Spätestens seit HIM oder den LENINGRAD COWBOYS ist Finnland ja auch für Otto Normalverbraucher und Rock-im-Park-Konsumenten durchaus ein Thema. Ox-Leser haben da dank den Chef-Trinkern von ELÄKELÄISET, der Mutter aller Glamrock-Kapellen, den HANOI ROCKS (übrigens seit neuestem wieder reanimiert), deren Thronfolgern FLAMING SIDEBURNS, oder KLAMYDIA ja sowieso einen Informationsvorsprung. Aber egal, ob’s nun Klassik, Jazz oder Rock’n’Roll sein soll – der finnische Sommer empfiehlt sich einfach für eine ausführliche Exkursion ins Land der Mitternachtssonne, jagt doch von Anfang Juni bis Mitte August ein hochkarätiges Festival das andere. Vollgas über fast drei Monate ist angesagt, und iiner der Höhepunkte ist dabei zweifellos Juhannus, das Mittsommerfest. Wenn dieses traditionell heftigst begossene Event dann noch mit einem größeren Festival zusammenfällt, muss man von Ausnahmezustand sprechen. Wir waren dort und haben unter Extrembedingungen recherchiert.
Gearfest
Am 19.06.02 das erste Highlight, die Zweitauflage des „Gearfest„ im Tavastia, dem Rock-Club in Helsinki. Ausgerichtet vom Gearhead Label, gibt es auf zwei Bühnen Garagerock galore. Im großen Saal, dem „Tavastia„, THEE ULTRA BIMBOOS, FLAMING SIDEBURNS und die HIVES, die Treppe runter im kleineren „Semifinal„, spielen zeitversetzt zur großen Bühne HYPNOMEN, SWEATMASTER und THE DEMONS. Knackevoll, ausverkauft und brütend heiß – ein guter Einstieg für den Festivalsommer und man darf sich auch gleich mit den Bierpreisen vertraut machen, die erheblich saftiger sind, als das Getränk selbst. Fünf Euro für eine 0,33er Patrone. Satt, aber durchaus normal hier.
Absolut herausragende Band des Abends sind die FLAMING SIDEBURNS, die ein letztes Mal mit ihrem alten Gitarristen auftreten. Sehr groß! Arschtretender, Stooges/MC5-Rock’n’Roll mit Gitarre auf Kopfhöhe, einem brillanten Sänger, Heimspielpublikum, sowie literweise Schweiß, Bier und Dezibels. Da müssen die nachfolgenden (Semi-Superstars) HIVES doch die eine oder andere Feder lassen. Zwar super-perfekt, aber die HIVES verhalten sich an diesem Abend zu den SIDEBURNS, wie 4711 zu Kerosin. Überhaupt: klarer Punktesieg für Finnland. Die zweite schwedische Band des Abends, THE DEMONS, sind überflüssigster Trash-Punkabilly. Dank der hochklassigen Auftritten der ULTRA BIMBOOS, SWEATMASTER und HYPNOMEN (die übrigens ihr neues Album auf Stupido Records dort selbst präsentierten) das „Gearfest„ unbedingt für nächstes Jahr vormerken.
Rauman Meren Juhannus
Nach einer Übernachtung in Suomenlinna/Helsinki, gibt es für unser vierköpfiges Forschungsteam einen nahtlosen Übergang zu einem der Festival-Höhepunkte des finnischen Sommers: Rauman Meren Juhannus, ein erst seit drei Jahren stattfindendes Open Air in Rauma. Einige Liter Kaffee und diverse Piirakkas später sind wir auf dem Weg dorthin.
Das Billing liest sich wie ein Who’s who der finnischen Musikszene – echte Legenden wie EPPU NORMAALI oder YÖ auf der Päälava und Jari Sillanpää und FREDERIK auf der „Tanssilava„. Allerdings auch für uns vertrauter klingende Namen wie KLAMYDIA, 22-PISTEPIRKKO, wiederum FLAMING SIDEBURNS (die diesen Sommer auf ziemlich jedem großen Festival spielen), TIMO RAUTIAINEN & TRIO NISKALAUKAUS, oder ELÄKELÄISET. Vier Bühnen, jede Menge kostenintensive Zerstreuung und einige tausend Finnen, wild entschlossen Mitsommer zu feiern. Das Wetter ist zwar seit unserer Ankunft bescheiden, aber auch das kann man sich schöntrinken. Mit viel Glück ergattern wir auf einem Campingplatz direkt gegenüber dem Festival-Gelände noch zwei Plätze für unsere Zelte. Alle anderen Übernachtungsmöglichkeiten sind hoffnungslos ausgebucht. Eigentlich hätte ich es ja besser wissen müssen... Zu Juhannus gelten eben andere Regeln. In Zukunft also rechtzeitig kümmern. Über die Bucht hören wir noch die letzten Stücke von NYLON BEAT, einer ebenso fürchterlichen wie beliebten R&B/Soul-Pop-Band. Nachdem wir THE CRASH bereits verpasst haben, erweisen sich TIMO RAUTIAINEN & TRIO NISKALAUKAUS als angenehm lärmiger Klangteppich zur Erkundung des Festival-Geländes. Wir finden vier Bühnen, die „Päälava„ (Hauptbühne, sehr groß), die „Sivulava„ (Bierzeltgröße), die „Humppalava„ (hier spielen vor einer großen Tanzfläche die echten Humppabands) und „Merska„ (der klassische finnische Tanzboden, ein rundes Gebäude für ca. 500 Personen mit kleiner Bühne; hier spielen NUR ELÄKELÄISET zwei Tage lang). Und wir finden Festivalbesucher. Bereits jetzt, am ersten Tag, Finnen sämtlicher Altersstufen in allen Stadien der Alkoholvergiftung. Wir sind beeindruckt.
Hallo Matrose, wo ist dein Kartoffelkoffer?
Der folgende Tag erweist sich für uns als musikalischer Höhepunkt. Wir vertrinken unsere Presse-Bier-Bons, sehen uns im Zelt bei strömendem Regen und kühlen 16-17 Grad THEE ULTRA BIMBOOS an, die an diesem Tag eine echte Sternstunde haben – ich würde sogar einem Joan Jett-Vergleich bemühen. Der Höhepunkt des Tages allerdings dann 22-PISTEPIRKKO. Ein Set quer durch die letzten drei Alben und dann auch noch eines das rockt! Zweifelsohne eine der ganz großen finnischen Bands. Jenseits jeden Mainstreams, abseits klassischer Rock-Klischees und trotzdem jeder Song ein kleiner Hit. Ganz erstaunlich das. Auf der Hauptbühne können wir uns dann u.a. die Teenie-Helden APULANTA (Grunge zuckt hierzulande noch) und CMX (empfehlenswerter Post-HC) zu Gemüte führen. Offenbar spricht sich auch bereits herum das wir aus Deutschland sind. Ein gut angetrunkener junger Mann spricht uns mit den Worten „Hallo Matrose, wo ist dein Kartoffelkoffer?„ an. Wir verstehen langsam, warum dieses Land auf Platz 1 der PISA-Studie liegt.
Der Samstag steht im Zeichen eher traditioneller, finnischer Rockmusik einerseits und dem Erkennen von eigenen Fehlern andererseits. Lass nie zu Juhannus deine Schuhe vor dem Zelt stehen! Sie könnten mit einer Pissrinne verwechselt werden... Aber zurück zur Musik. Während ELÄKELÄISET die mittlerweile ständig völlig überfüllte „Merska„-Bühne mit ihrer Version von Jenkka, Polkka & Humppa versorgen, tummeln sich auf der Hauptbühne Tommi Läntinen, AGENTS, Jukka Karjalainen und Neljä Ruusua. Klingt – moderat formuliert – alles etwas altbacken. Da hilft auch nicht die Erkenntnis, dass die Headliner EPPU NORMAALI eine Legende sind und tausende Finnen aller Altersstufen vor der Bühne inbrünstig sämtliche Texte mitsingen. Da ist der alte Querkopf M.A. Numminen erheblich erfrischender. Zusammen mit Pedro Hietanen und dem eigenwilligen Joensuuer OSCAR H.O.T. QUARTETT als Backing-Band gelingt Mauri Antero die perfekt ausbalancierte Gratwanderung zwischen anarchischem Entertainment, Tango-Ernsthaftigkeit und Jazz. Tolle Show, die nicht mal von den Punkrock-Stars KLAMYDIA getoppt werden kann.
Stupido Club, Helsinki
Einige Tage später isses dann wieder so weit: Helsinki ruft! Am 26.06. eröffnet hier der Club des Stupido Records Labels. Und weil Finnland immer wieder für eine Überraschung gut ist, kommen wir in den Genuss des letzten AAVIKKO-Gigs vor deren vierwöchiger USA-Tour. Support sind die jungen BOOMHAUER aus Turku. Die drei Jungs werden derzeit auf den Festivals herumgereicht und könnten das nächste „Big Thing„ dort oben werden. Wilder Trash-Rock’n’Roll, der charmant mit einem gewissen Hinterwäldler-Image kokettiert. AAVIKKO sind an diesem Abend dann eine echte Offenbarung. Ein routiniert-souveränes und trotzdem völlig durchgeknalltes Set. Das hat nicht mehr viel mit dem Easy Listening-Sound ihres ersten Albums zu tun – das ist schweißtriefender High-Energy-Space-Trash-Rock ohne Gitarre und vor allem ohne Längen. Ein hochgradig tanzbares Inferno aus Samples, Sound-Loops, schrägen Melodien und unglaublich präzisem Schlagzeug. Der Stupido Club ist eine Veranstaltungsreihe, die jeden letzten Mittwoch im Monat in der „Bar Alahuone„ (Ecke Karamzininkatu/Mannerheimintie, gegenüber vom Parlament) gastiert und – hier brennt die Luft! Tip!
Ämy-Rock
Letzte Station unserer kulturellen Mitsommer-Studien ist Hämeenlinna. Dort findet seit 28 Jahren im idyllischen Stadtpark Ämy-Rock statt, das älteste „Umsonst & Draußen„-Festival in Finnland. Zum Nulltarif gibt es hier den besten finnischen Undergroundrock zu sehen. Wir haben besonderes Glück: bei – mal wieder – strömendem Regen spielen u.a. die finnischen Crust-Punk-Urväter RATTUS (!) und die zwar nicht ganz so legendären, aber fantastischen KOTITEOLLISUUS. Von 14.00-22.00 Uhr ein frostigste Regenwald-Party in diesem Sommer mit (natürlich) eiskaltem „Koff„-Bier im Plastikbecher. Nichts für Gourmets! Dank dem super-netten Veranstalter Mart Martiainen kommen wir sogar noch zu einem kurzen Gespräch mit Rattus-Sänger Annikki. Am späteren Abend geht es dann noch in den Clubs der Stadt weiter. Konzerte mit M.A. Numminen, CMX, OFFICE BUILDINGS und AEROFLOP... Hiermit unbedingt und wärmstens empfohlen für den Sommerurlaub 2003!
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #49 Dezember 2002/Januar/Februar 2003 und Ox