich versuche, diese Bezeichnung so wenig wie möglich zu verwenden. Aber Menschen, die Musik hören, brauchen immer Schubladen, und mit „Folkpunk“ gebe ich ihnen einen triviale Hilfestellung – nur: ich habe mich nicht verändert.
Du bist 2003 im Gebirge verunglückt. Ich hoffe, die Frage ist nicht zu persönlich, aber verändert so eine Nahtoderfahrung die Art, wie man sein Leben angeht?
Ich und einige Freunde, alles Bergführer oder Bergretter, wurden beim Klettern auf den Mont Fallère nahe Aosta von einer Lawine mitgerissen. Wir waren 3.000 Meter über den Meeresspiegel und fast am Gipfel angelangt. Es passierte an einer sehr ungünstigen Stelle und ich dachte, wir werden alle sterben. Wir stürzten 700 Meter in die Tiefe. Es drang gefrorener Staub in Nase, Mund, Kehle und Lungen und ich bekam keine Luft. Ich prallte immer wieder gegen Felsen und war mir sicher, dass die Lawine uns entweder ersticken würde oder jeder Knochen im Körper zertrümmern, dann aber spürte ich, dass ich immer noch am Leben war, versuchte, meinen Kopf zu schützen, und fing an zu denken: Ich schaffe das! Endlich kam die Lawine zum Stillstand. Ich wusste, dass der Schnee sofort hart wie Zement wird und ich versuchen musste, mich so schnell wie möglich zu befreien. Ich schaffte es auch, den Teil, der mich bedeckte, fast wegzukriegen, und sagte zu mir selbst, jetzt hoch, um die anderen zu suchen, konnte aber nicht aufstehen, weil mein Arm im gefrorenen Schnee feststeckte. Ich spuckte Blut, versuchte, die anderen zu rufen, aber niemand antwortete. Ich dachte, sie wären alle tot. Zwei Freunde aus meinem Team, die weiter voraus gewesen waren, befreiten mich nach zwanzig Minuten, da kam auch schon der erste Helikopter und hat mich abtransportiert. Meine Körpertemperatur war auf 27 Grad gesunken, noch weniger und es geht los mit Frostschäden. Rechts waren alle Rippen gebrochen, vier Stellen in meiner Wirbelsäule waren angebrochen, ein Lungenflügel war punktiert durch eine Rippe. Nur fünf meiner Freunde traf ich wieder im Krankenhaus, die anderen vier waren tot ...
Was hat sich danach in deinem Leben verändert?
Ich habe gelernt, dass wahre Freunde unentbehrlich sind, und dass du, wenn dir etwas wichtig ist, darum kämpfen musst, selbst wenn alles verloren zu sein scheint. Denn wenn du nicht reagierst, bist du tot. Ich glaube nicht, dass wir an dem Tag Fehler machten, wir waren alle erfahrene Bergsteiger, aber etwas ging schief. Dinge passieren, weil sie passieren müssen, weil wir unserer Leidenschaft folgen, und das ist die richtige Art zu leben. Wenn wir nicht täglich die Kraft in uns spüren würden, die uns antreibt weiterzumachen, wenn wir kapitulieren würden gegenüber dem Konformismus und ein eintöniges Leben führen, anstatt zu versuchen, unsere Träume zu erfüllen, dann wären wir keine richtigen Menschen. Aber manches liegt außerhalb unserer Kontrolle, Wissen, Respekt für die Natur, die wir versuchen zu entdecken und kennen zu lernen. Das Leben in den Bergen birgt einige nicht kalkulierbare Risiken – und der Berg macht keinen Unterschied, ob du ein Anfänger bist oder ein erfahrener Bergsteiger. Ich fühle keine Schuld in mir. Wir haben alle das getan, was wir tun sollten, bestmöglich und mit der richtigen Einstellung. Der Berg aber auch! Um ehrlich zu sein, die Geschichte so zu erzählen, als ob es ein großes Abenteuer war, fühlt sich ein wenig komisch an. Es gibt einen leeren Raum dadurch, dass meine Freunde nicht mehr hier sind, ich dagegen schon, und ich darf überlegen, warum die und nicht ich? Vielleicht kämpften sie nicht genug, vielleicht hatten sie einfach Pech, vielleicht beides.
Du gehst immer noch Klettern, ist das eine Frage von „wieder rauf aufs Pferdchen“, weil die Angst sonst Oberhand gewinnt?
Nach der Lawine bin ich später wieder hoch in die Berge, und die schönste Tour war die mit Giancarlo, Luigi und Alberto, die alle mit dabei waren am Mont Fallère im Januar, 2003. Wir sind zusammen auf das Matterhorn, die Grandes Jorasses, den Dente del Gigante, Dent d’Hérens, Grand Combin und viele andere geklettert. Das sind alles anspruchsvolle Berge. Und wenn du schwierige Dinge tust, schwingt auch immer etwas Furcht mit, das war schon so vor der Lawine. Aber es ist gut, weil es dir dabei hilft, die Gefahren nicht zu unterschätzen. Die Berge sind immer noch eine große Leidenschaft von mir, ich bin aber nicht mehr so oft oben. Ich habe in der Zwischenzeit mein Studium beendet, dann kamen meine beiden Töchter zur Welt und so hatte ich immer weniger Zeit.
Gianpiero hat ein Buch über KINA geschrieben, kannst du ein wenig darüber erzählen für diejenigen von uns, die kein Italienisch verstehen?
Gianpiero und Stephania, eine Freundin der Band, schrieben das Buch „Come macchine impazzite: Il doppio sparo dei Kina“. Dabei hatte Stephania die Idee zuerst, beide beschreiben Abschnitte aus ihrem jeweiligen Leben und nehmen dabei Bezug auf die Band. Gianpiero erzählt im Prinzip 15 Jahre seines Lebens durch die Geschichte der Band, quasi ein Was, Wo und Warum in Tagebuchform. Stephania war noch sehr jung, als es die Band gab, sie kannte uns eher von Postern an der Wand und lernte uns erst kennen, nachdem wir uns aufgelöst hatten.
Du selbst wiederum hast ein Buch über deinen Vater und seine Jahre als Soldat im Zweiten Weltkrieg geschrieben. Was waren die Gründe für das Buch?
Es gab immer viele Missverständnisse zwischen meinem Vater und mir. Er kämpfte gegen Titos Partisanen in Montenegro und darüber gab es die größten Diskussionen. Ich kann mich zum Beispiel daran erinnern, dass 1985 anlässlich des vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes, die Veteranen, die gekämpft hatten, Medaillen überreicht bekommen sollten. An dem Tag stand mein Vater auf dem Rathausplatz, um seine Auszeichnung zu erhalten, während drumherum dagegen demonstriert wurde. Und ich war bei der Gegendemo. Erst um 1992 herum, als ich selber schon dreißig Jahre alt war, begann ich über die unterschiedlichen Lebensumstände zu reflektieren – ich und er jeweils als Zwanzigjährige. Ich spielte in einer Hardcore-Band, redete von Anarchie, davon, die Macht des Systems zu brechen, ich konnte selber entscheiden, wohin ich gehe und was ich mache. Diese Wahl hatte mein Vater in dem Alter nicht, sondern er wurde in den Krieg geschickt, zuerst gegen die Franzosen und danach gegen die Partisanen in Jugoslawien. Er hat die Gräueltaten des Krieges erlebt und wurde nach dem Waffenstillstand 1943 von der Wehrmacht gefangengenommen und verbrachte die nächsten zwei Jahre als Zwangsarbeiter in Deutschland. Er verließ sein Zuhause mit zwanzig und kam mit fünfundzwanzig zurück. Und ich musste feststellen, dass ich sehr wenig über seine Lebensgeschichte wusste. Also fing ich an, ihm sehr viele Fragen zu stellen, um alles herauszufinden, was er mir bis dahin nicht erzählt hatte. Seine Geschichte war die über eine Generation von Jungs, aufgewachsen in einer Diktatur, in der nur die wenigsten es schafften, sich einen kritischen Blickwinkel zu bewahren. Mein Vater war wie fast alle jungen Männer aus unserer Region Teil der Alpenjäger. Dort gab es nur wenige Faschisten, keine Fanatiker und generell hassten sie den Krieg – wurden aber rausgeschickt, um furchtbare Dinge zu tun. Überzeugt davon, dass sie nicht rebellieren dürften, denn sie mussten ihre Pflicht für das Vaterland tun. Das Buch zu schreiben war, als ob ich mit ihm Frieden schließen würde.
Dein Vater lebte leider nicht lange genug, um das fertige Buch lesen zu können, aber ein ehemaliger Kamerad von ihm nahm mit dir Kontakt auf. Zuerst in der Annahme dein Vater hätte es geschrieben, nur um herauszufinden, dass es sich um seinen Sohn handelt. Wie war es, jemanden aus der Vergangenheit deines Vaters zu treffen beziehungsweise mit ihm zu korrespondieren?
Ich habe lange gebraucht, mich zu entscheiden, ob ich das Buch veröffentlichen möchte. Es war eine Zeit, wo die rechten Parteien in Italien wieder im Aufwind waren und ich hatte Angst, dass die Erinnerungen eines Soldaten, der gegen die kommunistischen Partisanen gekämpft hatte, missverstanden oder gar instrumentalisiert werden könnte. Mein Vater starb im Jahr 2000 an Krebs, das Buch erschien 2003. Es wurde sehr gut angenommen, sogar von Leute aus der Hardcore-Szene, deren Väter oder Onkel Ähnliches durchlebt hatten. Damit hatte ich nicht gerechnet. Eines Tages bekam ich dann einen Brief von einem alten Mann, der fragte, ob er ein Exemplar bekommen könnte. Er schrieb so etwas wie: „Vielleicht sind wir uns nie begegnet, aber wir waren zusammen bei den Alpenjägern des Aosta-Bataillons in Montenegro. Ich war in der 41. Kompanie ...“ Du kannst dir sicherlich vorstellen, wie überrascht ich war! Ich klärte das Missverständnis auf und wir fingen an, uns zu schreiben. Später besuchte ich ihn in dem Tal, wo er lebte, ein wunderbarer Mensch. Er hatte zwei Freunde, die ebenfalls im Aosta-Bataillon gewesen waren und in Montenegro gekämpft hatten. Auch sie waren wie mein Vater von den Deutschen verhaftet worden, wurden aber nach Serbien in ein Lager geschickt. Im März 1944 gelang ihnen die Flucht und sie schlossen sich einer Partisanen-Brigade an, dort blieben sie bis zum Kriegsende. Eine unglaubliche Geschichte. Sie waren keine Kommunisten, wurden sie auch nie, aber man sah ihnen an, wie stolz sie darauf waren, Teil der jugoslawischen Befreiungsarmee gewesen zu sein und gemeinsam gegen die SS-Division „Prinz Eugen“ und die deutsche 1. Gebirgs-Division zu kämpfen. Später fand ich heraus, dass sich nach dem Waffenstillstand von 1943 mehr als 200 Alpenjäger aus dem Aostatal und mit ihnen weitere 20.000 italienische Soldaten den jugoslawischen Partisanen angeschlossen hatten. Wirklich unglaublich.
Reden wir wieder ein bisschen über KINA. Ende 2019 kamt ihr noch mal für zwei Konzerte nach Deutschland. Ich weiß, es war nur als ein einmaliges Ding gedacht, aber werdet ihr tatsächlich in der Lage sein, es dabei zu belassen? Es scheint, als ob es ein enormes Interesse an KINA gibt, vor allem in Italien?
Der Dokumentarfilm schuf den Rahmen, um noch mal auf eine Tour zu gehen, wo wir den Film vor jedem Konzert zeigten. Wir haben alle sehr hart dafür gearbeitet, sowohl KINA als auch die ganzen Veranstalter. Alles lief super und wir bekamen ein wunderbares Feedback vom Publikum. Der Plan war aber, dass nach der Tour Schluss sein würde, und dabei sind wir auch geblieben. Es wird keine weiteren Auftritte von KINA geben. Die Konzerte in Göttingen und Berlin waren die letzten. Diese beiden Städte waren immer etwas Besonderes für uns und es war schön, das Ganze dort zu beenden, für die Band und die Leute, die kamen, um uns zu sehen.
1984 waren KINA das erste Mal in Berlin, gleichzeitig mit den legendären „Wild Bunch“-Touren von NEGAZIONE und DECLINO. Wenn du die Stadt von 1984 mit der 2019 vergleichst, was ist eine der weniger offensichtlichen Veränderungen und Beobachtungen, die du gemacht hast?
Wir kamen im August 1984 nach Berlin. Wir hatten zwei Konzerte, im Kob und Sputnix, das heutige Clash. Michele, der damalige NEGAZIONE-Schlagzeuger, war mit uns gekommen. Er war auf dem Weg nach Bielefeld, wo DECLINO und NEGAZIONE auf ihn warteten, damit sie weiterfahren konnten zu den zweiten Chaostagen nach Hannover. KINA und die „Wild Bunch“-Jungs kamen also fast gleichzeitig in Deutschland an. Als wir das erste Mal die Grenze nach West-Berlin überquerten wirkte es wie eine Kriegszone. Panzer, Stacheldraht, grimmig guckende VoPos, die mit Maschinenpistolen auf uns zeigten und uns herumkommandierten. In der Stadt angekommen, sahen wir den Bahnhof Zoo mit den Lichtern, neue Gebäude und natürlich Kreuzberg, an der Mauer klebend. Bombensplitter und Einschusslöcher immer noch sichtbar an den Häusern, klaffende Löcher, wo früher Gebäude standen, überall Spuren von der Schlacht im April und Mai 1945. Wir trafen aber auch eine aktive und gastfreundliche Gemeinschaft, die Straßen waren voll mit fliegenden Händlern, die Essen, Haushaltsgeräte, Schallplatten, Armeeklamotten und Secondhand-Gegenstände verkauften. Alte Damen schimpften mit den Punks, wenn diese bei Rot über die Straßen gingen. Es gab schnauzbärtige Biker mit MOTÖRHEAD hinten auf der Jacke, Straßenpunks mit ihren Hunden, die einem wegen Kleingeld anschnorrten. Wir klauten in den Supermärkten, fuhren U-Bahn, ohne zu zahlen, nachts zogen wir von einem Haus ins nächste. Wir waren fasziniert und beeindruckt von der unglaublichen Aktivität, die von verschiedenen linken Gruppierungen ausgingen, alle versuchten sie, die Welt und ihre Lebensumstände zu verbessern. Auch indem sie Konzerte und Kulturveranstaltungen organisierten. Wir wohnten in der Waldemarstraße und in der Nähe gab es einen Kinderbauernhof mit Pferden, Schafen, Hühnern und Schweinen, einfach damit die Kinder die Tiere kennen lernen konnten. Andere Gruppen verteilten Essen an die Obdachlosen und versuchten, den grauen Häusern etwas mehr Farbe zu verleihen. Zum Beispiel hatte eine Gruppe von Bikern ein Eckhaus besetzt und es mit einer riesigen Wandmalerei von Lemmy auf einem Motorrad dekoriert. 2019 hatten wir nicht so viel Zeit, uns die Stadt anzuschauen, wissen aber, dass Berlin sich sehr verändert hat in den letzten 35 Jahren. Wir sahen die Veränderungen jedes Mal, wenn wir in die Stadt zurückkamen. Was mich in Januar, 1990 am meisten beeindruckte, so dass mir fast schwindelig wurde, und das tut es heute immer noch, war beim Kottbusser Tor aus der U-Bahn hochzukommen und zu sehen, dass die Adalbertstraße sich scheinbar endlos erstreckt, wo die Mauer sie früher gleich hinter der Walde einfach abschnitt. Alberto zog 1986 für ein Jahr nach Berlin. Er wohnte in der Kohlfurter Straße, eine großartige Gelegenheit für uns, ihn immer wieder zu besuchen.
Angesichts eurer Live-Videos sowie unserer gemeinsamen Shows mit OMBRA 2019 scheint es offensichtlich zu sein, dass Songs wie „Troppo lontano“, „Questi anni“ oder euer Cover von Peter Gabriels „Biko“ nichts an Relevanz eingebüßt haben in der italienischen Szene und darüber hinaus. „Questi anni“ ist fast so etwas wie ein Kampflied für die italienischen Punks. Sicherlich ein Grund, stolz zu sein. Was ist das für ein Gefühl, wenn ein Lied für so viele Menschen eine so große Bedeutung hat, von denen viele KINA nie live erleben konnten, als es die Band ursprünglich gab?
Es gibt tatsächlich Songs, die erstaunlicherweise zum Kulturerbe von Generationen von Punks geworden sind. Es beeindruckt mich sehr, macht wohl aber klar, dass KINA wussten, wie wir unsere Songs für die Kids rüberbringen. Es war unglaublich zu sehen, dass alle „Questi anni“ mitsangen, auch die jüngsten, die nicht einmal geboren waren, als wir uns 1997 auflösten. Während der Tour erlebten wir eine vitale und dynamische Szene und Kids, die mit großem Enthusiasmus dabei sind. Das lässt auf eine positive Zukunft für sie und die Szene hoffen.
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