Über Hubert Selby Jr. schrieb die Los Angeles Times mal "A major American author of a stature with William Burroughs and Joseph Heller" und die New York Times "To understand Selby´s work is to understand the anguish of America". Sicherlich keine Übertreibung, denn Selbys überschaubares Hauptwerk mit den Romanen "Letzte Ausfahrt Brooklyn" (1964), "Mauern" (1971), "Der Dämon" (1976), "Requiem für einen Traum" (1978), "Willow Tree" (1998) und der Kurzgeschichtensammlung "Lied vom stillen Schnee" (1986) gehört zum spannendsten und aufrüttelndsten, was die amerikanische Gegenwartsliteratur zu bieten hat. Selby zerlegt in seinen von Brutalität und Perversion durchzogenen Büchern den "American Dream" wie kein anderer, dabei entblößt er die dunklen Seiten der menschlichen Natur und deren anti-sozialen Triebkräfte. Die Besessenheit seiner Figuren grenzt nicht selten an Selbstzerstörung, dennoch erzeugt Selby in erstaunlich authentisch-mitfühlender Art sogar Verständnis für deren Verzweiflung und fehlgeleitete Hoffnungen, trotz aller Unerbittlichkeit, mit der er vor der Kulisse der tödlichen Welt unserer Großstädte die menschliche Seele seziert – ein moderner Klagegesang voller Schmerz und Leid. Diese Qualitäten brachten seinem Romandebüt "Letzte Ausfahrt Brooklyn" bei Erscheinen in England einen Obszönitäts-Prozess ein, in Italien wurde das Buch ebenfalls verboten.
Geboren wurde Selby am 23. Juli 1928 im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Mit 15 verliess er die Schule und ging zur See und arbeitete für die Handelsmarine. In den letzten Tagen des 2. Weltkriegs bekam er in Deutschland Tuberkulose und verbrachte fast vier Jahre im Krankenhaus – wirklich erholt hat sich sein Körper von dieser Krankheit niemals. Danach nahm er diverse Jobs als Tankwart, Sekretär und Versicherungsangestellter an, bis er 1956 mit dem Schreiben anfing. Seit Ende der 60er lebt er in Los Angeles, wo er u.a. Drehbücher fürs Fernsehen schrieb und kreatives Schreiben unterrichtete. Er war drei Mal verheiratet und ist Vater von vier Kindern. Musiker wie Lou Reed, Kurt Cobain, Bob Mould und Henry Rollins zählen ihn zu ihren Inspirationsquellen, und letzterer veröffentlichte auf seinem Label 2.13.61 Records in den 90ern eine Neuauflage von "Letzte Ausfahrt Brooklyn" und die Spoken Word-CD "Live in Europe 1989".
Im letzten Jahr stellte der amerikanische Regisseur Darren Aronofsky, der nach PI (1998) zu den heissesten Newcomern in Hollywood gehört, seine Leinwand-Adaption von Selbys Roman "Requiem für einen Traum" in Cannes vor, in den Hauptrollen Ellen Burstyn, Jared Leto und Jennifer Connelly. Bereits 1989 gab es unter der Regie von Uli Edel eine Verfilmung von "Letzte Ausfahrt Brooklyn" mit Jennifer Jason Leigh, produziert von Bernd Eichinger. Selby taucht hier kurz als Taxifahrer auf. Vielleicht gelingt "Requiem..." jetzt das, was Selby mit seinem letzten, sehr milde geratenen Buch "Willow Tree" nicht gelang, ihm und seinem Werk wieder eine etwas breitenwirksamere Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das Potential dazu hätte Aronofskys Film, der visuell einfach phantastisch ist und den Abstieg von Selbys Figuren – drei Junkies und eine TV-besessene Witwe, deren Träume sich in tödliche Alpträume verwandeln – als vollkommen abgefahrenen, niederschmetternden Höllentrip inszeniert. Das macht ihn zu einem der interessantesten US-Indies der letzten Jahre und zu einer perfekten Umsetzung von Selbys Roman, da er mit einer Intensität aufwartet, die man nur noch selten im Kino geboten bekommt. Ein Starttermin in Deutschland steht momentan leider noch nicht fest. Anlass genug jedenfalls, diese Ikone der US-Literatur per Telefon zu einem Interview zu bitten.
Hallo Mr. Selby! Wie geht es ihnen?
Danke, sehr gut, denn ich habe gerade mein neues Buch fertig bekommen.
Tatsächlich! Können sie kurz was zum Inhalt sagen?
Der Titel lautet "Waiting Period" und es geht um einen Mann, der so deprimiert ist, dass er sich umbringen will. Das Ganze basiert auf einem Witz, einem sehr philosophischen Witz allerdings. Also überlegt er sich, wie er es am besten anstellen könnte, und entscheidet sich schliesslich für eine Pistole, das scheint ihm die sicherste Möglichkeit zu sein. Doch als er sich eine Waffe besorgen will, gibt es ein Computerproblem und er muss einige Tage warten, bis er die Waffe bekommt. In dieser Zeit geht ihm plötzlich auf, dass er nicht sich, sondern die Leute töten sollte, die ihn tagtäglich nerven. Er will aber nicht einfach herumlaufen und Leute umbringen, um schliesslich selber getötet zu werden, sondern man soll es für einen natürlichen Tod halten. Also vergiftet er z.B. ihre Nahrung mit Kolibakterien und hat sehr viel Spass dabei, haha.
Quasi eine moderne Version von "Der Dämon"?
Nein, es ist anders. Es ist eigentlich anders als alles, was ich bisher geschrieben habe. Es gibt keinen Erzähler, nur diesen Typen und eine Stimme aus dem Himmel, die hin und wieder zu ihm spricht. Auch anders als in "Mauern", denn da spielt sich ja alles nur im Kopf einer Person ab.
Klingt auf jeden Fall sehr interessant. Gibt es schon konkrete Veröffentlichungspläne?
Keine Ahnung. Ich bin erst mal froh, dass es fertig ist. Mein langjähriger Verlag in England, Marion Boyars Publishers Ltd., wird es sicher verlegen. Marion Boyars verstarb zwar leider vor ca. einem Jahr, aber ihre Tochter Catheryn Kilgarriff hat den Verlag übernommen – der Name wurde allerdings beibehalten.
Ihr Buch "Requiem For A Dream", das jetzt vom <pi>-Regisseur Darren Aronofsky verfilmt wurde, basierte ebenfalls auf einem "Witz", wie man häufig lesen kann. Wie ist das zu verstehen?
"Witz" ist vielleicht der falsche Begriff. Ich hatte, als ich anfing es zu schreiben, eine Schwarze Komödie im Sinn, ursprünglich nur ein paar Seiten, aber es entwickelte sich immer weiter, bis mir klar wurde, dass ich an einem neuen Buch schrieb. Dann war es nicht länger ein Witz, sondern eine ernsthafte Geschichte.
Sie haben "Requiem For A Dream" sicherlich inzwischen gesehen. Was halten Sie davon?
Natürlich habe ich ihn angeschaut, bei der Premiere in Cannes letztes Jahr, und finde ihn wirklich ganz hervorragend. Darren Aronofsky hat das sehr gut hinbekommen. Es waren ca. 3.000 Leute im Kino und es gab tosenden Applaus. Es hörte gar nicht mehr auf, erst als wir das Kino verliessen.
Hat sie diese positive Reaktion überrascht?
Ich weiss nicht, ob ich überrascht war oder nicht. Ich war auf jeden Fall sehr glücklich und ganz überwältigt von der Qualität des Films.
Ich frage deshalb, weil der Film in den USA einige Probleme mit der Freigabe hatte. Er bekam wegen einiger vermeintlich anstössiger Sexszenen das Rating NC-17, womit er für Jugendliche nicht mehr ohne weiteres zugänglich ist.
Ja, das ist eine ganz idiotische Geschichte. Das ist halt Amerika, dieses Land ist in vielen anderen Dingen ähnlich beschränkt.
Sie haben ja das Drehbuch zusammen mit Darren Aronofsky geschrieben. Wie weit waren sie darüber hinaus beteiligt?
Ich war insgesamt nur eine Woche am Set, meine Beteiligung war also eher gering. Mein kleiner Auftritt hat mir aber dennoch ziemlichen Spass gemacht. Ich bin sicherlich einer der fiesesten Gefängniswärter, den man sich vorstellen kann, haha.
Ich hatte nur das Gefühl, dass "Requiem..." im Vergleich zum Buch insgesamt etwas kurz geraten ist. Ging ihnen das ähnlich?
Eigentlich nicht. Wenn er noch länger wäre, könnte es passieren, dass die Leute nicht mehr lebend das Kino verlassen. Er ist in emotionaler Hinsicht unglaublich hart.
In "Requiem..." geht es oberflächlich betrachtet um Drogenabhängigkeit, wie sehen ihre eigenen Erfahrungen damit aus?
Nach dem Krieg verbrachte ich einige Jahre im Hospital, ich hatte Tuberkulose. Sie schnitten mir diverse Rippen heraus und ich wurde als Folge davon von so vielen Dingen abhängig, Morphium, Heroin, Alkohol, ich weiss gar nicht mehr, was sonst noch alles, haha. Ich weiss aber nicht, ob ich dem Bild des klassischen Drogenabhängigen entsprach. Das hängt immer vom persönlichen Blickwinkel ab und der jeweiligen Definition von Drogenabhängigkeit. Der typische Drogenabhängige ist für mich Sara Goldfarb in "Requiem...", und es gibt sicherlich Millionen andere Frauen wie sie in diesem Land und ebenso viele Männer, die ihr Leben lang mit einer ähnlichen Form von Abhängigkeit zu kämpfen haben.
Ist das Thema denn noch zeitgemäss? Das Buch haben sie Ende der 70er geschrieben.
Ich denke schon, aber das ist eigentlich bei all meinen Büchern der Fall. Gerade junge Leute machen deshalb komischerweise den grössten Teil meiner Leser aus. Ich glaube, sie mögen vor allem, dass meine Bücher so ehrlich sind. Das gilt auch für die Verfilmung von "Requiem...", es ist mittlerweile selten geworden, dass man so ehrliche Filme auf der Leinwand sieht.
Seine Attraktivität für ein jüngeres Publikum hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass "Requiem..." sehr stylish und Videoclip-mässig ist.
Natürlich, Darren Aronfsky nennt das übrigens Hip-Hop-Montage. Ich weiss nicht wirklich, was er damit meint, aber es hat sicher damit zu tun, dass er früher sehr viel Hip-Hop gehört hat. Für ihn besteht die Verbindung dabei wohl im Tempo des Schnitts und der Bilder.
Ihr erster Roman "Letzte Ausfahrt Brooklyn" wurde bereits 1989 verfilmt. Gefällt der Ihnen genauso gut?
Ich mag den Film eigentlich sehr und halte das Drehbuch für extrem gelungen. Was ich besonders mag, ist, dass die düstere Stimmung des Buches erhalten wurde, ebenso wie seine individuelle Erzählstruktur. Vielleicht ist der Film im Vergleich zum Buch weniger hart, aber im Vergleich zu anderen Filmen ist er immer noch hart und realistisch genug. Natürlich ist es immer ein Problem, wenn man ein gutes Buch nimmt und daraus einen Film macht. Das Hauptproblem ist, dass die Leute, die das Buch lesen, ihre individuelle Vorstellungskraft nutzen, und insofern wird das, was hinterher auf der Leinwand auftaucht, nur in den seltensten Fällen ihren Vorstellungen entsprechen. Ausserdem hat jedes Buch seine eigenen Emotionen und sinnlichen Eindrücke, die man niemals genau reproduzieren kann.
Was halten sie von anderen Verfilmungen sogenannter "unverfilmbarer Bücher" z.B. "Naked Lunch" von William S. Burroughs?
Grundsätzlich mag ich Bills alte Sachen, aber irgendwann habe ich nicht mehr kapiert, worum es eigentlich geht und konnte da geistig nicht mehr richtig mithalten, haha. David Cronenbergs Version fand ich recht lustig. Wenn man sich so etwas anschaut, muss man wirklich in der Lage sein, die Buchvorlage zu vergessen und es als eigenständige Sache betrachten. Das kann bis zu einem gewissen Punkt manchmal sehr unterhaltsam sein, ist aber natürlich schwierig umzusetzen. Es gibt nicht viele Bücher, bei denen das funktioniert. Hemingway hätte sich sicher niemals einen Film angesehen, der auf einem seiner Bücher basiert. Obwohl "Der alte Mann und das Meer" oder "Wem die Stunde schlägt" gar nicht so schlecht sind – mir haben sie jedenfalls gefallen.
Wenn man ihre Bücher liest, bekommt man oft den Eindruck, sie würden ihre Charaktere, die sie durch eine Hölle aus Leid und Schmerz jagen, nicht besonders lieben. Wie sehen sie das?
Ja, manchmal habe ich wirklich Schwierigkeiten damit. Das war das Schöne, als ich am Set von "Requiem..." war und sah, wie alles zum Leben erwachte und nicht mehr nur in meinem Kopf existierte. Dabei habe ich gemerkt, wie sehr ich die Figuren doch eigentlich liebe. Aber es ist nach wie vor vollkommen niederschmetternd, was sich Menschen alles antun können.
Also sind sie doch kein Misanthrop.
Ich kann verstehen, wenn jemand diesen Eindruck von mir hat, haha. Aber es gibt da sicherlich auch eine andere Betrachtungsweise. Denn man kann sich das Verhalten der Menschen in meinen Büchern anschauen, und dabei die Gründe dafür herauslesen, warum wir uns so verhalten, wie wir uns eben leider tagtäglich verhalten.
In der Regel werden die meisten ihrer Charaktere von ihren inneren Dämonen ins Unglück getrieben, die natürlich alle irgendwie ihrem Kopf entsprungen sind. Finden sie da überhaupt noch selber in den Schlaf?
Auch Dämonen müssen sich mal ausruhen, haha. Ich weiss nicht, ob ich mehr innere Dämonen besitze als andere Leute, vielleicht schenke ich ihnen einfach nur mehr Beachtung, indem ich sie freilege und in literarischer Form verarbeite.
Eine Form von Katharsis?
Ich kann nicht beurteilen, in welchem Umfang das einer Katharsis gleichkommt. Vielleicht wäre ich verrückt geworden oder wäre Amok gelaufen, wenn ich nicht zum Schreiben gekommen wäre, wer weiss.
Soll es denn für die Leser eine Katharsis sein?
Von dem ausgehend, was ich in dieser Hinsicht an Reaktionen von Lesern bekommen habe, kann man das durchaus sagen. Es ist vielleicht nicht unbedingt eine wirkliche Katharsis, aber es ermöglicht vielen Leuten, mit unliebsamen Sachen in ihrem Leben besser umzugehen, was eine tolle Sache ist: Loving the unlovable!
Sie haben mal in einem älteren Interview gesagt, dass sie an einem Punkt in ihrem Leben generell nicht mehr in der Lage gewesen wären, zu lieben. Wie ist das zu verstehen?
Das dachte ich damals wirklich. Ich dachte, ich hätte diese Fähigkeit nicht und würde sie auch niemals erlangen, bis ich erkannte, dass niemand ohne diese Fähigkeit auskommen kann und dass ich sie natürlich auch hatte. Aber ich habe lange nach diesen Antworten gesucht, fast mein ganzes Leben.
Wie sehr sind sie in ihren Büchern denn eigentlich um Realität bemüht? Man kann, glaube ich, nicht davon sprechen, dass Sie eine Art Porträt ihres damaligen Lebensumfelds Brooklyn im Sinn hatten.
Als die Leute aus meiner Nachbarschaft mein erstes Buch in Finger bekamen, stellten sie mir dieselbe Frage. Unter diesem Gesichtspunkt sind meine Bücher sicherlich nicht sehr authentisch. Ich denke aber, was die Emotionen der Menschen betrifft, sind sie sehr authentisch. Das ist der eigentliche Realitätsanspruch in meiner Arbeit. Ich beschreibe auch sehr selten konkrete Orte, es sind die Menschen, die die Story lebendig werden lassen. Ich versuche meinen Figuren gegenüber den nötigen Respekt aufzubringen und so die bestmögliche Geschichte zu erzählen.
Für ihr erstes Buch "Letzte Ausfahrt Brooklyn" haben sie noch sechs Jahre gebraucht, für "Requiem..." später nur noch sechs Wochen. Eine ziemlich lange Zeit. Ist es nicht ein Problem, über so einen langen Zeitraum ein gleichbleibendes Interesse für ein bestimmtes Thema aufzubringen?
Kann sein, aber ich habe für viele Sachen Jahre gebraucht. Es hält einen auch irgendwie am Leben. Für mich war es ein Abenteuer, da ich zu diesem Zeitpunkt erst einmal lernen musste, wie man überhaupt ein Buch schreibt. Ich war so damit beschäftigt, zu lernen, überhaupt eine einzelne Zeile zu schreiben, dass ich gar keine Zeit hatte zu realisieren, was ich da tat. Mein Antrieb war damals, etwas vernünftiges in meinem Leben zustande zu bringen, bevor ich starb. Ich wollte mein restliches Leben nicht verschwenden. Die Vorstellung, kurz vor seinem Tod zu stehen und das Gefühl zu haben, sein komplettes Leben bedauern zu müssen bzw. es am liebsten noch einmal gelebt hätte, hat mir ziemliche Angst gemacht. Das ist das Schlimmste, was einem passieren kann, auf sein Leben zurückzublicken und zu erkennen: du hast es versaut.
Mit dem Gedanken, sie könnten am nächsten Tag schon tot sein, wurden sie in ihrem Leben wahrscheinlich stärker konfrontiert als die meisten anderen Menschen.
Ich denke schon, denn man hatte mich bereits so oft aufgegeben. Ich wurde für tot erklärt, bevor ich überhaupt geboren wurde. 1946 gab man mir höchstens noch zwei Monate und 1988 waren sich zwei Ärzte basierend auf ihren medizinischen Kenntnissen sicher, dass ich quasi tot wäre. Jetzt bin ich trotzdem 73 geworden, aber bin mir der Möglichkeit des drohenden Todes sehr bewusst. Viele Leute verdrängen diese Gedanken und finden deshalb auch niemals etwas über das Leben heraus. Ich glaube, man findet erst etwas über das Leben heraus, wenn man stirbt.
Kommen wir noch mal zum Prozess des Schreibens zurück. Kann man Schreiben ihrer Meinung nach tatsächlich lernen? Dazu gehört ja auch eine gewisse Kreativität.
Wie sonst lernt man Sachen, nur indem man sie tut. Für mich ist Kunst harte Arbeit. Kreativität fällt nicht vom Himmel, höchstens in einem Hollywood-Film. Einstein hat mal gesagt, glaube ich, es würde sich dabei um 2% Genialität und 98% Schweiss handeln. Das war mit allem so, was ich in meinem Leben angepackt habe, denn ich habe keine natürlichen Talente. Ich war kein toller Athlet, ich war kein guter Mechaniker, ich war kein begabter Zeichner, aber ich war davon besessen, etwas sinnvolles mit meinem Leben zu tun, bevor ich sterbe. Deshalb setzte ich mich jeden Abend nach der Arbeit hin und begann zu schreiben, bis ich es gelernt hatte.
Sie scheinen ihr Ziel erreicht zu haben, denn viele Leute halten Hubert Selby Jr. für den momentan größten lebenden amerikanischen Schriftsteller.
Aber sicherlich nicht in diesem Land, haha. Ich bin wahrscheinlich der am meisten ignorierte Schriftsteller, den die USA jemals hervorgebracht hat. Ich habe nie wirklich Geld damit verdient, meine Bücher wurden zwar veröffentlicht, aber es war niemals genug, um davon zu leben. Es ärgert mich, dass immer dieselben Leute Auszeichnungen oder Fördergelder bekommen. Ich habe niemals auch nur einen Penny gesehen. Das bricht mir das Herz, denn nach 40 Jahren sollte man endlich anerkennen, dass ich ein guter Schriftsteller bin. Es gibt natürlich auch in diesem Land Kritiker, die meine Arbeit zu schätzen wissen und sehr wohlwollend sind. Es gibt auch sehr viele junge Schriftsteller, die meine Arbeit mögen und mich als Inspirationsquelle bezeichnen. Ich werde also nicht völlig ignoriert, aber der literarische Zirkel lehnt mich ab, weshalb ich nie finanzielle Förderungen von irgendeiner Institution bekommen habe.
Haben sie das Gefühl, man hat sie vielleicht vergessen, weil zwischen "Willow Tree" und "Requiem..." 20 Jahre ohne ein Lebenszeichen von Hubert Selby Jr. vergangen sind, sieht man mal von der Kurzgeschichten-Sammlung "Lied vom stillen Schnee" ab?
Manchmal vergessen einen die Leute schon nach drei Wochen. Die Leute werden leider immer vergesslicher, haha.
Jemand, der sie besonders schätzt und in der Vergangenheit auch mehr als andere unterstützt hat, ist sicherlich Henry Rollins. Was für ein Verhältnis haben sie zu ihm?
Henry und ich sind richtig gute Freunde. Er ist ein sehr netter Mensch, offen, intelligent und ehrlich, ich mag ihn sehr. Wir haben zwar in letzter Zeit Probleme, uns zu treffen, da er immer unterwegs ist, entweder mit seiner Band oder alleine, oder er ist im Studio und nimmt eine neue Platte auf. In der Vergangenheit haben wir sehr viel zusammen gemacht, z.B. 1998 eine grössere Spoken Word-Tour durch die USA.
Viele halten ihn für den "hardest workin´ man in rock".
Mein Gott, das ist noch eine Untertreibung, er ist sicherlich der am härtesten schuftende Mensch auf diesem Planeten, haha.
Mögen sie seine Musik?
Ich höre eigentlich eher klassische Musik. Ich war mal bei einem Konzert der ROLLINS BAND hier in L.A., die Lautstärke war schon sehr schmerzhaft. Glücklicherweise war ich hinter der Bühne, da war es nicht so laut. Für mich war es komisch, dass die Leute nicht zum Konzert gingen, um es sich in Ruhe anzuhören, sondern kämpften und von der Bühne sprangen. Das habe ich nicht so richtig verstanden, haha.
Auch eine Form von Katharsis.
So kann man das natürlich auch sehen.
Sie hatten vorhin junge Schriftsteller angesprochen, die ihre Arbeit sehr schätzen, gehört dazu auch jemand wie Bret Easton Ellis, ein nicht ganz unumstrittener Autor, bzw. mögen sie ihn überhaupt?
Ich habe nur sein erstes Buch "Unter Null" gelesen, aber ich mag es nicht. Ich sehe da auch keine Verbindung zu meinen Sachen. Drücken wir es mal so aus: jede Art von Kunst sollte etwas in mir verändern und zu einem Ergebnis führen. Alles, was am Ende von "Unter Null" herauskommt, ist Selbstmitleid. Das Ganze führt zu nichts. Diese verwöhnten Typen sitzen herum und bemitleiden sich selber, während Papa und Mama in Palm Springs rumhängen. Wen interessiert dieser Mist? Ich hatte wirklich das Gefühl, komplett meine Zeit verschwendet zu haben. Arme reiche Muttersöhnchen. Vielleicht sollten sie sich mal einen richtigen Job besorgen.
Sie scheinen doch irgendwie ein ausgeprägter Moralist zu sein.
Das ist das grösste Problem, das ich mein ganzes Leben hatte. Es hat mir echt zu schaffen gemacht, dass ich so ein verdammter Moralist bin. Dieser ganze Wahnsinn der tagtäglich abläuft, macht mich völlig fertig. Vor allem der Umstand, in einem gewalttätigen Land zu leben, das seine eigenen Bürger umbringt. Wir lieben Strafen in diesem Land über alles und deswegen auch, Leute umzubringen, vor allem in südlichen Staaten wie Texas, Virginia oder Florida. Die ganze Idee, Töten durch erneutes Töten zu beenden, ist komplett lächerlich. Ich bin seit mehr als 25 Jahren ein erbitterter Gegner der Todesstrafe und ein Mitglied von Amnesty International. Obwohl, vielleicht hören die das gar nicht so gerne, haha.
Wie definieren sie denn unter dem Gesichtspunkt Moral wer oder was "böse" ist?
Ich weiss nicht wirklich, was "böse" ist. Wenn Faust seine Seele an den Teufel verkauft, ist er dann böse? Keine Ahnung. Ist Sadam Hussein böse? Er ist sicherlich nicht besonders gut zu seinem Volk, aber sehe ich ihn deshalb als böse an? Ich weiss es nicht. Ich glaube, dass die einzige Möglichkeit, die Welt wirklich zu verändern, ist, mich zu verändern. Da liegt meine Verantwortung. Dazu muss ich ehrlich zu mir sein und meine Ängste aufdecken, sie nicht gewähren lassen, und nicht selbstsüchtig sein. Und wenn ich durch Amnesty International einen Brief an ein Staatsoberhaupt eines Landes schreibe, in dem gefoltert wird, muss ich trotzdem in der Lage sein, diese Leute zu lieben, die Frauen und Kinder abgeschlachtet haben. Ansonsten komme ich der Lösung nicht näher, sondern bin nur ein Teil des Problems.
Mr. Selby, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #45 Dezember 2001/Januar/Februar 2002 und Thomas Kerpen