Seit ich vor über zwei Jahrzehnten das erste Mal JOINT VENTURE gehört habe, das Duo mit Martin „Kleinti“ Simon, der 2000 viel zu früh verstarb, ist Götz Widmann für mich einer der besten deutschen Texter. Den Spagat zwischen Witz und Melancholie, zwischen Albernheit und Aussagekraft beherrschen nur wenige so gut wie er. Das neue Album „Tohuwabohu“ und ein Konzert in Köln ließen mich nach 19 Jahren nun endlich wieder ein Interview führen, das sich bei allem Spaß erstaunlicherweise sehr um ernste aktuelle Themen dreht.
Götz, deine neue Platte „Tohuwabohu“ hast du als dein bislang politischstes Album bezeichnet.
Ja, das finde ich. Wobei sich das mehr so ergeben hat, als dass es geplant gewesen wäre. Nach meinem letzten Album hatte ich das Gefühl, dass es mir schwerer fällt, lustige Lieder zu schreiben. Also schreibe ich über Dinge, die mich gerade selbst beschäftigen. Ich musste mich einfach einbringen, zu bestimmten Themen was sagen. Unbeteiligt zu bleiben ist eben auch ein Statement. Ich habe mich aber nie als politischen Künstler betrachtet.
Trägt man als Künstler nicht eine gewisse Verantwortung, klare Aussagen zu machen, wo man steht?
Schon, aber ich fand es immer abschreckend, wenn Musiker ihre politische Botschaft vor sich hertragen und letztendlich ihren Erfolg genau darauf aufbauen. Bei mir war es immer eher der Mittelfinger als der erhobene Zeigefinger. Meine Sachen kommen mehr aus dem Bauch als aus Kalkül.
Das neue Album hast du mit Band eingespielt. Das erste Stück „Europa“ ist im Reggae-Style – ungewöhnlich, wie ich beim ersten Hören fand, aber toll.
Ich habe diesen typischen Offbeat-Rhythmus eigentlich immer schon benutzt. Außerdem wollte ich, dass der Song wie eine fröhliche Tanznummer rüberkommt, da mir das Thema sehr am Herzen liegt. Ich habe mich immer als Europäer gesehen, weil ich keine bestimmten Nationen im Vordergrund sehen mag. Weltbürger und in dem Spektrum eben Europäer. Mir wäre es am liebsten, es gäbe die Vereinigten Nationen von Europa. Da habe ich tatsächlich etwas gemeinsam mit Ursula von der Leyen ... wofür ich mich wiederum schäme, haha. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir seit siebzig Jahren keinen Krieg mehr auf dem Kontinent hatten, wo sich früher die einzelnen Nationen regelmäßig die Köpfe eingeschlagen haben. Den Bürgerkrieg im früheren Jugoslawien muss man da leider ausnehmen. Die Tatsache, dass ich in meinem Leben nie von Krieg betroffen gewesen bin, verdanke ich Europa. Ich finde, das darf nicht bei der Währung aufhören, sondern man muss auf Dauer eine gemeinsame politische Union schaffen. Leider ist aktuell eher das Gegenteil der Fall. Diese ganzen separatistischen Bewegungen, Brexit etc. bereiten mir echt große Pein. Das geht ganz klar in die falsche Richtung. Abschottung und Nationalismus sind so was von Fehl am Platz in der heutigen Zeit. Die Probleme kann man heute überhaupt nicht mehr auf nationaler Ebene lösen, das muss in viel größeren Strukturen angegangen werden. Für eine Verbesserung des Klimas bräuchte man gar eine Weltunion. Was wir dazu beitragen sollten, wäre eine echte EU. Ich würde mir das wünschen. Was nicht heißt, dass ich alles gut finde, was von der EU ausgeht. Es gibt sehr viele Kritikpunkte: Korruption, die Verteilung der Gelder, was da passiert, ist richtig entsetzlich. Aber die Idee Europa ist extrem wichtig und wir sollten uns wünschen, dass es mehr Vereinigung gibt. Ich dachte allerdings vor 15 Jahren, das wäre inzwischen längst der Fall. Eigentlich hat man doch in Europa einen demokratischen Wertekonsens. Doch genau der geht gerade in vielen Ländern verloren, während demokratiefeindliche Parteien leider überall stärker werden.
Haben wir das nicht lange absehen können?
Ja, aber die sind lauter geworden und trauen sich mehr. Hinzu kommt natürlich die Anonymität im Internet, aus der heraus mittlerweile schamlos agiert wird. Ich sehe das bei Kollegen, die sich klar positionieren, wie die im Netz beschimpft und sogar bedroht werden. Oder bei manchen grünen Politikern, was da abgeht.
Passiert dir das auch?
Bisher hält es sich in Grenzen, aber ich rechne eigentlich damit, dass es kommt. Ein Song wie „Wir sind das Volk“ könnte mir durchaus einen rechten Shitstorm einbringen. Das hält mich aber nicht davon ab. Ich bin zum Beispiel mit dem Sänger Stoppok befreundet und der war jetzt gezwungen, aufgrund seines Songs „Lass sie rein“ die Kommentarfunktion seines YouTube-Kanals zu deaktivieren. Zuerst hat er sich dem bewusst ausgesetzt und das verfolgt, auch unter dem Aspekt, dass sich die Leute selbst mit ihrem eigenen braunen Dreck bloßstellen, aber das wurde so schlimm, dass er dann doch die Reißleine gezogen hat. Genau in solchen Sachen liegt immer eine gewisse Gefahr. Den Hetzern und Antidemokraten Raum geben, oder eben nicht? Sperrt man sie aus, fühlen sich deren Anhänger bestätigt, gibt man ihnen Raum, fühlen sie sich ermutigt. Das ist ja genau das, wo die AfD ihr Kalkül ansetzt. Schritt für Schritt mehr wagen, dabei auf den Aufschrei hoffen und so der eigenen Klientel immer neuen Wind in die Segel geben. Die pluralistische Demokratie hat einen ganz schweren Stand gegenüber dem verlogenen Populismus, der sich einen Dreck um die Wahrheit schert. Da wird es schwierig für diejenigen, die sich an Fairnessregeln halten. Wenn man nach Wahrheit sucht, wird es immer schwerer sein, sich gegenüber denen, die einfach nur skrupellos diffamieren wollen, zu positionieren. Das ist ein Fluch, den wir im Moment leider weltweit sehen müssen. Schau in die USA, da ist so jemand Präsident geworden, aufbauend auf Hass und Lügen. Dass so etwas mehrheitsfähig ist, finde ich extrem beängstigend. Schau, wie die AfD agiert oder Fakten wie den Klimawandel leugnet – obwohl ich mir sicher bin, dass sie es besser wissen –, nur um ihre kurzfristigen Wahlziele zu erreichen.
Gibt es das nicht schon immer, dass vor Wahlen zwecks Stimmenfang auf Opportunismus gesetzt wird?
Schon, aber die Dimensionen sind anders geworden. Das passiert mit viel mehr System und Kalkül. Leider verstärkt das Internet diese Tendenzen um ein Vielfaches. Du kannst den dümmsten Scheiß von dir geben und wirst immer welche finden, die dir direkt zustimmen werden. Im eigenen Kosmos des sozialen Netzwerks haben die meisten sowieso nur mit Gleichgesinnten zu tun und die hauen sich von morgens bis abends die gemeinsame Meinung um die Ohren. Die Schleife der Selbstbestätigung. Auf der anderen Seite ist das Internet dahingehend demokratisch, dass alle die gleichen Möglichkeiten haben könnten. Ich will das auch nicht missverstanden wissen. Ich bin ganz klar dafür, dass auch Leute, die nicht meiner Meinung sind, sie sagen dürfen. Auch wenn deren Meinung vollkommen von meinen Werten abweicht. Meine Ansichten und Werte müssen in der Lage sein, damit konkurrieren zu können. Wir leben allerdings in einer Zeit, wo es zunehmend schwerer wird. Die Menschen sind durch das Internet auf schnelle Informationen gepolt. Die Wahrheit hat es jedoch an sich, dass sie sehr viel komplexer ist und nicht mit einer Überschrift definiert werden kann. Es ist schwieriger, sich mit Vernunft durchzusetzen, weil die blöden Ideen meist viel lauter sind. Wir haben damals, als das mit dem Internet so richtig losging, nur daran gedacht, was für demokratische Möglichkeiten uns das eröffnet. Dass sich das auch die andere Seite zunutze machen könnte, war uns nicht wirklich bewusst. Das war wohl ziemlich naiv.
Viele deiner Texte sind recht lang, ebenso deine Auftritte. Hinzu kommt, dass du auf Konzerten oft spontan Publikumswünsche erfüllst. Fällt es dir nie schwer, ellenlange Texte parat zu haben?
Ich schätze mal, dass ich so hundert Songs jederzeit spielen kann, die sitzen einfach. Oft wollen die Leute „Wunderschlampe“ hören, das ist wohl mein längster Text. Dann fangen aber genau diese Leute nach drei Minuten an zu quatschen und ich habe noch acht Minuten vor mir. Den spiele ich daher nur auf ausgewählten Konzerten. Ich komme allerdings nie mit Setliste, überlege mir höchstens den ersten Song des Abends, der Rest passiert dann. Sonst ist mir das zu starr.
Über dir schwebt ja immer der Begriff Liedermacher. Siehst du dich als solcher?
Ich muss zugeben, dass ich mit diesem Etikett nie wirklich warm wurde, obwohl ich das auch auf die Plakate drucken lasse. Singer/Songwriter, wie es im Amerikanischen heißt, finde ich schon besser, aber lieber wäre mir der spanische Ausdruck Cantautor – singender Autor. Oder besser noch: der singende Undergroundautor. Aber druck das mal auf ein Plakat, also doch Liedermacher.
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