Wenn sich Leiden so schön anfühlt, dass es niemals aufhören sollte, und manche Worte so verdammt groß und wichtig werden, dann entfaltet Musik endlich ihren wahren Sinn. Sie ist Inspiration, Medizin und irgendwie auch Droge. Schon auf der Debüt-EP und dem darauf folgenden Album „The Earth Pushed Back“ kombinierten HAVE MERCY atmosphärische Emo-Rock-Songs der alten, guten Schule mit fesselnden Texten, durch die auf einmal viele Sachen kristallklar erschienen. Das neue Album „A Place Of Our Own“ macht deutlich, warum es gar nicht genug Bands wie HAVE MERCY geben kann und dass ein Leben ohne Schicksalsschläge nicht funktioniert.
Der Zwiespalt, einer Band den größtmöglichen Erfolg zu gönnen und sie eigentlich doch ganz für sich allein haben zu wollen, entsteht vor allem dann, wenn man glaubt, dass die Songs nur für dich geschrieben wurden. „Unser Sänger Brian bringt meist alle Songideen mit zur Probe und wir basteln dann etwas zusammen. Was er dieses Mal aber textlich abgeliefert hat, berührt mich bis heute immer noch sehr.“ HAVE MERCY-Bassist Nick sitzt in einer New Yorker Wohnung auf der Couch und versucht zu beschreiben, wie es ist, nicht einfach nur schlicht jeden Abend auf der Bühne seinen Job zu machen, sondern immer und immer wieder etwas Besondreres dabei fühlen zu dürfen. „In der kurzen Zeit, die wir mit unserer Musik unterwegs sind, habe ich erfreulich viele Momente erlebt, in denen die Leute unsere Texte mitgesungen und sich nach dem Konzert bei uns bedankt haben. Ich schätze das zutiefst, kann es aber irgendwie immer noch nicht glauben.“
Im Fahrwasser von TEXAS IS THE REASON, MINERAL und ELLIOTT spielten sich die vier Amerikaner schnell in die Herzen derer, die glauben, den wahren Emo hinter sich gelassen zu haben, und dabei nie wirklich loslassen konnten. Mit „A Place Of Our Own“ hat die junge Band ein Album aufgenommen, das erwachsen klingt und viel zu erzählen hat. „Seit wir uns in der Schule zum ersten Mal getroffen haben, wusste ich, dass es zwischen uns eine besondere Verbindung gibt“, blickt Nick auf die Entstehungszeit der Band zurück. „Dass ich Brian und seine Texte aber so intensiv verstehen werde, hätte ich nicht gedacht.“ Dass es das Schicksal nicht immer gut mit einem meint, hat der Sänger in den letzten Jahren am eigenen Leibe erfahren dürfen. Er durchlebt das Ende einer langen Beziehung, muss erkennen, dass wahre Freunde doch rar gesät sind, und weiß nicht, was die Zukunft bringen wird. Schon auf dem Debütalbum „The Earth Pushed Back“ zieht er sich jedoch selbst aus einem scheinbar immer größer werdenden Loch und verarbeitet seine Erlebnisse in Songs, die so intensiv sind, dass man es auf den ersten Blick gar nicht glauben mag. Es entsteht ein Soundtrack der Verarbeitung und des Wiederaufstehens, den man nicht unbedingt mit jedem teilen will.
„Wir haben das Glück, unsere Platten in einer Zeit zu veröffentlichen, in der die Leute wieder sehr empfänglich für diese Art von Musik sind“, bemerkt Nick zu seinen Erwartungen hinsichtlich der Zukunft der Band. „Von Konzerten in Europa haben wir schon viel gehört und wollen es unbedingt so schnell wie möglich durchziehen.“ Dass ihnen dabei ihr neues Label Hopeless Records zur Seite stehen wird, ist natürlich logisch. „Wir würden gerne mit unseren alten Freunden REAL FRIENDS oder NECK DEEP auf Tour gehen. So wie wir es am Anfang getan haben. Jedoch machen uns da manchmal unsere täglichen Jobs einen Strich durch die Rechnung.“
Anders als viele andere Musiker haben HAVE MERCY ihr normales Leben noch nicht hinter sich gelassen und können nicht von ihrer Musik leben. Bodenständig? Sicherlich, aber vor allem birgt ein scheinbar gewöhnliches Leben doch auch sehr viel Inspiration in sich. „Musik hilft mir, jede Art von Stress abzubauen. Sie hilft mir dabei, mich fallen zu lassen und zu entspannen, aber auch Dinge intensiv zu fühlen. Dadurch, dass wir finanziell nicht von unserer Musik abhängig sind, können wir vollkommen frei an die Sache herangehen und uns das bewahren, was sie für uns bedeutet: Sie ist Inspiration, Medizin, aber manchmal auch die beste Droge der Welt.“
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #117 Dezember 2014/Januar 2015 und Sebastian Wahle
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