Jeder, der mit dem Vermächtnis von SST Records vertraut ist, sollte den Namen Joe Carducci schon mal gehört haben. Als A&R-Mann, Plattenproduzent und Miteigentümer des kalifornischen Labels SST beschäftigte er sich damals in Los Angeles mit Bands wie BLACK FLAG, SACCHARINE TRUST und MINUTEMEN, um nur einige zu nennen. Außerdem gründete er Thermidor Records und arbeitete eng mit THE BIRTHDAY PARTY, FLIPPER, SPK, MINUTEMEN und Al Jourgensens Prä-MINISTRY-Band SPECIAL AFFECT zusammen, während er gleichzeitig Texte für andere Musiker schrieb und sich von Zeit zu Zeit auch mit Grafik und anderen Formen der visuellen Präsentation beschäftigte.
Heute lebt er in Wyoming, USA, wo er Redoubt Press betreibt und viel Zeit mit dem Recherchieren und Schreiben von Drehbüchern verbringt, die natürlich seine größte Leidenschaft sind. In den letzten Jahren hat er zwei Sammlungen seiner Drehbücher veröffentlicht, „Western Stories“ und „Wyoming Stories“, und er ist bekannt für sein überwältigendes und umfassendes Werk „Rock and the Pop Narcotic“ (1990) sowie für „Enter Naomi: SST, L.A. and All That ...“ aus dem Jahr 2007, in dem er über seine Zeit bei SST und das Leben und den Tod der SST-Fotografin Naomi Petersen reflektiert.
Du wurdest 1955 geboren. Warst du als Kind bereits politisch aktiv beziehungsweise warst du in den frühen Siebzigern überhaupt politisch aktiv? Ich meine mich zu erinnern, irgendwo gelesen zu haben, dass du für eine Zeitung oder ein Magazin namens The Match! geschrieben hast, als du an der Universität warst ...
Ich war als Kind eher ein kleiner Klugscheißer. Ich stand auf Radiosender, die die Top 40 spielten, Garage-Rock- und British Invasion-Bands, mit den lustigsten DJs, Chicken-man, Louie Louie, Hanky Panky oder Wooly Bully, mochte das Mad-Magazin, The Three Stooges ... Auf der Highschool wurde ich ernsthafter und fing an, mich für Filme zu interessieren, ich las Bücher von Aldous Huxley, Anthony Burgess, Ira Levin, Stanley Elkin, Stanislaw Lem oder B. Traven statt der vorgegebenen Klassiker. Nachdem ich 1971 meinen Führerschein hatte, war es mir möglich, klassische oder ausländische Filme zu sehen; die damals in bestimmten Programmkinos gezeigt wurden. Nachdem ich das College nach eineinhalb Jahren an der Universität Denver verlassen hatte, zog ich 1975 nach Chicago und war wahrscheinlich einer von einem Dutzend Leuten in diesem großen alten Kino, die sich beide Teile von Eisensteins „Iwan der Schreckliche“ ansahen. Ich sah auch die meisten klassischen Kurzfilme der Stummfilmzeit im Museum of Contemporary Art. In meinen späten Teenagerjahren und frühen Zwanzigern beschäftigte ich mich mit den Grundlagen des Marxismus, aber ich bevorzugte die Anarchisten, Bakunin, Kropotkin, Goodman, Serge, Voline. Im Anarchismus konnte ich Individualismus mit radikaler Politik verbinden. Ich konnte mir niemanden vorstellen, mit dem ich in einer Kommune leben wollte. Ich glaube, ich habe in einem Artikel von Edward Abbey etwas über The Match! gelesen, ein anarchistisches Periodikum, also habe ich es mir beschafft und es hat mir gefallen. Der Herausgeber Fred Woodworth war so freundlich, einen halbgaren Artikel von mir über Gewalt im Film abzudrucken. Es ist der erste Text, den ich je veröffentlicht habe, er ist auch in meiner 2012 erschienenen Textsammlung „Life Against Dementia“ enthalten. Aber eigentlich sah ich mich nicht als Essayist oder Kolumnist, also habe ich mich auf das Verfassen von Drehbüchern konzentriert. Es gibt nicht viele frühe Essays in der Anthologie, weil ich nicht viele geschrieben habe. Die meisten stammen aus der Zeit nach 2000, als ich ein Magazin plante, aus dem schließlich mein Blog „The New Vulgate“ wurde.
Hast du selbst mal in einer Band gespielt, bevor du ins Musikbusiness eingestiegen bist?
Nein, aber einer meiner jüngeren Brüder, Mark, ist ein großartiger Gitarrist, der Anfang der Siebziger in der Highschool eine Band namens MIDKNIGHT hatte. Sie waren eine Prog-Instrumental-Hardrock-Band und probten in unserem Keller. Ich hörte sie oft, ging zu ihren Konzerten und nahm sie mit einem Vierspur-Bandgerät auf. Einige dieser Aufnahmen von 1975 wurden kürzlich auf dem Label Feeding Tube veröffentlicht.
Nachdem ich ein bisschen was von dir gelesen habe, würde mich interessieren, welche britischen Bands du besonders mochtest?
In den Sechziger Jahren habe ich gern Radiosender wie WLS oder WCFL AM aus Chicago gehört.Sie spielten die neuesten Singles der BEATLES, ROLLING STONES, ANIMALS, DAVE CLARK 5 und KINKS. Einzelne Songs, die mich wirklich begeisterten, waren „I can see for miles“ von THE WHO, „Itchycoo park“ von den SMALL FACES und „Sky pilot“ von THE ANIMALS. Ich mochte die Anfänge der Psychedelic-Szene. Später waren es BLACK SABBATH, die mich am meisten beeindruckten. Es folgten HAWKWIND und KING CRIMSON – die Zeit von 1963 bis 1974 war vielleicht die beste für britische Bands. Danach schienen sie sich von den amerikanischen Einflüssen abzukoppeln, was ihnen nicht gut bekommen ist.
Systematic, Thermidor, SST – du warst an so vielem beteiligt. Der Aufbau all dieser Firmen und die Arbeit in so vielen verschiedenen Medien hat dir eine Menge Einblicke verschafft. Wie, würdest du sagen, hat das deine eigene Kreativität beeinflusst oder weiterentwickelt?
Nun, diese Firmen wurden zu meiner Zeit aus einer Mischung aus Interesse und Notwendigkeit heraus gegründet. Damals konnte man alleine nicht viel erreichen. Das milderte den Solipsismus, denn damals war es noch keine Option, Kultur nicht nur ausschließlich über die sozialen Medien zu konsumieren, sondern auch allein zu produzieren und das Produkt dann wieder via Social Media zu veröffentlichen. Ich dachte, Hippie, Punk und Co. wären immer mit Offenheit im Denken verbunden, aber im Nachhinein betrachtet kommen immer ein paar Nachzügler hinzu, die die Bedeutung des Ganzen ein für alle mal festschreiben und das Denken auf bequeme Dogmen beschränken. Wir hatten das bei der Hippiebewegung beobachtet und wussten, dass wir mit SST dagegen ankämpfen mussten, dass sich das im Punk wiederholt, doch wir konnten das Unvermeidliche nur hinauszögern. Aber der Aufbau eines Unternehmens unterwirft dich der Disziplin des Wirtschaftskapitalismus, was ein guter Weg ist, um erwachsen zu werden ... aber auch nicht narrensicher. Ich war nach 2000 auch an den Labels beteiligt, die die DESCENDENTS-Mitglieder gründeten, O&O und Upland Records. Zu dieser Zeit begann Napster, die Plattenläden aus dem Geschäft zu drängen. Wir hatten großartige Bands wie WRETCH LIKE ME, TANGER, GRANDPA’S GHOST oder STOP & LISTEN BOYS, aber die Verkäufe blieben hinter den Erwartungen zurück, und das Publikum war zu diesem Zeitpunkt bereits verblödet genug, um die tausendste Kopie eines Erfolgsmodells den individuellen Künstlern vorzuziehen.
Hattest du während deiner Zeit in Kalifornien, als du sowohl den Plattenvertrieb Systematic als auch das Label Thermidor aufgebaut und betrieben hast, auch Kontakt zum Maximum Rocknroll Fanzine und Tim Yohannon? Angesichts Tims Weltsicht und vor allem seines Geschmacks habe ich mich immer gefragt, was er von dem hielt, was du später bei SST gemacht hast ... BLACK FLAG schienen immer eine eher exklusive Vorstellung davon zu haben, was sie als Band waren, und hatten nicht das Bedürfnis, irgendeiner Szene anzugehören. Mich würde interessieren, was er über die Einstellung und die musikalische Entwicklung von BLACK FLAG und SST im Laufe der Jahre dachte. Kannst du irgendetwas dazu sagen?
Ja. Tim schaute etwa einmal die Woche bei Systematic rein, um zu sehen, was wir Neues hatten. Wir waren in Berkeley und er war anfangs noch nicht so ganz auf Hardcore fokussiert. Sein Magazin und seine Radioshow waren noch neu und nicht so festgelegt. Er war ein netter Kerl, aber seine Interessen wurden immer beschränkter, da er in der Verbreitung von Hardcore eine politische Entwicklung sah, die zu einer Revolution führen könnte. Ray Farrell, der beim Maximum Rocknroll und später bei SST arbeitete, erzählte mir, dass Tim eine große 45er-Sammlung von Garage-Bands aus den Sechzigern hatte, die er aber Anfang der Achtziger verkaufte, als er sich ganz dem Hardcore zuwandte. Als SST Liquiditätsprobleme bekam wegen des Rechtsstreits mit Unicorn Records und BLACK FLAG betreffend, und sich einige Mailorder-Kunden über die Verzögerungen bei der Auslieferung ihrer Bestellungen beschwerten, schien Tims Magazin dies als weiteren Beweis für den Ausverkauf von BLACK FLAG an den Heavy Metal zu werten, und so gerieten wir gewissermaßen in einen Streit. Die MRR-Leute kamen demonstrativ nicht mehr zu den BLACK FLAG-Shows in San Francisco, während Mugger, ihr langjähriger Live-Mischer, sich über das MRR lustig machte, wenn er mit seiner Truppe NIG-HEIST in San Francisco gastierte. Es war letztlich noch nicht mal ein Sturm im Wasserglas. Aber es demonstriert sehr schön den Unterschied zwischen dem in Nordkalifornien kultivierten Anspruch und dem pragmatischen Lifestyle Südkaliforniens.
Du hast dann später eine Firma zur Veröffentlichung von Videos gegründet, Provisional. Kannst du erklären, was das war? Habt ihr selbst Videos produziert?
Ich kannte Leute, die in kleinem Rahmen Filme machten, und ich kannte andere Leute, die Videokassetten verkauften. Ich wollte Filme produzieren, also dachte ich, ich könnte eine Firma gründen, um die kleinen Filme meiner Freunde auf Video zu veröffentlichen und zu sehen, ob wir einen Vertrieb aufbauen könnten, um Produktionen zu finanzieren. Es hat nicht geklappt. Wie bei der Plattenindustrie, nachdem ich sie verlassen hatte, änderte die technische Entwicklung die Formate, es wurde digital und dann schnell online, so dass es sehr schwierig wurde, als kleiner DIY-Betrieb aus eigener Kraft das nötige Kapital zu erwirtschaften.
Mich interessiert, wie deine Beziehung zu Curt und Cris Kirkwood von den MEAT PUPPETS war. Du hast sie nicht nur unter Vertrag genommen, sondern sie auch produziert, oder? Und wie war es, mit Joe Baiza zu arbeiten? Warst du auch an der Produktion eines SACCHARINE TRUST-Albums beteiligt?
Ich lernte die MEAT PUPPETS kennen, als ich noch bei Systematic in Berkeley war. Sie hatten mit BLACK FLAG gespielt und so lag es nahe, ein Album mit ihnen zu machen. Wir kannten uns anfangs nicht so gut, aber sie kamen oft nach L.A., um Shows zu spielen, und sie waren die Vorband für BLACK FLAG in Phoenix und Tucson und später auf deren Tour. Ich würde sagen, sie waren ziemlich eigenständig, trotzdem war es einfach, mit ihnen zu arbeiten, aber du musstest dich immer bei ihnen melden. Mit HÜSKER DÜ in Kontakt zu bleiben, war leichter, was gut war, da sie noch weiter von L.A. entfernt lebten. SACCHARINE TRUST hatten einen großen Vorsprung vor HÜSKER DÜ und MEAT PUPPETS, weil sie 1981/82 die Einzigen waren, die ihre Jobs kündigten und mit BLACK FLAG auf deren intensive „Damaged“-Tournee gehen konnten. Als SACCHARINE TRUST mit der „Paganicons“-12“ unterwegs waren, haben sie mehr Leute gesehen als jede andere SST-Band außer BLACK FLAG, ganz zu schweigen von Nicht-SST-Bands – niemand tourte damals so exzessiv wie BLACK FLAG. Aber dann mussten SACCHARINE TRUST eine neue Rhythmussektion einarbeiten und Joe Baiza war, glaube ich, sehr anspruchsvoll bei der Zusammenstellung der Musik für das 1984er Album „Surviving You, Always“. Sie spielten tolle Gigs in L.A., aber sie waren noch nicht so weit, ein Album aufzunehmen und zwei Jahre lang auf Tour zu gehen. In dieser Zeit begannen sich die Leute für MINUTEMEN, MEAT PUPPETS und HÜSKER DÜ zu interessieren und SACCHARINE TRUST gerieten in Vergessenheit. Am meisten hatte ich mit ihrer 1985 erschienenen LP „Worldbroken“ zu tun, einem Live-Improvisationsalbum, das ich vor allem deshalb mitproduziert habe, weil ich nicht wollte, dass es wieder zwei Jahre dauert, bis etwas erscheint, und weil sie bei ihren Live-Sets immer viel improvisierten. MEAT PUPPETS-Platten habe ich nicht produziert, aber ich war bei den Sessions für das erste und zweite Album dabei.
Du bist auch für das Artwork von „Worldbroken“ verantwortlich. Gibt es noch andere Veröffentlichungen, für die du die Grafik gemacht hast?
Es gibt ein paar Sachen von mir, die du bei Discogs finden kannst, aber die einzige andere Covergrafik, die von mir stammt, ist die von der DESCENDENTS-Platte „I Don’t Want To Grow Up“. Das Bild von Milo habe ich gezeichnet, weil sie den Künstler, der „Milo Goes To College“ gezeichnet hatte, nicht mehr finden konnten.
Hast du außer „Jesus and Tequila“ noch weitere Texte für MINUTEMEN geschrieben? Was hat dich dazu inspiriert, für sie zu schreiben und nicht für andere Labelbands?
D. Boon wohnte die meiste Zeit des Jahres 1982 bei SST in Redondo Beach, während BLACK FLAG auf Tour waren, und bei mir lief rund um die Uhr ein Country-Sender. So kam ich auf die Idee, ein Album mit Country-Songs für D. zu schreiben. Ich verfasste drei Texte, aber er hatte nur die Musik zu „Jesus and Tequila“ fertig, als Mike Watt beschloss, dass sie ein Doppelalbum machen und nun Songbeiträge von Freunden brauchen, um alle vier Seiten zu füllen. Dadurch landete der Song im MINUTEMEN-Set und die Country-Idee haben wir nicht weiter verfolgt. Jahre später, als ich in Chicago lebte, fand ich, dass Mike Watt weiterhin bei fIREHOSE singen sollte, also schrieb ich für ihn einen Text mit dem Titel „Chinese firedrill“, der schließlich auf Mikes erster Soloplatte erschien, dort aber von Frank Black gesungen wurde. Und aktuell versuche ich, ein paar Texte für mich selbst zu schreiben, um sie zu einigen Tracks zu singen, die Mike Watt an meinen Bruder Mark geschickt hat, damit er Gitarre dazu spielt. Alles ist im Kasten, bis auf mein Debüt als Leadsänger!
Warst du bei SST, als es Überlegungen gab, eine Platte mit Charles Manson-zu machen, dem berüchtigten Sektenführer, der für mehre Morde verantwortlich war und lebenslang im Knast saß? Was war da los?
Ich glaube, dass Charles Manson wieder im Gespräch kam, lag wohl an Boyd Rice’ Korrespondenz mit ihm und auch daran, dass er immer wieder in den Zeichnungen von Raymond Pettibon auftauchte. Also schrieb Henry Rollins an Charlie und schickte ihm Leerkassetten ins Gefängnis. Manson sang und spielte Gitarre und nahm das mit einem Kassettenrecorder auf, den er in der Zelle hatte. Henry schnitt das Ganze schließlich zu einem Album zusammen und das Erste, was wir aus seinem Mund hörten, war: „This is SST recording studio.“ Wir wollten es auf einem Sublabel namens Declassified Records veröffentlichen, aber dann bekamen BLACK FLAG Drohanrufe von Mansons vielen Feinden oder vielleicht auch von seinen Anhängern und wir stoppten die geplante Veröffentlichung.
Wie wichtig war Mugger für den Erfolg von SST?
Sehr wichtig. Mugger war einer der ersten Leute aus dem BLACK FLAG-Umfeld, die bei SST arbeiteten, als Greg Ginns Firma noch Amateurfunk-Empfänger herstellte [Die Firma hatte Ginn bereits 1966 als Jugendlicher unter dem Namen Solid State Tuners gegrpündet – die Red.] und verkaufte. Raymond Pettibon [Ginns Bruder – die Red.], Medea und Spot spielten auch eine große Rolle, aber Mugger kümmerte sich um den betriebswirtschaftlichen Teil des Geschäfts. Als er 1983 aufhörte, mit BLACK FLAG zu touren, besuchte er einen Abendkurs in Betriebswirtschaft und nutzte das, um SST auf ein legales wirtschaftliches Fundament zu stellen. Greg, Chuck und ich wären froh gewesen, wenn alles einfach weiter unter dem Radar gelaufen wäre, denn wir waren nicht gerade diejenigen, die sich um solche Details wie Buchhaltung kümmerten. Und so war es Mugger, der uns dazu brachte, die Kosten zu kontrollieren, die Bands zu bezahlen und so schließlich in der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre eine gewisse Bedeutung zu erlangen. Ich verließ SST 1986, ein Jahr später verkaufte auch Mugger seinen Anteil, weil er ständig 2:1 überstimmt wurde. Er war der Meinung, dass sie bei SST Fehler machten, und ich glaube, er hatte recht.
In den letzten Jahren sind ein paar Bücher erschienen, die versuchen, den Einfluss von SST ins rechte Licht zu rücken. Ich denke da an Simon Reynolds und natürlich auch an „Our Band Could Be Your Life“ von Michael Azerrad. Wie bewertest du diese? Sind sie zutreffend?
Musikjournalisten wissen meist nicht genug über die Branche oder die Mechanismen einer Band, als dass sie etwas anderes beizutragen hätten, als ihre eigene Faszination für die Platten herauszuarbeiten. Am schlimmsten finde ich, wenn sie sich nach den neuen BEATLES sehnen oder einem zweiten Elvis – der die Mädchen heiß macht, aber auch die Jungs interessiert. Ganz allgemein mögen Schreiber keine Bands, die ein männliches Publikum anziehen. Am aktuellen Live-Geschehen oder der Kunst der Performance haben sie im Grunde kein großes Interesse. In der Regel entstehen die Bücher erst aus der Rückschau heraus. Wenn Autoren also überhaupt über SST-Bands schreiben, haben sie zumindest verstanden, was an dieser Ära wichtig war. Das sind Bücher, die mir gefallen haben. Der verstorbene Musiker und Schriftsteller David Lightbourne sagte mal, dass wir eine Fülle an talentierten jungen Menschen haben, die aber oft nicht wissen, was sie hören und womit sie sich intensiver beschäftigen sollen, worauf sie aufbauen können. Ich hoffe also, dass die Literatur über SST ihnen etwas Aufklärung bieten kann, damit sie nicht nur den Trends des Pop-Business ausgesetzt sind. Aber Musik mit mehr Tiefgang wird wohl immer im Nachteil sein, wenn es darum geht, in den Massenmedien stattzufinden, da hier einfach coole, poppige Sounds bevorzugt werden.
Irgendwann im Jahr 1986 hast du das Musikgeschäft hinter dir gelassen und dich, soweit ich weiß, ganz dem Schreiben gewidmet. War es schwierig für dich, dort weiterzumachen, wo du aufgehört hast?
Nicht wirklich. Ich hatte wieder mit Schreiben angefangen, als es bei SST so gut lief, dass ich mir eine Wohnung leisten konnte. Das war 1984. Es hat länger gedauert, „Rock and the Pop Narcotic“ zu schreiben, als ich dachte, weil ich noch nie ein Sachbuch verfasst hatte. Aber ich dachte, ich müsste erst den Zustand von Musikszene und Bands erfassen und herausfinden, was mit dem Rock’n’Roll passiert ist, historisch gesehen, bevor ich die Branche ganz hinter mir lasse.
Kommen wir zu deinem Leben in Wyoming. Ich bin neugierig: Hast du das Haus, in dem du wohnst, selbst gebaut? Wie weit ist dein nächster Nachbar entfernt?
Nein, es war einfach ein billiges, großes Haus, von dem ich dachte, selbst wenn es nicht lange hält, ist es ein schönes Grundstück, auf dem ich dann etwas Solideres bauen kann. Die Wasserleitungen frieren im Winter ein, also werde ich sie ersetzen müssen, aber ich halte mich oft für längere Zeit hier auf. Centennial ist ein winziger Ort mit etwa 300 Einwohnern, und langsam entdecke ich die Nachbarn, auch wenn die wenigsten das ganze Jahr über da sind.
Ich mag deine Fotos. Triffst du auf deinen Wanderungen auch auf viele wilde Tiere oder auf Anzeichen für weit entfernte menschliche Aktivitäten? Wie könnte das alles in die Entwicklung deiner Geschichte einfließen?
Der Nationalpark in meiner Nähe ist keine große nationale Attraktion wie Yellowstone, aber man begegnet Menschen meistens auf den Wanderwegen. Ich habe in den letzten Jahren nicht wirklich viele Elche gesichtet und auch nur einen Wolf. Wir haben keine Grizzlys, aber Schwarzbären, obwohl ich noch keinen gesehen habe. Ich glaube aber, ich habe ihren Kot gefunden. Ich vermeide es möglichst, durch dichte Wälder zu laufen, in denen ich nicht erkennen kann, was auf mich zukommt. Damit ich, falls sich ein Puma nähert, genug Zeit habe, das Bärenspray zu zücken. Normalerweise bleibe ich etwas oberhalb der nassen, sumpfigen Gebiete, die die Tiere anziehen. Ich stoße bisweilen auf verlassene Bergbaugruben und Hütten. Ich vermute, dass sie noch aus den Zwanzigern stammen. Irgendwo liegt ein schwerer Stahlkessel herum und auf dem Bergkamm oberhalb von Centennial kann man eine Mine erkennen. Ich betrachte die Fotografien auch als eine Art Location-Recherche für mein Drehbuch „The Winter Hand“.
Ich würde gerne mehr über Redoubt Press wissen. Hast du den Verlag gegründet? Veröffentlichst du bei Redoubt auch andere Autoren?
Bis jetzt sind nur meine Sachen bei Redoubt Press erschienen. Ich hatte 1990 versucht, einen Verlag für „R&TPN“ zu finden, aber damals gab es kaum einen, der spannende Bücher über Musik im Programm hatte. Henry Rollins hat 1995 eine überarbeitete Ausgabe herausgebracht, aber wegen Amazon musste er seinen Verlag 2.13.61 auf seine eigenen Titel beschränken. Also nahm ich es zurück und baute einfach auf dem ersten Titel auf. Während ich parallel weiter an meinem Filmbuch „Stone Male“ arbeitete, beschloss ich, etwas über die verstorbene SST-Fotografin Naomi Petersen zu schreiben: „Enter Naomi“. Dann fiel mir auf, dass ich seit Mitte der Siebziger genug kurze Essays geschrieben habe für eine Anthologie, die unter dem Titel „Life Against Dementia“ 2012 erschien. Und weil von meinen Drehbüchern die wenigsten verfilmt wurden, fing ich an, sie in Sammelbänden zu veröffentlichen: „Wyoming Stories“, „Western Stories“, „Chicago Stories“. 2016 war ich endlich fertig mit „Stone Male. Requiem for the Living Picture“, nachdem ich 25 Jahre lang daran gearbeitet hatte. Es ist mein bestes Buch und befasst sich mit dem Kino, insbesondere mit Actionfilmdarstellern seit der Stummfilmzeit. Vielleicht gibt es demnächst noch einige ausgewählte Texte von David Lightbourne in einer posthumen Werkschau. Aber zunächst widme ich mich meinem alten SST-Kollegen Spot, denn er hatte einen Schlaganfall [Leider ist Spot, bürgerlich Glenn Michael Lockett, am 04.03.2023 in Sheboygan, Wisconsin an den Folgen des Schlaganfalls verstorben – Anm. d. Red.] und obwohl es ihm jetzt besser zu gehen scheint, wird er vielleicht nie wieder so gut Musik machen können wie früher, so dass er sich vielleicht verstärkt auf die Schriftstellerei verlegt. Beide haben auch schon Essays für meinen Blog „The New Vulgate“ verfasst.
Ich meine, irgendwo gelesen zu haben, dass du in deiner Jugend ein großer Charles Bronson- und Clint Eastwood-Fan warst. Hast du sie jemals getroffen?
Nein, ich habe ein paar Drehbücher an Eastwoods Firma geschickt und ich habe ihn im Directors Guild Theater bei einer Hommage an Don Siegel gesehen, wo er dessen 1971 entstandene Filme „The Beguiled“ und „Dirty Harry“ vorstellte. Mike Watt war mit mir da. Ich erinnere mich, dass es Gerüchte gab, dass Bronson vor seinem Tod eine Autobiografie geschrieben hatte, aber es ist nichts erschienen.
Was ist ein „sight gag“? Ist es ein Filmgenre?
Nein, es ist ein Witz oder eine Pointe, die rein visuell funktioniert, ganz ohne Worte oder Dialog. In den frühen Kurzfilmen von Buster Keaton und Charlie Chaplin gibt es wahrscheinlich die meisten und innovativsten „sight gags“. Oft sind es ziemlich halsbrecherische Stunts. Stunt-Leute bezeichnen ihre Aktionen heute noch als „Gags“.
Hast du dich auch mal mit Kriegsfilmen beschäftigt? In deinem Buch „Stone Male“, definierst du mit „untheatrical embodied drama“ eine spezifisch amerikanische Art des Drehbuchschreibens. Wenn ich mir US-Kriegsfilme der Fünfziger und Sechziger so ansehe, trifft es das wirklich gut.
Ich denke, ich beziehe mich in „Stone Male“ auf mehrere wichtige Kriegsfilme, besonders mag ich „Die ins Gras beißen“ von 1962, „Du warst unser Kamerad“ von 1949 und „Tag ohne Ende“ von 1957. Als Genre unterliegt der Kriegsfilm noch stärkeren formalen Beschränkungen als der Western, aber er bietet den Schauspielern die Chance, verwegener auszusehen und zu wirken als etwa in einer romantischen Komödie oder einem Drama. Budd Boetticher, der Regisseur von „Unternehmen ‚Rote Teufel‘“ von 1952, schrieb, dass er Kriegsfilme nicht besonders gerne dreht, weil die Figuren nicht dort sein wollen und die Filme im Grunde von unfreien Menschen handeln.
Ein Drehbuch zu schreiben, erfordert sicher eine Menge Recherche, oder? Nimmst du dir dafür genauso viel Zeit wie für das Schreiben von Büchern?
Ich habe einige Geschichten geschrieben, die auf historischen Ereignissen beruhen, und das erfordert gewisse Nachforschungen, aber die meiste Zeit braucht es nicht viel Recherche. Bühnen- und Kostümbildner müssen viel mehr recherchieren. Denn hier kann ich mir alles zunutze machen, was das Publikum bereits über Western, Horrorfilme oder Krimis weiß. Es heißt, dass die Fotografie die Malerei von der Repräsentation befreit hat, und ich denke, dass Filme den Roman von der Last befreit haben, alles beschreiben zu müssen. Es hat also sicher keinen Sinn, in einem Drehbuch viel zu beschreiben. Mir gefällt es, dass die grundlegende Handlung und der Dialog als Poesie in der Form allein stehen können.
Ich habe ein paar Freunde, die Militärhistoriker und Schriftsteller sind. Sie sagen immer, dass sie ihre Recherchen niemals allein und ohne die Hilfe von Freunden und Bekannten hätten durchführen können. Ich weiß, dass sich Chris Desjardins von THE FLESH EATERS ziemlich intensiv mit Film beschäftigt hat. Hast du ihn, als du noch in L.A. warst, mal getroffen, um über Drehbücher, Filme usw. zu sprechen?
Ich habe viel Hilfe für meine Sachbücher „Rock and the Pop Narcotic“ und „Stone Male“ bekommen. Die Arbeit war ziemlich anspruchsvoll, da bittet man besser seine Expertenkollegen um Unterstützung, damit man nicht irgendeine Band oder einen Film übersieht. Zu Beginn meiner Recherche hatte ich mich der Videosammlung von Chris Desjardins bedient, weil es so schwierig war, bestimmte Filme zu bekommen, wenn man sie brauchte. Aber es ist kaum möglich, die Suchkriterien zu definieren, bevor das Buch geschrieben ist, es kann einem also niemand so richtig helfen. Ich ging meistens alleine ins Kino. Als ich bei SST war, kam oft Raymond Pettibon mit. In Charles Bronson-Filme ging ich mit Davo Claassen, der später Roadie und Tonmann bei BLACK FLAG war.
Apropos Recherche, starrst du eigentlich oft auf Landkarten?
Das tue ich, wenn ich an meinen Western arbeite, vor allem wenn sie in Arizona oder in einer anderen Landschaft spielen, die ich nicht gut kenne. Drehbücher sind jedoch ein ziemlich minimalistisches Format, du musst also nicht alle möglichen Details festlegen; das ist Sache der Bühnen- und Kostümbildner. Aber es ist gut, wenn du dir überlegst, wie viele Tage du mit dem Pferd brauchst, um von Horsehead Crossing zu den Moqui Buttes und zurück zu kommen, damit du die Größe des Landes in die Handlung einbauen kannst. Mir ist aufgefallen, wie John Ford, Frank Nugent und Alan LeMay in „The Searchers“ aus dem Jahr 1956 die Weite des Landes vermitteln, indem sie die Entfernungen und die Zeit, die die Suche dauert, ins Verhältnis setzen.
Nach dem, was ich von dir in die Finger bekommen konnte, scheint das meiste im klassischen Western-Genre verwurzelt zu sein und dabei in keiner Weise zeitgenössisch. Mit „zeitgenössisch“ meine ich, dass es nicht so sehr um Geschlecht oder Rasse geht, Aspekte, die heutzutage oft im Vordergrund zu stehen scheinen.
Ich schreibe über Cops im heutigen Chicago, so dass ich in ein realistisches Setting natürlich alle aktuellen Themen einfließen lassen kann. Ich versuche immer, den Charakteren auf ihrem eigenen Weg zu folgen. Ich glaube, dass ein großer Teil der Gesellschaft in entfremdeten Jobs im Management oder in der Bürokratie tätig ist, wodurch sie die produktive Arbeit lediglich aus ihrer sicheren Nische heraus beurteilen. Das färbt sicherlich auf meine Chicago-Geschichten ab. Aber bei den Western versuche ich, die Vergangenheit und die damaligen Menschen in einem anderen Licht darzustellen, da sie nicht den gleichen Hintergrund haben wie wir heute. Ihre Reaktionen auf die Entwicklungen in der Geschichte sollten den Zuschauer oder Leser also ein wenig überraschen.
Was macht in deinen Augen ein gutes Drehbuch aus?
Als ich noch jünger war und ohne große Erfahrung als Autor, bin ich nicht weiter zur Schule oder Drehbuchseminaren gegangen. Stattdessen bin ich ins Schallplattengeschäft gegangen, als sich durch Punkrock neue Möglichkeiten für kleine, unabhängige Firmen und originelle neue Bands eröffneten. Ich lernte viel über das Verhältnis von Kunst und Wirtschaft und über die menschliche Natur, die Psychologie des Publikums und dergleichen, während ich weiterhin viele Filme sah und Bücher las. Als ich mit dreißig wieder mit dem Schreiben anfing, hatte ich also einen ganz anderen Horizont und musste nur noch lernen, meine Texte zügig zu überarbeiten, damit mein erster Entwurf zumindest strukturell der endgültigen Fassung nahekam. Auch wenn man ein Drehbuch immer verbessern kann und es eine gewisse Zeit braucht, um das Potenzial von Setting und Charakteren voll auszuschöpfen. Mir war aufgefallen, dass es in den alten Studiotagen, als die Produzenten mehrere Autoren auf ein Drehbuch ansetzten, einen guten Grund gab, überraschende Wendungen darin einzubauen, da sonst vielleicht alles zu vorhersehbar und langweilig wirken würde. Um ein Drehbuch schnell drehfertig zu machen, brachten diese Autoren auch Aspekte ihrer individuellen Persönlichkeiten ein, und selbst wenn sie das Image des Stars bedienten, konnten sie so besser unterschiedliche Charaktere erschaffen, als es ein einzelner Autor könnte. Ich denke also darüber nach, eine Überraschung oder einen X-Faktor einzuführen, der streng genommen nicht völlig logisch, aber durch die sorgfältige, konsequente Pflege von Charakter und Setting gerechtfertigt ist.
Du hast mal geschrieben, dass „The Winter Hand“, enthalten in dem Band „Wyoming Stories“, eines deiner besten Werke ist. Wie kommt das?
Im Zuge meiner Recherchen über eine kurze Phase nach der Blütezeit des Pelzhandels, aber bevor die Viehwirtschaft in Wyoming so richtig in Schwung kam, habe ich den Roman „Crow Killer. The Saga of Liver-Eating Johnson“ von Robert Bunker und Raymond Thorp gelesen. Sydney Pollacks Verfilmung „Jeremiah Johnson“ von 1972 ist nicht besonders gut, deshalb war ich überrascht, wie gut die Vorlage ist. Es ist wie ein Märchen geschrieben und erzählt, dass Gewalt in der Wildnis ihren Zweck am besten erfüllt, wenn sie mit so großer theatralischer Geste ausgeführt wird, dass jeder Zeuge überall davon berichten wird und jeder, der davon hört, es wieder weitererzählt. So konnte sich, noch bevor es den Telegrafen oder dergleichen gab, allein mittels Mundpropaganda die Nachricht verbreiten, dass man sich mit diesem Mann oder jenem Stamm besser nicht anlegen sollte. Es schien mir also eine wichtige Erkenntnis für das Schreiben von Western und Krimis zu sein, zu verstehen, mit welchen menschlichen Wahrheiten wir es zu tun haben.
Gibt es bei heutiger Musik etwas Bestimmtes, das dich besonders interessiert?
Ich schaue mir meistens irgendwelche Songs an, die Freunde auf Facebook posten, oder ich suche auf YouTube nach obskuren Sachen aus der Vergangenheit. Das ist eine gute Quelle. Ich hätte „R&TPN“ vielleicht nie fertigstellen können, wenn es das schon gegeben hätte, als ich dafür recherchiert habe. In letzter Zeit habe ich einige tolle Songs auf YouTube gefunden, zum Beispiel „Dream on my mind“ von RUPERT’S PEOPLE, „Yellow cave woman“ von VELVETT FOGG, „Tell me tell me“ von BUDGIE oder die lange Version von „Rari“ von THE STANDELLS. Lauter altes Zeug!
Gibt es, ausgehend von deiner Fotografie und den Motiven, die du gerne einfängst, irgendwelche Westernmaler, die du magst? Bist du mit Maynard Dixon vertraut?
Ich kenne mich nicht wirklich mit Westernmalerei aus, aber ich verstehe, was du meinst, wenn ich bei Google einen Blick auf Maynard Dixons Gemälde werfe. Großartige Arbeiten! Mein Interesse für den Westen begann Anfang der Siebziger Jahre mit der Lektüre von Edward Abbeys „Desert Solitaire. A Season in the Wilderness“. Mein Bruder Mark hat es auch gelesen und ist deshalb ebenfalls in den Westen nach Nevada und Wyoming gezogen. Mein jüngster Bruder Mike lebt in Nevada und er und ich haben eine Filmproduktionsfirma namens Wyo-Neva Films, aber unser erstes Projekt ist ein Horrorfilm, der in Chicago spielt.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #167 April/Mai 2023 und Jason Honea