JOE BAIZA

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Saccharine & Trust

Er veröffentlichte neun Platten auf dem kalifornischen Überlabel SST. Henry Rollins, Mike Watt, RAGE AGAINST THE MACHINE, SONIC YOUTH, Eliot Sharp und viele andere Indie-Legenden sind bekennende Fans. Kurt Cobain zählte „Paganicons“ zu den wichtigsten Alben der 80er Jahre, und Chuck Dukowski von BLACK FLAG sagt über sie :„They are probably the best surviving band from the days of punk rock.“ Die Rede ist von SACCHARINE TRUST , der Band, die Joe Baiza 1980 in Kalifornien gründete und die bis heute existiert. 2010 wurde Baiza nebst Band von PAVEMENT zum diesjährigen „All Tomorrows Parties“-Festival nach England eingeladen. Und weil es gerade so schön passte, packte der mittlerweile 58-Jährige noch seine zweite Band UNIVERSAL CONGRESS OF mit dazu.

Al’s

„Look, there’s Joe!“, schrie das Publikum und deutete auf den Kopf, der wie jeden Abend mit dunkel hängendem Haupthaar und Bandido-Bart direkt über der Bühne verkehrt herum an der Decke klebte.

Al’s Bar hieß der kleine Live-Schuppen im Erdgeschoss des American Hotel, einer baufälligen Absteige für Künstler und American-Dream-Queraussteiger im Artloft-District am L.A. River. Hier, zwischen den aufgegebenen Warehouses von East Downtown, trafen sich Bands, Maler, Poeten, Punks und andere Rumtreiber und machten die Gegend um den Joel Bloom Square zu einer der Keimzellen des Los Angeles-Underground der 80er Jahre. Bei den Konzerten, die nicht selten in haltlose Sessions ausarteten, holte sich eine ganze Generation ein neues Selbstverständnis, grenzte sich ab gegen das Echo der Siebziger, gegen die Drogenexzesse und die Schmuddelpsychedelic der Hippies und Blumenkinder, die längst Frisuren und Wallpaper des Establishments bestimmte und zur Schablone verkommen war. Den erbärmlichen Rest fegten die Drug Squads aus den Rinnsteinen am Sunset Strip. Die Auflehnung dieser Tage findet sich in der Straight-Edge-Apologetik eines Henry Rollins oder der Peppers genauso wieder, wie in Mike Watts mahnendem Appell: „The kids of today should defend themselves against the 70’s. It’s not reality, just someone else’s sentimentality ... Look what it did to us.“

The American Hotel

Joes 90-Dollar-Apartment im ersten OG des American Hotel war genauso billig wie verfallen. Wenn er wissen wollte, was unten in Al’s Bar abging, steckte er ganz einfach den Kopf durch ein immenses Loch im Fußboden. Nicht selten stand er selbst auf der winzigen Bühne, mit seiner Band SACCHARINE TRUST oder mit OCTOBER FACTION, einer Art Allstar-Group, die er seit kurzem mit Greg Ginn, Greg Cameron und Chuck Dukowski betrieb. Es hatte sich einiges entwickelt, seitdem der Gitarrist, Sänger und Maler Ende 1979 gemeinsam mit Mike Watt in dessen alten Volkswagen aus San Pedro nach Downtown L.A. getuckert war, um eines der letzten Konzerte der GERMS zu besuchen, bevor deren Frontmann Darby Crash im Alter von nur 22 Jahren an einer Überdosis Heroin verreckte. Mikes MINUTEMEN genau wie Joes SACCHARINE TRUST veröffentlichten mittlerweile Platten auf dem angesagten SST-Label und tourten quer durch die Vereinigten Staaten, von Baja California bis hoch nach Connecticut.

This is Pedro

Damals, in Pedro, dem Working-Class-District von Long Beach, war alles zwei Nummern kleiner. Joe schlug sich in der Punk-Szene als Zeichner skurriler Flugblätter durch. In seinem über und über mit Skizzen beklebten Apartment, das bei Tageslicht eher einer Installation mit Schlafsack in der Mitte glich, dilettierte er nachts gerne an der E-Gitarre zu den Gedichten seines Freundes Joaquin (Jack) Brewer. Dass das nicht lange gut gehen konnte, lag auf der Hand. Beim ersten Mal war es noch Nachbar Dennes Boon, der an die Tür klopfte, und man lernte sich eine Nacht lang kennen. Beim zweiten Mal war es dann tatsächlich der völlig humorlose Hauswirt, der da klopfte.

So ums Obdach gebracht, quartierte sich Joe im Pedro-Star Theatre ein, einem alten Kino, das von mittellosen Künstlern gleichermaßen als Not-Domizil, Atelier und Proberaum genutzt wurde. Orte wie diesen gab es viele im L.A. der Endsiebziger und beginnenden 80er Jahre. Sie dienten der wachsenden Hardcore-Punk-Gemeinde als Szenetreffs. Proben waren hier quasi immer öffentlich und mutierten nicht selten zu regelrechten Umsonst-Konzerten. Auch Ex-Nachbar Boon, der zu dieser Zeit zusammen mit drei anderen Pedro-Jungs – George Hurley, Mike Watt und dem Sänger Martin Tamburovich – in einer Formation namens THE REACTIONARIES spielte (1980 stieg Martin aus und die Band wurde in MINUTEMEN umbenannt), mischte sich hier regelmäßig unter die Gäste.

Mike Watt

Es war Boons Bassist Mike Watt, der eines Abends im Star Theatre auftauchte und Jack und Joe, die mittlerweile ein paar Songs hatten und mit Drummer Richie Wilder und dem Bassisten Louis Molanado probten, zu einem ersten richtigen Gig in irgendeinem Hollywood-Hinterhof überredete. Obwohl sich Jack und Joe sicher waren, noch nicht so weit zu sein, ließen sie sich schließlich breitschlagen. Bedauerlicherweise hatte die Band noch keinen Namen und Mike meinte, so was brauche man nun mal partout, um in Hollywood zu spielen. In der folgenden Nacht wurde der Name SACCHARINE TRUST aus einem Missverständnis geboren. Auf einer Party lief der Bowie-Song „Bewlay brothers“ und Jack fragte Joe, „What does this dude mean by ,They bought their positions with Saccharine and Trust‘?“. Bei all dem Krach verstand Joe einzig die Worte „Saccharine“ und „Trust“, hielt das Ganze für einen gelungenen Namensvorschlag und schlug ein.

Solid State Transformers

Etwa zur selben Zeit, ein paar Blocks die Küste hoch, suchte ein gewisser Greg Ginn, der mit seiner Band BLACK FLAG in The Church, einem Pendant zum Star Theatre im benachbarten Stadtteil Hermona Beach probte, nach einer Möglichkeit, unabhängig von der Industrie Platten aufzunehmen und zu vertreiben. Gemeinsam mit dem Bassisten Chuck Dukowski funktionierte Ginn seinen kleinen Elektronik-Versand Solid State Transformers, den er als passionierter Funker betrieb, kurzerhand zu SST Records um. Nach Gregs BLACK FLAG und Dennes Boons MINUTEMEN veröffentlichten SACCHARINE TRUST 1981, als dritte Band der „Pedro-Connection“, ihren ersten Tonträger auf SST.

Die EP „Paganicons“, die nicht nur Kurt Cobain zu seinen All-time-Favourites und zu einer der maßgeblichsten Platten der 80er Jahre zählte, katapultierte SACCHARINE TRUST in die Clubs der 48 Staaten und einige Zeit später bis nach nach Europa. Bands wie HÜSKER DÜ, MEAT PUPPETS, DINOSAUR JR, DESCENDENTS, BAD BRAINS, SONIC YOUTH, SWA und SOUNDGARDEN folgten, und der Elektro-Ersatzteil-Versand SST veränderte die Musikgeschichte. Und obwohl der eine oder andere späte Act kommerziell sogar erfolgreicher war, bleiben es die frühen Bands, die den Sound des Labels prägten. D. Boon starb bei einem Autounfall am 22. Dezember 1985 in Tucson, Arizona.

1985

Zurück in Joes Apartment im ersten OG des American Hotel, das genauso billig wie verfallen war. Wenn er wissen wollte, was unten in Al’s Bar abging, steckte er ganz einfach den Kopf durch das immense Loch im Fußboden. Dann schrie das Publikum und deutete auf den Kopf, der wie jeden Abend mit dunkel hängendem Haupthaar und Bandido-Bart direkt über der Bühne verkehrt herum an der Decke klebte.

Dem Tenor-Saxophonisten Steve Moss, der in Al’s Bar zu den Stammgästen zählte, war der Besitzer des haarigen Schädels, der da mit stechend funkelnden Augen kopfüber in die Runde blickte, natürlich ein Begriff. Joe gehörte ja quasi zum Inventar und außerdem war SACCHARINE TRUST neben MINUTEMEN und BLACK FLAG der Hot Shit im L.A.-Underground dieser Tage.

Bill (The Flash Wagon)

Die Jungs brauchten sich keine Gedanken zu machen. Bill, The Flash Wagon, würde sie schon heil nach New York City tragen. Joe hatte alles investiert in den Rest von Blech, der Millionen Rostlöcher, vier Räder und einen auf drei Töpfen laufenden Vierzylinder mit Ach und Krach zusammenhielt. Gestern Birmingham, Alabama. Heute Abend Showtime im Big Apple: Knoxville, Johnson City, Harrisburg, Allentown, Edinson, New York – spätestens mit dem Einstieg des Tenor-Saxophonisten Steve Moss war das Konzept von SACCHARINE TRUST nicht mehr zu halten gewesen. Über sechs Alben hatte Joe den Pedro-Punk sukzessive abgelegt und war mehr und mehr zu den Jazz-Skills und Harmolodics eines Ornette Coleman vorgedrungen. Schon die letzte SACCHARINE TRUST-LP „We Became Snakes“, die zum ersten Mal ein Holzblasinstrument zuließ, zeigte, wohin die Reise gehen wollte. Knoxville, Johnson City, Harrisburg, Allentown, Edinson, New York City. Nicht SACCHARINE TRUST, der UNIVERSAL CONGRESS OF war unterwegs ins CBGB’s.

CBGB’s

Ein SST-Weekender im legendärsten Punkrock-Schuppen der Welt war der deutschen Musikjournalistin Jutta Koether einen Charterflug nach New York City wert. Heute Abend also SOUNDGARDEN und Joe Baizas neue Band, der UNIVERSAL CONGRESS OF. Amerikanische Medien feierten Baiza mittlerweile als den neuen Jerry Garcia. Godfather Eugene Chadbourne hielt den Sohn mexikanischer Immigranten für den bedeutendsten Gitarristen der kalifornischen Musikszene. Und auch Jutta waren die Alben von SACCHARINE TRUST, die so maßgeblich waren für die Entwicklung des Hardcore in den 80er Jahren, natürlich ein Begriff. Genau wie Joes diverse Verstrickungen in SST-Side-Projekte und der Umstand, dass Baiza, nach Greg Ginns Bruder Raymond Pettibon, für die meisten SST-Cover verantwortlich zeichnete.

Bill, The Flash Wagon, hatte wie immer schnaubend und stoßend durchgehalten, aber ein Streit zwischen Moss und dem Bassisten Ralph „Rafa“ Gorodetsky, wer denn nun mit Lenken dran sei, hatte in einer zweistündigen Totalverweigerung in irgendeinem Straßengraben in Maryland geendet. Hätten Joe und Jack die Gemüter in dieser Nacht nicht beruhigen können, Jutta hätte den Congress vielleicht nie zu Gesicht bekommen und diese Geschichte hätte hier eine andere Wendung genommen. So aber war man einfach nur spät dran und zu allem Überfluss stand auch noch dieses lästige Interview auf dem Rider. „Wir hatten uns angewöhnt, mit Musikjournalisten vorwiegend Scherze zu treiben. Aber dann war da plötzlich dieses Mädchen aus Deutschland. Die hatte ganz andere Fragen. Kannte sich aus. Die hatte was zu sagen und wollte was wissen. Das hat unsere Haltung zur Presse komplett umgekrempelt“, wird sich Joe Jahre später erinnern. Die Impressionen beim Konzert und dann später im Backstage des CBGB’s müssen besondere gewesen sein. Der Spex-Leitartikel von Jutta Koether und Musikfeuilleton-Papst Diedrich Diederichsen erhob Baiza wenige Wochen später zum kalifornischen „Beatnik Buddha“ und stieß dem UNIVERSAL CONGRESS OF die Türen nach Europa auf.

Lost in Europe

„Was zur Hölle machen all die Leute hier?“, fragte sich Joe und checkte zum x-ten Mal ungläubig das Programmheft. Klar hatte SACCHARINE TRUST und dann UCO in den vielen Jahren on the road kreuz und quer durch die Staaten unzählige Erfolge gefeiert. Die gemeinsamen Touren mit BLACK FLAG oder SONIC YOUTH waren gut gelaufen. Am Ende hatte man für Nick Cave eröffnet und eine Stadiontour mit RAGE AGAINST THE MACHINE, die große Bewunderer waren, sogar abgelehnt, weil Joe die Band nicht mochte – was Jack und den Rest der Band schier in den Wahnsinn getrieben hatte. Aber es gab auch immer wieder Rückschläge in irgendwelchen Nestern in Arkansas, Oklahoma, Maine (...), wohin auch immer der arme Bill die Band getragen hatte. Und nach Europa hatte keiner von ihnen jemals einen Fuß gesetzt. „Was zur Hölle machen all die Leute hier?“, fragte sich Joe und checkte zum x-ten Mal ungläubig das Programmheft – und dann begriff er endlich.

Vorwiegend ausverkaufte Europatourneen brachten viel Licht, aber auch Schatten. Joe brach hormongesteuert die halbe Band weg. Saxophonist Steve Moss und der Bassist Steven Gaeta, der 1991 Rafa Gorodetsky ersetzte, verheirateten sich in Köln und München und veröffentlichten mit ihrer eigenen Band, dem KOOL ADE ACID TEST, drei Aufsehen erregende Platten auf dem deutschen Label Hazelwood Vinyl Plastics. Hazelwood veröffentlichte auch, nach dem zeitweisen Niedergang von SST, die bis dato letzten Platten von SACCHARINE TRUST, UNIVERSAL CONGRESS OF und MECOLODIACS, einer weiteren Baiza-Band, die er Mitte der Neunziger mit dem alten UCO-Bassisten Rafa Gorodetzky und Drummer Wayne Griffin gründete. Nach der letzten Europatour 1996 wurde Joe in Berlin von Neonazis die Hand mit einem Baseballschläger zertrümmert, was einen empfindlichen Karriereknick zur Folge hatte. Künstler wie TOCOTRONIC, BLUMFELD, MOUSE ON MARS, FLOWERPORNOES, Bernadette La Hengst und viele andere gaben Soli-Konzerte. Mit dem Gitarrespielen aber war es vorerst vorbei.

Pico-Union

Das American Hotel in East Downtown steht immer noch. Es ist allerdings anzunehmen, dass das Loch über Al’s Bar mittlerweile geflickt wurde – so, wie die ganze Gegend um den Joel Bloom Square zu einem glatt restaurierten Makler-Traum „mit künstlerischem Flair“ aufgestiegen ist. Joe lebt mit seiner Freundin Annemike de Haan, die er Mitte der Neunziger auf einer Tour in Holland kennen gelernt hatte, ein paar Blocks weiter in der Pico-Union-Area am Alvarado Boulevard.

Nachdem die Wunden des Neonazi-Überfalls einigermaßen verheilt waren, hatte Joe gemeinsam mit Jack Brewer Ende der Neunziger SACCHARINE TRUST wiederbelebt und war als Gitarrist bei Mike Watt eingestiegen, der nach der Auflösung der MINUTEMEN-Nachfolgeband fIREHOSE eine Solokarriere startete. Bis heute spielt er mit SACCHARINE TRUST regelmäßig Shows im Großraum Los Angeles und begleitet Mike Watt auf dessen Tourneen. Sein Geld verdient Joe mit dem Verpacken von Kunst für eine große Galerie in Los Angeles und hin und wieder mit dem Verkauf eigener Zeichnungen.

Im Mai und Juni 2010 spiel(t)en SACCHARINE TRUST und der UNIVERSAL CONGRESS OF in Originalbesetzung 20 Shows in Deutschland.