Punk, Garagebeat und Krautrock sind in Japan überdurchschnittlich erfolgreich. Der Kultstatus von Musik Made in Germany beim japanischen Publikum ist hoch. International erfolgreiche Gruppen wie ACID MOTHERS TEMPLE oder MARBLE SHEEP und musikalisches japanisches Urgestein wie Keiji Haino behaupten sich auf einer internationalen Bühne mit einfallsreichen und künstlerisch originären Sounds. Die Einflüsse, Wurzeln und Wirkungen dieser im weitesten Sinne als Japadelic zu bezeichnenden Bewegung, die Industrial genauso nahe steht wie Drone, ist dieserorts weitestgehend unbekannt. Und selbst nach Julian Copes Buch „Japrocksampler“ (2007) bleiben unbekannte Bands, echte Klassiker der japanischen Undergroundszene, zu entdecken. Ein musikalisches Universum ist zu erkunden, das mehr Ähnlichkeiten zur westeuropäischen psychedelischen Musik offenbart, als die Geheimnisse einer unbekannten Sprache verbergen könnten.
In Japan begann das Phänomen Ende der 60er Jahre mit dem Covern von amerikanischen Psychedelic-Formationen wie JEFFERSON AIRPLANE, THE DOORS, VELVET UNDERGROUND oder GRATEFUL DEAD. Bands wie THE MOPS, DYNAMITES, GOLDEN CUPS, BLUES CREATION, APRYL FOOL und THE HAPPENINGS FOUR stehen am Beginn einer japanischen Popmusik, die ihre eigenen Stilelemente entwickelt und nicht beim epigonalen Kopieren verharrt. Manche ihrer smarten Coverversionen haben ihren Charme bis heute nicht verloren, wie etwa „Somebody to love“ von THE MOPS, im Original von JEFFERSON AIRPLANE.
Die 70er
Die musikalischen Experimente gingen mit gesellschaftlichen Veränderungen einher, die durch die Protestbewegungen Ende der 60er Jahre ausgelöst wurden. Waren es in Amerika die Musiker des Freejazz, die am dichtesten an der gesellschaftlichen Entwicklung waren, sind es in Japan die Musiker des Psychedelic gewesen, die in ihrer Musik ein kulturelles Spiegelbild der Gesellschaft entwarfen.
Es war vor allem die Stationierung von US-Truppen in Okinava und das „Engagement“ der Vereinigten Staaten in Vietnam, das den gesellschaftlichen Widerstand in Japan auslöste. Der Protest und die damit einhergehenden neuen Formen von ausdrucksorientierter, expressiver psychedelischer Musik und bildender Kunst gingen eine Symbiose ein, die auf eine lange Tradition in der japanischen Kultur zurückgreifen konnte. Diese Entwicklung ist vor allem deshalb besonders bemerkenswert, da in der japanischen Gesellschaft rigorose Antidrogengesetze existierten, die den Konsum psychedelischer Drogen nahezu unmöglich machten. THE JACKS und THE HELPFUL SOUL gehörten zu den Bands der ersten Stunde. Es folgten die in ihrem Einfluss kaum zu überschätzenden LES RALLIZES DÉNUDÉS mit ihrem an „dark music“ erinnernden Stil und Keiji Hainos erste, von dem amerikanischen Freejazzer Albert Ayler beeinflusste Band LOST AARAAFF. So wie die RALLIZES sich Anfang der Siebzigerjahre in die mystische Richtung bewegten, verschmolz die Musik von Keiji Haino später immer mehr mit der psychedelischen Untergrundszene von Tokio.
Anfang der Siebzigerjahre entstehen wichtige und einflussreiche Alben und Aufnahmen. Die Musiker verarbeiten zahlreiche Einflüsse aus Westeuropa und USA. Dazu gehören Alben wie „Sunrise From The West Sea Live“ von STOMU YAMASHTA AND THE HORIZON und – ein absoluter Klassiker – von LOVE LIVE LIFE + 1 das Album „Love Will Make A Better You“ (1971). Eine wichtige Rolle spielen auch Kosugi Takehisa und seine TAJ MAHAL TRAVELLERS, die mit „Catch Wave“ einen Meilenstein ablieferten: „TAJ MAHAL TRAVELLERS’ music is not merely silence but performed silence“. (Julian Cope, Japrocksampler, 1976)
Stomu Yamashtas Alben Mitte der 70er Jahre gehen in eine Richtung, die stark von europäischen Elementen beeinflusst wird. Hinzu kommen die Wechselwirkungen zwischen den japanischen Psychedelikern, die innovative technische Entwicklungen im Bereich der elektronischen Musik und deutschen Krautrock mit seinen Elektronikfricklern in ihren Sound integrierten. Dies zeigen vor allem die vielfältigen Kooperationen von japanischen und europäischen Musikern. Yamashtas gemeinsames Projekt mit Steve Winwood, Al Di Meola und Klaus Schulze ist nur ein Beispiel von vielen.
Bands wie WHITE HEAVEN waren dagegen eher vom Gitarrensound der amerikanischen Westküste beeinflusst. Eine Band wie MARBLE SHEEP zeigt mit ihrer Entwicklung in den 80er und 90er Jahren anschaulich die verschiedenen Einflüsse von GRATEFUL DEAD, AMON DÜÜL, AMON DÜÜL 2 und GURU GURU. Und so wie die 1984 in Tokio gegründete Band GHOST maßgeblich durch Krautrock beeinflusst wurde, findet man z. B. bei Kawabata Makoto (ACID MOTHERS TEMPLE) Anleihen von GONG und HAWKWIND, Einflüsse von Stockhausen und Krautrock. Gerade diese mehr oder weniger deutlichen Anleihen bestehen bis in die 90 Jahre hinein, bis sich eine zunehmende Emanzipation von solchen Einflüssen und eine immer größere Integrationsfähigkeit bei gleichzeitiger Eigenständigkeit entwickelt. Die Liste der Band könnte noch um einige Einträge erweitert werden, aber mit MARBLE SHEEP und Kawabata Makoto soll hier die weitere Entwicklung exemplarisch skizziert werden.
Die 90er: Japedelic rises
Mitte der 90er Jahre wird die psychedelische Musik in Japan neu erfunden. Ken Matsutani, Gründer von MARBLE SHEEP, sieht die Geburtsstunde seiner Band im Jahr 1987. MARBLE SHEEP durchlaufen in den folgenden Jahren eine Entwicklung von GRATEFUL DEAD-artiger Musik hin zu einem von Noise, Drone und Hardrock beeinflussten Psychedelic-Sound. Auf dem unter dem Namen MARBLE SHEEP & THE RUN DOWN SUN’S CHILDREN aufgenommenen Album „Twiga“ (1993) sind die Einflüsse von Jerry Garcias Gitarrenspiel noch deutlich herauszuhören. Das zwei Jahre später mit einer Liveaufnahme von 1994 aufwartende Album „Psychedelic Paradise“ (1995) skizziert schon das, was später unter Japedelic zu verstehen sein wird: endlos lange Improvisationen, die sich langsam von den Melodielinien entfernen, Einbrüche von Geräuschcollagen, Noise, Industrial, das brachiale Donnern eines massiven Sounds.
Die Vorläufer der Noise-Richtung, die Meister der freien Improvisation, wie etwa Abe Kaoru und Takayanagi Masayuki, hatten wesentlichen Einfluss auf Musiker wie den Gitarristen Kawabata Makoto, die sich immer mehr freieren Spielstrukturen näherten. Kawabata Makoto gründete 1995 das „Improvisationskollektiv“ ACID MOTHERS TEMPLE. Daraus entstanden verschiedenen Bandprojekte mit unterschiedlichen musikalischen Schwerpunkten.
Neben Ken Matsutanis Captain Trip Records und Ikeezumi Hideos Label PSF, die für die Veröffentlichungsmöglichkeiten sorgen, sind die Netzwerke der Musiker wesentlicher Bestandteil der Szene. Hier wurden und werden Grenzen neu definiert. Man integrierte freie Improvisationen in eigene Musikkonzepte und steht in direkter Verbindung zu den Noise-Produktionen der Gegenwart. Einflussreiche Namen sind weiterhin Keiji Haino, der mit nahezu jedem in der Psychedelic- und Noise-Szene gespielt hat und Musiker wie Masami Akita, der 1979 das Noise-Projekt MERZBOW gründete und bis heute kreativ und ideenreich weiterentwickelt hat. Sein zusammen mit der Band BORIS vorgelegtes Album „Rock Dream“ (2008) dokumentiert seinen Einfluss und seine Bedeutung für Japedelic.
Die mehr dem Noise, Drone oder spätem Industrial zuzurechnenden Musiker sind für die Weiterentwicklung von Japedelic ebenso wichtig wie die Einflüsse von Bands wie AMON DÜÜL, AMON DÜÜL 2, CAN, NEU! oder GURU GURU und Musikern wie Klaus Schulze und Manuel Göttsching (COSMIC JOKERS). An der Schnittstelle zur Rockmusik und auf dem schmalen Grat zwischen den Genres wird die kreative Grenze durch Musiker ausgelotet, die sich jeden Abend neu erfindenden. Die verbindende, projektorientierte Arbeit in verschiedenen Formationen ist eines der Erfolgsrezepte von Japedelic.
Musiker mit Label: Ken Matsutani & Captain Trip Records
Wichtiger Erfolgsfaktor für Japedelic sind kleine Plattenlabels, eng verbunden mit einem Netz von lokalen Musikläden und Clubs, über die das Publikum direkt zu erreichen ist. Tokio bietet mit über 150 Clubs gute Auftrittsmöglichkeiten, ebenso wie Kyoto und Osaka. Eines der kleinen unabhängigen Labels ist Ken Matsutanis Captain Trip Records in Tokio, 1990 von Matsutani, dem Gitaristen und Bandleader von MARBLE SHEEP zur Eigenvermarktung gegründet. Der Backkatalog des Labels umfasst eines der umfangreichsten Sortimente von neuer Musik aus den Bereichen Psychedelic, Noise, Drone, Psychedelic Drone, Rock und Electronic. Das Programm gibt mit mittlerweile über siebenhundert Veröffentlichungen einen Einblick in die letzten zwanzig Jahre psychedelischer Musik in Japan. Das Label entstand parallel zur Weiterentwicklung von Matsutanis Band MARBLE SHEEP & THE RUN-DOWN SUN’S CHILDREN, später nur noch MARBLE SHEEP genannt. Ausgehend von amerikanischen Vorbildern, von Minimal- und Heavy-Rock beeinflusst, hat die Band einen eigenen Stil entwickelt, der vor allem auf der Doppelbesetzung des Schlagzeugs und einer optionalen doppelten Bassbesetzung basiert. Der druckvolle, mit zwei Gitarren gespielte Sound ist einem abgedrifteten, harten, spacigen Psychedelic verschrieben, der auch mal in dreißigminütige Improvisationsorgien übergeht. Für Matsutani ist es „Space Punk Rock“. Treffender ist wohl die Beschreibung der Musik als ein Gleichgewicht zwischen „Chaos & Paradise“.
Japedelic im 21. Jahrhundert
Die Pioniere der Neunzigerjahre haben ihre musikalischen Ansätze konsequent weiterentwickelt. Neben den erwähnten unabhängigen Plattenfirmen haben The Sonic Plate und Zero Gravity für neue Entwicklungslinien gesorgt. Musiker und Künstler wie Nagata Kazunao, Bands wie BORIS und DUB SONIC mischen Einflüsse von Psychedelic, Electronica, Drone, Doom und Metal und sorgen für eine „ästhetische Rückkoplung“ mit den Veteranen des Genres wie Keiji Haino. Die Auslotung der kreativen Möglichkeiten bleibt den Grenzgängern und den „Exzentrikern“ überlassen, die sich zwischen Japedelic, Metal, Doom, Drone, Industrial und Rock bewegen, und die die Kunst beherrschen, die Musik und die Kreativität zu zelebrieren und sich und ihre Musik immer neu zu erfinden.
captaintrip.co.jp | psfrecords.co | merzbow.net | acidmothers.com
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #85 August/September 2009 und Thomas Neumann