Es gibt Interviews, die mich ganz persönlich berühren. Das sind die, die über die üblichen Fragen nach dem neuen Album oder einen Labelwechsel hinausgehen. Und solch ein besonderes Interview ist das, was wir mit Itai, Sänger der israelischen Punkband JARADA, geführt haben. Klar geht es darin auch um das neue Album, aber vor allem um den Zorn, die Wut, aber auch Verzweiflung und Frustration, die in ihren Texten Ausdruck finden. Also sprechen wir mit Itai über die gravierenden politischen Veränderungen in Israel, über eine „Justizreform“, die den Namen nicht verdient, und mögliche Konsequenzen auch für die israelische Punk-Szene.
Zwischen dem letzten Album und dem neuen liegen vier Jahre. Liegt das auch an der Pandemie? Von außen wirkte die israelische Corona-Politik sehr klar und restriktiv.
Eigentlich ist die Corona-Pandemie gewissermaßen der Grund dafür, dass wir überhaupt ein neues Album gemacht haben. Wir wollten eigentlich im April 2020 auf Tour gehen, um unser Album „Ma’agal Sina’a/Circle Of Hate“ zu supporten, das wir ein halbes Jahr zuvor veröffentlicht hatten, aber das Virus machte uns einen Strich durch die Rechnung. Wir verbrachten stattdessen den ersten Lockdown, von März bis Juni, glaube ich, in Israel eingeschlossen in unseren Wohnungen, verwirrt und im Unklaren darüber, was passiert ist. Die Regierung, angeführt von Premierminister Netanjahu, ging mit der Krise furchtbar um. Sie haben uns ständig belogen und irgendeinen Scheiß erfunden. Und außerdem war da noch dieser Prozess gegen Premierminister Netanjahu, der der Untreue, der Annahme von Bestechungsgeldern und des Betrugs beschuldigt wurde, was zu Massendemonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem führte. Wie auch immer, diese ganze Frustration und Unsicherheit und dazu die Menschen, deren ganzes Leben ruiniert war oder die von der Polizei verfolgt oder schikaniert wurden, weil sie auf einer bestimmten politischen Seite standen – also diese ganze Scheiße in unserer zerbröckelnden Gesellschaft war der Grund , wieder Musik zu schreiben und zu versuchen, unsere Wahrnehmung dieser surrealen Realität auszudrücken, die uns aufgezwungen wird. Schließlich kamen dazu noch Schwierigkeiten bei der Post-Produktion. Wir haben etwa zwei Jahre dafür gebraucht, aufgrund zahlreicher logistischer oder technischer Probleme, die teilweise auch mit der Pandemie zu tun hatten.
Das Album erscheint auf Crapoulet, Tranzophobia, Flyktsoda und Passion Means Struggle. Wie ist diese Kooperation zustande gekommen?
Ursprünglich hatten wir den Plan, wieder mit denselben Labels zusammenzuarbeiten, die bereits unsere ersten beiden Platten herausgebracht hatten: Crapoulet, No Spirit und Doomtown. Anfangs waren auch alle mit an Bord, aber dann hat uns das Coverartwork aufgehalten, das Monate in Anspruch nahm. In der Zwischenzeit stellte No Spirit die Labelaktivitäten ein und kurz darauf beschloss auch Doomtown, sich zurückzuziehen. Wir mussten also andere Labels finden, um das Album zu rauszubringen, und das Projekt verzögerte sich. Die Labelsuche nach Corona ist eine ganz andere Nummer als vorher. Alle hatten weniger Geld übrig, um es zu investieren, und große Angst, Risiken einzugehen. Aber zum Glück hatten wir uns mit den ersten beiden Platten bereits einen guten Namen gemacht. Und Flyktsoda, Passion Means Struggle und Tranzophobia gehören nicht nur zu den coolsten Hardcore-Punk-Labels Europas, da arbeiten anscheinend auch einige sehr coole Leute. Und sie waren alle daran interessiert, die Platte mit uns zu veröffentlichen. Wir sind super glücklich, dass das mit ihnen geklappt hat.
Was bedeutet das Covermotiv? Und was meint ihr mit dem Titel „No Co-Existence With ...“?
Ich denke, jeder kann das Cover anders interpretieren. Im Grunde geht es um einen Mann, der mit sich selbst kämpft und nicht erkennt, dass er nur ein Werkzeug in einem viel größeren Spiel ist. Das ist zumindest meine Interpretation, aber wir haben Guy, dem Künstler, nicht vorgegeben, was er machen soll. Wir haben ihn gebeten, sich die Platte anzuhören und sich etwas einfallen zu lassen, was auch immer er für richtig hält. Und das hat er getan. „No Co-Existence With ... Jarada“ ist der eigentliche Titel für die Platte – was ein bisschen komisch ist. „Jarada“ bedeutet auf Hebräisch „Angst“, aber die meisten Menschen, die ich kenne, mich eingeschlossen, haben die meiste Zeit ihres Lebens mit Ängsten zu kämpfen. Wie gesagt, es ist offen für Interpretationen, aber es war auf jeden Fall meine Absicht, mich über den Begriff „Koexistenz“ lustig zu machen. Der ist vor allem eine beschönigende Beschreibung israelischer Zionisten, die inmitten von Muslimen oder anderen Minderheiten siedeln, so als ob der irgendwas aussagen würde. Es gibt aber auch ein entsprechendes Stück auf der Platte, „No co-existence with police“, darin geht es um Polizeigewalt wie bei den Demonstrationen 2020 .
Euer Sound wirkt jetzt etwas gemäßigter als auf den bisherigen Alben. Seht ihr das auch so?
Ja, das ist ein fairer und berechtigter Punkt. Das Material auf diesem Album ist eher geradliniger und wir dachten, es wäre unnötig, noch mehr Effekte oder Studiospielereien hinzuzufügen. Die Produktion ist minimal, alles wurde live eingespielt und der Gesang so belassen, wie er ist. Das erzeugt diese natürliche Rohheit und Energie, die quasi von selbst funktioniert.
„Religion is a cult“ ist der erste Track der Platte. Es geht darin unter anderem um „ways to unify people“. Funktioniert das angesichts der Konflikte?
In Israel dreht sich alles um Religion. Es ist eine Frage des Selbstverständnisses, was der israelische Staat als Ganzes ist. Ein jüdisches Land? Aber auch ein demokratisches Land? Irgendwie, ohne eine Verfassung, aber gleichzeitig mit den orthodoxen Rabbinern die Kontrolle über alle religiösen Angelegenheiten gewährend. Dachten wir, wir könnten eine Mischung aus beidem sein? Religion und Staat nicht trennen, dabei Millionen nicht-jüdischer Zivilisten ignorieren und Millionen andere unterdrücken? Religion ist im Grunde ein Instrument, um damit das Leben in einer Gemeinschaft zu regeln. Aber wie stellt man diese Regeln auf und wie überzeugt man die Menschen, die Regeln zu befolgen, damit wir in einer einigermaßen gerechten Gesellschaft leben können? Sie erfinden Geschichten oder verdrehen sie zu ihrem eigenen Vorteil. Sie überzeugen die Menschen von der Existenz eines höheren Wesens, das angeblich nur mit wenigen Auserwählten kommuniziert, aber trotzdem befolgen wir alles, was es sagt. Es steckt keine sehr komplizierte Idee hinter diesem Song – nur ein Angebot, die Gesellschaft mit offenen Augen zu betrachten und vielleicht zu versuchen, Dinge zu hinterfragen, auf die wir von Geburt an programmiert wurden, ohne eine wirkliche Erklärung zu haben. Die israelische Gesellschaft wird zunehmend religiöser, konservativer und hasserfüllter gegenüber Fremden. Die letzte Zeile bringt es auf den Punkt: „We thought we’re progressive / But everything’s moving too fast“. Das bezieht sich auf uns, das israelische Volk, wir sind stolz auf unser Militär und unsere technologischen Fähigkeiten, auf den Hi-Tech Sektor – wir nennen uns „a start-up nation“. Aber auf der anderen Seite gibt es Millionen von Unwissenden, die von religiösen Institutionen gestützt und von der Regierung finanziert werden, die Angst davor haben, wie schnell sich die Dinge entwickeln, und die zurück in ihre Dreckslöcher kriechen, zu den Ideen und Werten, die den Glauben als Antrieb zum Hass benutzen und eine „Wir gegen die“-Mentalität befördern.
Habt ihr damit gerechnet, dass die neu gebildete Koalition aus Likud und ultrarechten Parteien so schnell aktiv wird, um die Gesellschaft zu verändern? Stichwort: die geplante „Justizreform“.
Das Einzige, was sie mit der „Reform“ erreicht haben, war, sich selbst in den Fuß zu schießen, indem sie versucht haben, mit einem Staatsstreich davonzukommen, diesen so schnell und brutal durchzuziehen, ohne mit Widerstand zu rechnen – vielleicht sind sie also die Überrumpelten. Auch hier ist es ein Problem, wenn man keine Verfassung hat. Wer wollen wir als Nation sein? Was wollen wir repräsentieren? Die Idee der Rechten, dass die Regierung den Willen des Volkes, das sie gewählt hat, kompromisslos durchzusetzen hat, ist die Verkörperung des Faschismus. Am Ende steht ein wütender und gehirngewaschener Mob, der nur daran interessiert ist, „die Araber zu verarschen“ und jedes Mal immer weiter rechts wählt und demjenigen die Bühne überlässt, der am lautesten schreit – wie zuletzt dem rechtsextremen Siedler Itamar Ben-Gvir, unserem neuen Minister für Nationale Sicherheit. Das Schlimmste ist, dass wir uns als Gesellschaft so sehr verirrt haben. Die Opposition, die gegen die „Reformen“ und für den Erhalt unserer „Demokratie“ demonstriert, ignoriert immer noch die Tatsache, dass um sie herum eine Okkupation stattfindet. Dass es Millionen von Palästinensern gibt, die unter Kriegsrecht leben, die Tag für Tag unterdrückt, schikaniert, verhaftet und getötet werden, ohne Unterlass. Diese Menschen kommen zur Demonstration mit einer israelischen Flagge, um zu sagen: „Wir sind Israel.“ Doch wir können uns nur noch entscheiden zwischen dem rechten Flügel oder Ultra-Rechtsaußen.
„Me and you (We’ll tear the regime down)“. Angesichts der massiven Proteste gegen die Regierung wirkt dieser Songtitel fast schon prophetisch. Habt ihr damit gerechnet, dass so viele Menschen gegen die Justizreform auf die Straße gehen?
Wie ich schon über die Demonstranten gesagt habe, ich bin nicht beeindruckt. Aber ich bin auch kein Revolutionär. Die Auftritte mit JARADA sind die einzige Möglichkeit für mich, um meine Meinung zu äußern. Ich habe die Fragen beantwortet, nachdem ich den Beitrag eines Freundes gelesen hatte, der beschrieb, wie Polizisten an seine Tür klopften, weil er etwas in den sozialen Medien geschrieben hatte. Dabei handelte es sich nicht einmal um einen Aufruf zur einer Aktion oder gar Gewalt. In seinem Text machte er sich nur über die Polizei lustig, woraufhin Polizeibeamte an seiner Wohnungstür auftauchten, ohne Durchsuchungsbefehl, und ihn einfach auf die Wache mitnahmen zum Verhör. Es gibt ein berühmtes israelisches Lied mit dem Titel „Me and you (We’ll change the world)“. Es ist eine sehr naive und optimistische Hymne, die häufig in Bildungseinrichtungen gesungen wird. Unser Titel ist ein kleine augenzwinkernde Variation davon. Meine Vorstellung davon, das Regime zu stürzen, besteht darin, dem zionistischen Konstrukt ein Ende zu setzen und Israel als eine gleichberechtigte Nation neu aufzubauen. Leider glaube ich angesichts des auf allen Seiten herrschenden Klimas nicht, dass das jemals geschehen wird.
Inwieweit ist auch die Punk- Szene involviert?
Als Szene sind wir geteilter Meinung darüber, wie wir protestieren sollen. Einige nehmen an den Demonstrationen teil, einige bewegen sich sogar in einer viel kleineren Gruppe von echten linken Demonstranten. Einige können sich nicht mit der Idee anfreunden, in einem ein Meer aus israelischen Flaggen zu marschieren, und einigen gefällt einfach die Aktion und sie posten etwas online – für mich ist jeder Ansatz in Ordnung.
Welche Bedeutung hat der Song „Italian strike“?
Ein „italienischer Streik“ ist eine bekannte Wendung im Hebräischen, die bedeutet, dass man streikt, indem man zwar zur Arbeit erscheint, aber nicht wirklich arbeitet. Der Begriff „italienischer Streik“ stammt aus der Zeit Mussolinis. Nachdem er im faschistischen Italien die Gewerkschaften zerschlagen hatte, wurden Streiks schlicht verboten, also wurde gestreikt, indem man keinen Finger rührte, obwohl man am Arbeitsplatz anwesend war, es war ihre Art von Protest. Ich habe diesen Text geschrieben, als ich mich in einer existenziellen Krise befand, nachdem ich festgestellt hatte, dass sich mein gesamtes Leben auf ein paar mickrige Quadratkilometer beschränkt, wo ich lebe, arbeite, spiele ... und so wahrscheinlich auch endet. Der Titel ist mir eingefallen, nachdem ich die Schlusszeile verfasst hatte: „I wrote this song during work / In my eyes, it’s sort of a revenge“.
„No normalization with fascists / No co-existence with police“, singt ihr im Titeltrack. Wie erlebt ihr selbst die Cops?
Die Polizei ist immer ein nützliches Werkzeug für die Mächtigen, um sicherzustellen, dass sie da bleiben, wo sie sind. So viel Macht in die Hände von irgendwelchen Menschen zu geben, ist niemals eine gute Idee, wie praktisch überall auf der Welt bewiesen wurde – die Polizei ist immer auf der Seite der Herrschenden und gegen das Volk. Ich selbst habe es bisher geschafft, Schikanen der Polizei zu vermeiden, aber viele meiner Freunde wurden verhaftet, verprügelt oder einfach nur mitgenommen und zum Verhör festgehalten. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass wir schon zur „privilegierten“ Seite zählen. Ich habe bereits beschrieben, was auf der anderen Seite der Mauer vor sich geht. Also ist es nicht mehr als die Saat eines korrupten Regimes, das nach und nach die Methoden gegen die Menschen, die unter seiner Besatzung leben, auch gegen seine internen Gegner einsetzt. Dean, unser Bassist, wurde verprügelt und unter Anwendung von Gewalt verhaftet, nur weil er vom Straßenrand aus Fotos von der Polizeibrutalität während der Demonstrationen 2020 gemacht hat. Es gibt sogar ein Bild, das zeigt, wie er von einer Gruppe Polizisten gewaltsam zum Streifenwagen getragen wird.
„Tear down the settlements and sentence their leaders“ heißt der letzte Song. Wie realistisch ist diese Forderung?
Gar nicht. Wir sind weiter davon entfernt, als wir es jemals waren. Es ist ein böser Text, in dem ich mich nicht mit dem Ende des Siedlungsprojekts begnügen möchte. Diese Leute sind Kriminelle und verdienen es, verurteilt zu werden, zusammen mit der Regierung – und es war praktisch jede Regierung seit 1967, ob links oder rechts, die es den Siedlern erlaubte, zu expandieren, aus deren Reihen übrigens einige der schlimmsten „Messianics“ kommen, die den Mainstream, das Parlament und sogar die Regierung verseuchen.
Was erwartest du von der weiteren politischen Entwicklung, für dich selbst und auch für die Punk-Szene?
Ich habe das Gefühl, dass wir alle nur noch genervt und erschöpft sind. Ich weiß nicht mal, ob wir eine weitere JARADA-Platte machen, da ich momentan das Gefühl habe, dass ich alles gesagt habe, was ich zu diesen Angelegenheiten sagen musste. Für die Punk-Szene sind politische Krisen immer eine gute Basis. Die lokale Punk-Szene floriert derzeit, da sind coole Kids unterwegs, die sich für alles Mögliche interessieren und politisch viel bewusster sind, als wir es in ihrem Alter waren. Vielleicht ist das eine kleine Hoffnung für die Zukunft. Aber im Allgemeinen wird die Scheiße wahrscheinlich noch schlimmer werden.
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