Im August erschien eine Publikation mit dem Namen „Break Out Now“. Genau vor vierzig Jahren, im August 1980 bis Oktober 1981, gab es drei Nummern des Fanzines Break Out. Dieses wurde vollumfänglich (Interviews, Fotos, Layout) von Dani Vieli aus Zürich gemacht. Dieser Umstand, der eher einmalig war in der Zeit, die hohe Qualität und dass über 50% des Inhalts weiblichen Protagonisten vorbehalten waren, inspirierte uns, diese neu aufzulegen. Doch das alleine wäre zu banal. Wir kontaktierten alle Musiker:innen, die in irgendeiner Form in den drei Nummern vorkommen, nun vierzig Jahre später. Uns interessierte, was damals einen Moment lang in Musik und Gesellschaft los war, was vorher und nachher so nicht mehr möglich war. Dies ergab einen aktuellen zweiten Teil für die Publikation. Auf der ersten Seite in der ersten Nummer gibt es ein Foto von einem Aufritt von THE NAMES. Dieses führte zu etlichen Telefonaten und Interviews und als Folge zu den Themen DIY, POP RIVETS, THE NAMES, ROTZKOTZ, KLEENEX, LILIPUT, Deutsch-Schweizer-Punk-Freundschaft und die Frage, wann es, falls überhaupt, Zeit ist für seine eigenen Punk-Memoiren.
Eine Chronologie der Ereignisse
100% DIY – Die Anfänge
Ihren ersten Gig spielten THE POP RIVETS 1977 in der Detling Village Hall in Kent. Sie waren eine Punkband, allerdings mit einem ausgesprochenen Faible für den Beat der Sixties. Ihre Versionen von „Hippy hippy shake“ und „Stingray“ waren Legende. Das Line-up der POP RIVETS: Wild Billy Childish (voc), Will Power (gt), Russell Square (bs), Russ X Lax (dr). Das erste Album hieß gleich „Greatest Hits“, war total selbstproduziert und wurde im Januar 1979 an einem einzigen Tag auf einer Vierspur-Maschine eingespielt. Die Aufnahmen fanden im Wohnzimmer eines Bungalows in Herne Bay statt. Um sechs Uhr abends gab es jeweils eine Zwangspause, da die Mutter des Toningenieurs dann die Nachrichten der BBC zu schauen pflegte. Die 300 Pfund für die Produktion der Platte hatten sie bei Acker ausgeliehen, einem Mentor und Konkurrenten mit einem – gelinde gesagt – zwiespältigen Verhältnis zur Band, der sie als Kunstschulfuzzis disste. Egal. Das Geld nahmen die POP RIVETS gerne. Für den Druck einer Hülle reichte es allerdings nicht, darum wurden alle 250 Cover-Exemplare von Hand gesprayt, gemalt oder zumindest gestempelt. Prompt wurde die Platte im NME als beste Rock’n’Roll-Platte des Jahres gefeiert, der Record Mirror hingegen zerriss das Debüt in der Luft. Passieren tat allerdings gar nichts.
Liz
Als Doppelbürgerin (CH und UK) lebte Liz mal da, mal dort und immer wieder an einer anderen Adresse. Als sie anfangs 1979 in eine Wohngemeinschaft in Whitstable zog, traf sie dort den Schlagzeuger Russell Lax, der sie den anderen Mitgliedern der POP RIVETS in Rochester vorstellte. Die waren damals gerade dabei, auf der Treppe vor dem Haus ihrer Wohngemeinschaft mit Spraydose und Schablone den Umschlag des Albums zu gestalten. Wenig später fuhr Liz mit Russ nach Winterthur, um einige Sachen von ihr zu holen. Die beiden brachten ein Exemplar des „Greatest Hits“-Albums zu Ivan, dem Inhaber des lokalen Plattenladens Musikbox an der Technikumstraße. Ivan war total begeistert von der Platte und die Idee für Live-Konzerte in der Schweiz entstand. Auf dem Rückweg nach England über Hamburg wurde eine Platte zu Klaus Maeck vom Plattenladen Rip Off gebracht. Dort trafen sie sich ebenfalls mit Alfred Hilsberg vom ZickZack-Label. (Telefonat mit Liz, Nov. 2019)
Hollow Skai (Teil 1)
Liz ruft mich von Hamburg aus an, Klaus Maeck vom Rip Off hat ihr wohl meine Adresse gegeben, und fragt, ob ich wüsste, wo sie in Hannover ihre LP verkaufen könnten und wie das mit Gigs aussieht. Den Kopf voll mit anderen Sachen, [...] verweise ich sie erstmals an Manfred Schütz (boots, Musicland-Plattenläden) [...] einen Tag später taucht Pete Prickly bei mir auf, er hat soeben die Platte der POP RIVETS gehört und ist ganz aus dem Häuschen. Liz und Russ bleiben jedenfalls ca. eine Woche in der Nordstadt, und alles kommt langsam ins Rollen. In der Zeit überreden sie ROTZKOTZ dazu, mit ihnen in England die Platte aufzunehmen. Studiokosten und all dies Zeugs sind dort wesentlich billiger und du kannst auch mit wenig Geld eine Platte machen. (Hollow Skai in „Wir waren Helden für einen Tag“ – RoRoRo Sachbuch 1983)
ROTZKOTZ
In Hannover trafen die beiden auch auf Uli Scheibner, zu der Zeit Bassist bei ROTZKOTZ und Plattenverkäufer im Musicland. Daraus entstand eine bis heute andauernde Freundschaft und damals der Plan, nach dem Vorbild der ersten POP RIVETS-LP Aufnahmen von ROTZKOTZ in England zu machen. Das wurde dann am 4. und 5. Juni 1979 in die Tat umgesetzt. (Telefonat mit Uli Scheibner, Dez. 2019)
Hollow Skai (Teil 2)
Mit ROTZKOTZ im Studio. Sie haben gestern (4. Juni) alle zwölf Songs durchgespielt und aufgenommen. Heute muss Ernie nochmals alles singen, weil aus irgendwelchen technischen Gründen der Gesang extra aufgezeichnet werden muss. Gottseidank gibt’s in diesem Studio kein Sichtfenster. Das hat den Vorteil, dass du dich unbeobachtet fühlst, wirklich allein bist, dich ganz auf das konzentrieren kannst, was durch den Kopfhörer dröhnt. Graham ist ein wahnsinnig guter Toningenieur, einer, wie du ihn in Deutschland kaum finden dürftest. Er macht selbst Musik, versucht aber dennoch nicht, seine Vorstellungen unterzubringen. Die Verständigung darüber, welcher Klang, welcher Sound gewünscht wird, verläuft nahezu wortlos. Er kann sich einfach irre gut hineinversetzen, ohne sich einzumischen. Graham is great! (Hollow Skai in „Wir waren Helden für einen Tag“ – RoRoRo Sachbuch 1983)
1. Tour, Juli 1979 – 14 Konzerte in 18 Tagen
Ein Kontakt ergab den anderen, und so konnten bald weitere Konzerttermine aufgegleist werden. Zurück in England überredeten Russell und Liz die anderen Mitglieder der Band, eine Schweiz/Deutschland-Tour zu machen. Liz kaufte mit einem Darlehen von ihrer Schwester (£2.000) einen Van und war auch die Fahrerin, da die Bandmitglieder alle keinen Führerschein besaßen. Sie fuhren über Frankreich in die Schweiz. Der erste Gig fand am 14. Juli im Spex Keller mitten in der Berner Innenstadt satt. Vorher hatte der Bandbus schlapp gemacht. Die gleichen Bullen, die ihr Auto abschleppten, standen des Nachts wieder vor dem Spex, da Anwohner sich über den Lärm beklagt hatten. Beim nächsten Konzert in Winterthur (im Penelope, später Albani) bemerkten die POP RIVETS, dass einige der Besucher vom Gig in Bern abermals da waren, und so kam man mit Urs Steiger ins Gespräch, der die zweite Tour mit organisieren sollte. (Telefonat mit Liz, Nov. 2019)
Big Russ Wilkins (Russell Square)
Wir tourten zweimal durch Europa. Das war fantastisch, da wir da andere Leute trafen, die auch daran interessiert waren, was damals in Europa abging. Es gab die verschiedensten politischen Koalitionen: Punks verbündeten sich mit Hippies gegen die Polizei etc. Popkultur war im Umbruch. Wir spielten in kleinen Käffern statt in großen Städten. Die Leute dort waren ziemlich ausgehungert und hatten seit Jahren keine heiße Live-Band mehr gesehen. Wir hatten auch Ska und Reggae im Set, „Israelites“ und Artverwandtes. Immer wieder kamen Leute zu mir und erkundigten sich nach den Basslinien bestimmter Ska-Songs. Wir starteten die erste Tour 1979. Wir fuhren über Nacht via Frankreich in die Schweiz. Der erste Gig war in Bern. Unser Wagen hatte mitten im Stadtzentrum eine Panne und wir verursachten ein Verkehrschaos. Dank der Manpower von einer Horde Punks konnte der Wagen dann vor den Club geschoben werden – so etwas hatte Bern noch nie gesehen, es war ein Spektakel. Der Gig selber war Wahnsinn. Wir spielten stundenlang und hatten Leute auf der Bühne, die sich gegenseitig die Instrumente zuwarfen. Die nächsten Spielorte waren Winterthur und Zürich, dann ging’s über die Grenze nach Deutschland. Nach der Tour kamen wir zurück nach England. Wir hatten eine Menge Platten verkauft und etwas Geld verdient, auch ein paar gute Live Tapes wurden aufgenommen. „Nächstes Mal machen wir eine größere Tour, besser organisiert und verkaufen mehr Platten“, schworen wir uns. Aber ... ehm ... wir lagen falsch! (Auszüge aus Ugly Things, Ausgabe 26/2008)
2. Tour, November 1979
Liz flog im Flugzeug schon vor, die Band kam später im Van nach. Liz hatte einen Unfall. Sie verletzte sich schwer am Kopf. Probleme mit der Orientierung und Erinnerung waren die Folge, was sich erst allmählich zeigte. Unter den Bandmitgliedern kam es zu großen Unstimmigkeiten, da der Eindruck entstand, dass Liz mit der Situation überfordert war. Mit dabei war nun Mick Hampshire, der den Van fuhr. Da sie bei der ersten Tour oft auf schlechten oder gar keinen Anlagen spielen mussten, hatten die POP RIVETS ein damals total angesagtes wie transportables Boze-PA-System dabei. Ebenfalls im Gepäck: Das zweite Album „Empty Sounds From Anarchy Ranch!“, jetzt mit gedrucktem Umschlag. Dort war auch der Bandbus von der ersten Tour abgebildet, und es wurde ein Weihnachtsgruß an die „Bernese & Züripunx“ wie auch an Uli Scheibner deponiert. (Telefonat mit Liz, Nov. 2019)
Big Russ Wilkins
Wir kamen in Winterthur an und gingen schnurstracks in die nächste Bar, wo uns unser Fahrer Mick Hampshire innerhalb von fünf Minuten in eine Schlägerei verwickelt war. (Auszüge aus Ugly Things, Ausgabe 26/2008)
Little Russ Lax
Vorher hatte uns der französische Zoll angehalten und alle unsere mitgebrachten Alben konfisziert. Sie wollten uns nicht glauben, dass wir die ausschließlich zu Promotionzwecken bei uns hatten und überhaupt: Für die waren wir einfach „les punks anglais“. Vielleicht sogar Anarchisten! Urs Steiger war eine Art Botschafter der „Züri Punx“-Szene, der ein eigenes Fanzine produzierte. Er organisierte eine Handvoll kleine Gigs für uns mit lokalen Bands. Zum Beispiel mit SPERMA, reichen Kids mit brandneuem Equipment und Garderobe von Sex and Seditionaries, MOTHER’S RUIN (Slang für Gin) und KLEENEX (Taschentuch), aus denen später LILIPUT wurden. (Auszüge aus Ugly Things, Ausgabe 26/2008)
Konzertbericht vom 19. November im ISC mit THE SICK
Zur Zeit tourt eine Band in der Schweiz, die angeblich kein Mensch in London und Umgebung kennt. Falls es wahr ist, ein weiteres Indiz dafür, endlich damit aufzuhören, immer erst nach den heiligen Gefilden des Roxy, Rainbow usw. zu schielen, bevor man „weiß“, was gut ist. Hier in der Schweiz scheint es jeder zu wissen: Sie sind verdammt stark, die POP RIVETS. Ging doch immerhin das Hauptkontingent ihrer ersten LP in unser Ländli, und es würde mich gar nicht wundern, wenn das auch mit ihrem zweiten Meisterwerk so laufen würde. Die POP RIVETS stehen auf der Bühne – und wie! War ich vom Plakat her auf eine optische ’68er-Reminiszenz gefasst, stand einem jetzt eine seltsame Mischung aus Skin, Mod, Punk und englischen Arbeitersöhnen gegenüber, was auch bestens zum Nieten-Sound passt. So ziemlich alles aus den letzten zwanzig Jahren Musikgeschichte wird im Kernfusionstempo verarscht: Rock’n’Roll, Beat, Punk, TV-Sound, Discowix ... mit einer (jedenfalls nach all den GB-Bands, die bisher die Schweiz heimsuchten) unvorstellbaren Power und mit merklicher Freude an der Sache. Sie scheuen sich nicht, auf längst totgeglaubte Effekte und Stilmittel zurückzugreifen. Beim Herrn an der Gitarre hörte man häufiger mal einen BEATLES-Akkord heraus, der Bassist freute sich über die Rückkoppelungen, die er seinem Verstärker entlocken konnte und der Skinny am Schlagzeug gab beim Disco-Fever einige meisterliche Breaks zum Besten. Die POP RIVETS haben noch einen dreadlockigen Rasta sowie einen Mod dabei, die im Laufe des Gigs auch mitmischen, der Rasta, soweit ich mich erinnere, bei „Action time rubbish“ (richtig, das von ATV). Den anwesenden Rootboys (das ist was ganz Neues aus Dübendorf – pardon, London) schien es so zu gefallen, dass sie ihre Begeisterung an diversen anwesenden Punx manifestieren mussten, einige freundliche Klapse auf den Hinterkopf brachten sie jedoch wieder zur Ruhe. (Dominic Suess im Fanzine Rofä – Ausgabe 3/1980)
Wie kam es zu dem Text von „Punkrock ist nicht tot“ (THEE HEADCOATS, 2000)?
Billy Childish: Wir waren mit den POP RIVETS 1979 auf Tour in Deutschland, ganz auf uns alleine gestellt, mit einem kleinen Bus. Da machten wir immer Witze von wegen, wir seien ja gar keine Punkband, denn Punk sei bekanntlich tot. Und dann war da irgendwie ein Poster, auf dem stand „Punkrock ist nicht tot“. Das schoss mir dann 15 Jahre später durch den Kopf und ich wusste, das ist ein Song, und der Refrain klingt auf Deutsch einfach besser. (Joachim Hiller, Ox #59/2005)
Little Russ Lax
Die zweite Tour war stressiger. Liz war (wegen ihres Unfalls) überfordert mit dem ganzen Organisationskram und fühlte sich ausgegrenzt. Ich hatte auch genug, die Freundschaft innerhalb der Band war erkaltet. Der Schlussstrich war, als wir informiert wurden, dass weder Liz noch ich irgendetwas von der Band zu bekommen hätten, da sie ohne uns weitermachen würden. Nur widerwillig liehen sie uns den Bandbus aus, damit wir unsere Sachen transportieren konnten. Das war’s gewesen. Sie fanden einen neuen Drummer, aber nach einer sehr lahmen „Peel Session“ zogen sie endgültig den Stecker. Ich hatte schon früher THE NAMES aus Canterbury kennen gelernt, als sie bei einem College Dance für uns die Vorgruppe machten. Steve Conway und John Lewis schrieben gute Popsongs, ein bisschen wie die BUZZCOCKS, und wir waren alle beeindruckt. Ich lebte in der Nähe in Whitstable, und als die beiden einen neuen Drummer suchten, sagte ich zu. Liz und ich reaktivierten unsere alten Kontakte und es kam eine weitere Tour zustande – die wieder voller Enthusiasmus war. Ausserdem waren John und Steve einfach die netteren Kerle, wenn es darum ging, zusammen auf Tour zu gehen. (Auszüge aus Ugly Things, Ausgabe 26/2008)
3. Tour mit THE NAMES 1980 (Mai/Juni)
Im Mai meldete sich Russel bei Uli Scheibner, und fragte ihn, ob er eine für Ende Mai geplante Schweiztour als Fahrer, Roadie und „Tourmanager“ mitmachen würde. Der hatte gerade seinen Job bei Manfred Schütz’ Plattenladen aufgegeben, sagte gerne zu und trampte Mitte Mai nach Canterbury. Nach einem letzten Auftritt der NAMES mit zwei anderen Bands in Canterbury ging’s im alten Bedford-Van mit Doppelkabine und der Backline, Instrumenten und Schlafsäcken aufs Festland.
Die Tour startete am 27./28. Mai mit zwei Gigs im Penelope, Winterthur. Bei einem weiteren Gig im ISC Zürich am 29. Mai zusammen mit SPERMA (die ihr letztes Konzert spielten) kam es wiederholt zu Sachbeschädigungen durch das Publikum,was zur Folge hatte, dass alle weiteren geplanten Konzerten im ISC abgesagt wurden. Nach dem letzten Schweizer Gig im Gaskessel Bern übernachteten die Band und Uli in einer besetzten Villa in Zürich. Nachts kamen die Punks mit Tränengas in den Klamotten von den Kämpfen mit der Polizei nach dem Bob Marley-Konzert zurück. So wurden die Engländer und der Hannoveraner Zeugen des Auftakts zur Achtziger-Bewegung (Opernhaus-Krawall).
Am nächsten Tag fuhr die Band nach Deutschland, wo Ulis WG in Hannover zum Dreh- und Angelpunkt für diverse Gigs (Hannover, Berlin, Gelsenkirchen, Gütersloh, Braunschweig, Hagen, Düsseldorf, Bochum etc.) wurde. Bei den befreundeten SALINOS aus Gelsenkirchen wurde im Juli 1980 eine 4-Track-Demokassette mit den Songs „Too cool to dance“, „Scared“ und „Money and time“ aufgenommen. Ebenfalls im Juli nahm Uli wieder Kontakt zu seinem „alten“ Arbeitgeber Manfred Schütz auf. Der hatte mit der ersten ROTZKOTZ-LP den unabhängigen boots-Vertrieb gegründet und war bereit, eine NAMES-Single zu finanzieren und zu vertreiben. Am 7. und 8. August 1980 wurde die Single mit den Titeln der Demokassette im Studio Toncooperative-Hannover eingespielt. Um die Single „legal“ rauszubringen, wurde ein Label (GeeBeeDee = GB/D) von Manfred gegründet. Die Idee von den NAMES und Uli war, sie finanziell so auszustatten, dass sie (wieder in England) am Material für eine LP arbeiten konnten. Leider wurde daraus nichts. Zwar wurde im September eine Proberaum-Demokassette mit guten Songideen aufgenommen, aber Manfred hatte inzwischen so viele andere Musiker unter Vertrag genommen, dass er die NAMES nicht in der gewünschten Art und Weise unterstützen wollte oder konnte. „No money, no honey.“ John Lewis, der schon häufig über fehlendes Geld geklagt hatte, schmiss hin, nahm einen Job bei seinem Vater (Versicherungsagent!) an und auch die NAMES waren Geschichte. (Telefonat mit Little Russ Lax und Uli Scheibner, Nov. 2019)
Aufgezeichnet und zusammengefasst von Lurker Grand und Sam Mumenthaler
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THE POP RIVETS sind vielen wegen dessen Sänger Billy Childish bis heute ein Begriff. An der Gitarre war Will Power, am Bass Russell Square und Russ X Lax am Schlagzeug. Sie waren eine Punkband aus Detling Village Hall, in der Grafschaft Kent, allerdings mit einem ausgesprochenen Faible für den Beat der Sixties. Bekannt waren sie aber anfangs nicht in England, sondern in Deutschland und der Schweiz.
damagedgoods.co.uk/bands/the-pop-rivets
THE NAMES waren eine kurzlebige dreiköpfige Powerpop-Punkband aus Herne Bay, ebenfalls in der Grafschaft Kent. Nachdem Russ X Lax die POP RIVETS verließ, stieß er als Schlagzeuger zu ihnen. THE NAMES erging es wie den POP RIVETS, sie waren anfangs nicht in England bekannt, sondern in Deutschland und der Schweiz.
ROTZKOTZ aus Hannover waren eine der ersten deutschen Punkbands. Ihr erstes Album „Vorsicht ! Paranoia (Much Funny)“, wurde am 4. und 5. Juni 1979 in den Oakwood Recording Studio in Herne Bay in der Grafschaft Kent aufgenommen und erschien zuerst in England. Diese gilt als erste selbst produzierte Punk-Platte Deutschlands. Das Ganze wurde durch ihren zweiten Bassisten Unruly Uli und Russ X Lax von den POP RIVETS eingefädelt. Mit dabei war auch ein gewisser Hollow Skai.
Hollow Skai ist wahrscheinlich bis heute der bekannteste Journalist, Fanzine- und Buchautor, Musikproduzent und Label Inhaber aus dem frühen Umfeld des deutschen Punk. Er hat über all die Jahre unzählige Musikbücher geschrieben und lektoriert und arbeitet momentan an seiner eigenen Biographfie.
skaichannel.de/category/hollowskai
Lurker Grand ist die lebende Enzyklopädie des Schweizer Punk und hat unter anderem das Grundlagenwerk „Hot Love – Swiss Punk & Wave 1976-1980“ herausgegeben. Er kümmerte sich schon seit Anfang der Achtziger um die Deutsch-Schweizer-Punk-Freundschaft. Im August 2020 veröffentlichte er eine weitere Publikation mit dem Titel „Break Out Now“.
http://www.swisspunk.ch
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WALDORF UND STATLER
alias Lurker und Hollow
Am Samstag, 22. November 1980 spielten HANS-A-PLAST in der Roten Fabrik in Zürich. Nach dem Gig, der unter sehr chaotischen Umständen stattfand, gaben Annette Benjamin, Dani Vieli und Marlene Marder, die Gitarristin von LILIPUT, ein Interview für das Break Out Fanzine. Annette und Marlene kannten sich schon vorher, da sie am 24. Februar 1979 gemeinsam in der Markthalle in Hamburg auf dem Festival Into The Future spielten. Während sich die Markenrechtsinhaber der Taschentuch-Firma durch den Bandnamen KLEENEX reichlich angepisst zeigten und sich diese in LILIPUT umbenennen musste, reagierten die Pflasterhersteller angesichts von HANS-A-PLAST um einiges entspannter, und die Band durfte bis zum Schluss unter ihrem Namen auftreten.
Lurker: Hollow, du warst laut Marlene, Gitarristin von KLEENEX/LILIPUT, ihr größter Fan. Einige Monate davor, am 24. Juni, bekam Marlene in Hagen vor ihrem Auftritt einen Zettel in die Hand gedrückt, darauf stand: „Viele Grüße und ich komme dich mal im Juli besuchen ... Hollow Skai“ Damit war der Gig am 27. Juni im SO36 in Berlin gemeint, oder?
Hollow: Nein, ein Besuch in Zürich, wo LILIPUT am 29. August auf dem Monster Festival im Volkshaus gespielt haben. Den Zettel hatte ihr wohl Jäki Eldorado, der erste Punk Deutschlands, überbracht, der LILIPUT auf ihrer ersten Tour begleitete. Vorher war ich LILIPUT schon nachgereist und hatte sie in der Scala Herford, in Solingen und im SO36 gesehen. Kennen gelernt hatte ich sie schon auf dem ersten Markthallen-Festival Into The Future in Hamburg. Ich schwärmte damals nicht nur für KLEENEX/LILIPUT, sondern war auch in Marlene verliebt, ohne zu checken, dass sie nicht auf Männer stand. Das wurde mir erst klar, als ich in Zürich bei ihr übernachtete und feststellte, dass sie eine sehr attraktive Freundin hatte. Was aber nicht in einem Drama endete, sondern mir nur die Augen öffnete. Wir verstanden uns auch weiterhin sehr gut und sahen uns noch einmal, als sie im Pavillon in Hannover mit LILIPUT und Stephan Eicher als Gast auftrat. Danach trennten sich LILIPUT und unser Kontakt brach ab.
Lurker: Das Monster Festival, wo LILIPUT mit vielen anderen Zürcher Bands aufgetreten sind, war ein ganz wichtiger Anlass vor genau vierzig Jahren. Bice Curiger organisierte in der Städtischen Galerie zum Strauhof davor, am 18. Juli 1980, die Ausstellung „Saus und Braus Stadtkunst“, wo zur Vernissage neben LILIPUT auch die Berliner Band O.U.T. auftraten, die sich zu der Zeit in einer Art „Zürcher Exil“ befand. Der Anlass im Volkshaus war die Abschlussveranstaltung. Die damalige junge Kunst- und Punk-Musikszene Zürichs präsentiere ihre Früchte, genährt von einem neuen Selbstverständnis, dem damals festgefahrenen und arroganten Kulturestablishment. Eine neue urbane Popkultur mit den unterschiedlichsten Anliegen manifestierte sich im „heißen Sommer 80“. Dies war für die Schweiz ein absolutes Novum. Dieses Jahr fand abermals am 20. August eine Ausstellung dieser Geschehnisse im Strauhof statt, dies abermals unter der Leitung von Bice, und im September das dazugehörende Musikfestival in der Photobastei in Zürich. Was die Ausstellungsmacher heute interessiert, ist, was in dem genauen Zeitabschnitt 1975 bis 1980 einen Moment lang in Kultur und Gesellschaft los war, was vorher und nachher nicht möglich war. Im Fokus steht ein spezifischer erweiterter „Kunst- und Kulturbegriff“, der hier erstmals ins Spiel gebracht wurde.
Hollow: Ich hatte ja damals gerade meine Magisterarbeit über „Punk als Versuch der künstlerischen Realisierung einer neuen Lebenshaltung“ geschrieben, die 1981 im Sounds Verlag erschien und 2008 in der Wissenschaftlichen Reihe des Archivs der Jugendkulturen wiederveröffentlicht wurde, in der es genau darum ging. Im Gegensatz zur deutschen Punk-Szene war die Schweizer Szene nicht so klischeehaft und nur dem Hardcore-Punk verpflichtet, dort spielten Künstler:innen wie Klaudia Schifferle oder Peter Fischli eine größere Rolle – obwohl es solche Ansätze auch in Deutschland gab, siehe Martin Kippenberger oder MINUS DELTA T. Damals korrespondierte ich auch viel mit Arnoldo Steiner, der das Pin Up herausgab, und mit Bob Fischer, der für dieses wohl beste Fanzine aller Zeiten großartige Bandporträts schrieb. Durch Marlene lernte ich jedenfalls die Schweiz(er) ein bisschen kennen und verfasste dann auch für das „Ton Modern“-Buch einen Beitrag und wurde daraufhin zu einer Diskussion in die Rote Fabrik eingeladen. Da ich aus der undogmatischen Sponti- und linken Buchladen-Szene stammte, kannte ich auch Frauen aus der damals noch sehr jungen Frauenbewegung. So kam es, dass wir auf No Fun Records auch eine LP der Frauen-Rockband UNTERROCK veröffentlichten, die zwar nichts mit Punk zu tun hatte, aber ebenfalls independent war.
Lurker: Ich möchte hier ein wenig präzisieren. Ich glaube, wir dürfen hier nicht von der deutschen beziehungsweise Schweizer Punk-Szene sprechen, sondern von den verschiedenen urbanen Zentren oder Städten. In der Schweiz waren dies am Anfang: Zürich, Genf, Bern und Luzern. In Deutschland: Berlin, Hamburg, Hannover und Düsseldorf. All diese Orte haben eine unterschiedliche DNA und dementsprechend waren auch die Szenen sehr unterschiedlich. So differenziert wie in Zürich war die Punk-Szene aber nirgends. Dies hatte unter anderem damit zu tun, dass Zürich damals stark Richtung New York schaute – Kunst, Film, Musik usw. ... es gab da viele Verbindungen auch zur Wall Street. Ebenso gab es eine Sponti- und Stadtguerilla-Szene, die Fraktion der Roten Steine – der Name nahm Bezug auf das Lehrlingstheater Rote Steine –, die es ja auch in Berlin gab. Dann eine aktive Schwulenszene, die den Punks mit ihrem Klub Hey die erste Spielwiese eröffnete. Und Zürich war per se ein Anziehungspunkt für junge Menschen aus dem ganzen Land, die in ihren Käffern, von wo sie herkamen, nicht lebendig begraben werden wollten. Zu denen gehörte auch ich.
Hollow: Hannover war damals als Hardrock-Fabrik verschrien, weil einige der erfolgreichsten deutschen Bands von dort kamen. Unser „Schlachtruf“ war denn auch ohne SCORPIONS, JANE, ELOY in die Achtziger Jahre! Dank ihnen gab es aber bereits, ähnlich wie in Hamburg, Berlin und Düsseldorf, eine funktionierende Infrastruktur, Klubs und unabhängige Jugendzentren, Studios, Stadtmagazine etc. So war es eigentlich nicht ungewöhnlich, dass eine neue Generation eine „Wachablösung“ verlangte und Hannover zu einem urbanen Zentrum mit einer eigenen DNA wurde. Von einer einheitlichen hannoverschen Szene kann man aber auch nicht sprechen, dazu waren selbst die No-Fun-Bands zu unterschiedlich. Neben Punk, ROTZKOTZ, Neuer Welle, HANS-A-PLAST und frauenbewegtem Rock, UNTERROCK, gab es eben auch den Neuen Deutschen Schlager, MYTHEN IN TÜTEN, VELVET UNDERGROUND-Epigonen, THE 39 CLOCKS, Fun-Punk, BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS, Modern Rock, DER MODERNE MAN, Polit-Punk, KLISCHEE, und den klassischen deutschen Hardcore- oder Gröl-Punk, BLITZKRIEG. Und neben No Fun Records noch ein paar andere kleine Labels: Frostschutz, Spargel Schallplatten, GeeBeeDee/boots-Vertrieb ...
Lurker: Hinter GeeBeeDee/boots-Vertrieb stand ja Manfred Schütz. Er führte seit 1976 den Plattenladen Musicland. Nebenbei: In Zürich gab es zu dieser Zeit ebenfalls einen Plattenladen mit dem gleichen Namen, der von Henry Cookson geführt wurde und auch eine wichtige Rolle in der Szene einnahm. Dort arbeitete ja auch der Bassist von ROTZKOTZ, Uli Scheibner. Die hatten in zwei Tagen, 4.und 5. Juni 1979, zwölf Songs für ihre erste LP mit dem Titel „Much Funny“ im Oakwood Recording Studio in England bei den POP RIVETS aufgenommen. Du warst da ja auch mit von der Partie und hast sogar Tagebuch geführt und Liz aus Winterthur dort abermals getroffen.
Hollow: boots war der angesagte Plattenladen in Hannover und auch ein Großhändler, der damals stark expandierte und mit Musicland einen weiteren Laden eröffnete. Ernst August „Ernie“ Wehmer alias Prickel Pit, der Sänger von ROTZKOTZ, verkaufte damals auf dem Flohmarkt Platten, die er von boots bezog. So lernte er auch Uli Scheibner kennen, der als Verkäufer bei Musicland arbeitete, und engagierte ihn als Bassisten, nachdem ROTZKOTZ ihren Rhythmusgitarristen Dieter Runge gefeuert hatten, weil der sich immer verspielte. Von den POP RIVETS hörte ich zum ersten Mal, nachdem Liz und Russel bei boots aufgetaucht waren und Ernie ihre LP in den höchsten Tönen lobte. Durch Uli Scheibner lernte ich die POP RIVETS dann auch persönlich kennen. Ich war auch mit dabei, als ROTZKOTZ in Herne Bay an einem Wochenende ihre Debüt-LP aufnahmen, und wir übernachteten alle in Whitstable. Dies kann man alles ausführlich in der Fanzine-Anthologie „Wir waren Helden für einen Tag“ nachlesen, die ich zusammen mit Paul Ott, dem Herausgeber des Punk Rules und der Sondernummer, beides Fanzines aus Bern, 1983, herausgegeben habe.
Lurker: Ich möchte gerne nochmals auf Manfred Schütz zu sprechen kommen. Du hast ja das Label No Fun mit den Leuten von HANS-A-PLAST gegründet und er hat den Vertrieb der Platten übernommen. Da habe ich mal gelesen, dass von den HANS-A-PLAST Unmengen von Platten verkauft wurden – da steht ne Zahl von 100.000 im Raum? Kann das sein? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Daneben übernahm er auch den Vertrieb des Schweizer Labels Swiss Wave für Deutschland. Hinter dem Label stand unter anderem Urs Steiger, der ja wie du das gleichnamige Fanzine No Fun in Zürich verlegte und, wie kann es nicht anders sein, auch bei den beiden POP RIVETS-Touren auf der Schweizer Seite involviert war. Kanntet ihr euch persönlich?
Hollow: Die HANS-A-PLAST-LP war ja bereits erschienen und wurde von ihnen selbst vertrieben, bevor wir zusammen No Fun Records gegründet haben, insofern weiß ich nicht genau, wie viele insgesamt verkauft wurden. 100.000 waren es aber mit Sicherheit nicht, eher 50.000. Sie wurde auch nicht exklusiv von Manfred Schütz vertrieben, vielmehr baute No Fun einen Vertrieb auf, aus dem dann der Independent-Vertrieb Efa/ Energie für alle hervorging, der Vorläufer von Indigo, dem heute größten deutschen Indie-Vertrieb. Wir wechselten erst später zu boots – als es schon zu spät war und die Neue Welle den Bach runtergegangen war. Urs Steiger kannte ich nicht persönlich, wir tauschten lediglich unsere Fanzines aus.
Lurker: Ich möchte hier kurz zusammenfassen. Es gibt zwischen dir und der Schweizer Punk-Szene schon sehr früh einen regen Austausch. Mit Marlene von KLEENEX/LILIPUT, mit den vier wichtigsten Fanzine-Machern: Bob Fischer und Arnoldo Steiner vom Pin Up, mit Paul Ott vom Punk Rules und der Sondernummer und mit Urs Steiger vom No Fun. Die zweite wichtige Person in dieser Geschichte ist Liz, die wir alle, wie ich glaube, bis heute nicht so wirklich auf dem Radar hatten. Durch sie und Little Russ von den POP RIVETS entstand eine nachhaltige Verbindung zu Uli von ROTZKOTZ und Manfred Schütz, der den Vertrieb von Swiss Wave hier in Deutschland übernahm und im Jahr 1981 auch noch eine Lizenzpressung von der LP „We Want More“ von MOTHER’S RUIN veröffentlichte. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass dies vor allem in Norddeutschland dazu führte, dass noch heute viele Nachgeborene die Schweizer Punk-Szene (von damals bis heute) kennen. In Süddeutschland hatte sicher die Radiosendung von F.M., also Francois Mürner, Musik aus London und die Nachfolgesendung Sounds einen ebenso gewichtigen Einfluss. Ich lebe ja nun seit über zwanzig Jahren Teilzeit in Berlin und veröffentliche dort mit Christian Iffland von Static Age alles, was unsereins mal herausgegeben oder damals eben nicht auf Vinyl gepresst hat. Nirgends ist der Zuspruch so groß wie hier in Deutschland. Ich bin immer wieder richtig geflasht, was für ein Wissen und Wertschätzung mir, sprich: dem Swiss Punk und Wave, da entgegengebracht wird. Kannst du diese Einschätzung teilen?
Hollow: Zu viel der Ehre! Ich hatte damals zwar relativ oft über den Swiss Wave in No Fun berichtet und auch für das Musikmagazin Sounds einen Artikel über LILIPUT geschrieben, maßgeblicher war aber wohl der ebenso überraschende wie immense Erfolg von GRAUZONE, deren „Eisbär“ ja auch von boots vertrieben wurde. Und nicht zu vergessen: Der Grafiker von Sounds, Hans Keller, der ja auch viele Platten besprach, stammte ebenfalls aus der Schweiz. Kam nicht auch Salome von GEILE TIERE, die ebenfalls von boots vertrieben wurden, aus der Schweiz? Last but not least möchte ich an Dieter Meier erinnern, der zwar kein Punk war, aber später mit YELLO das Interesse an Schweizer Platten weckte. Über den Einfluss von Liz kann ich hingegen nichts sagen, nur dass sie eine gute Gastgeberin war, als ROTZKOTZ und ich bei ihr und Russell in Whitstable wohnten.
Lurker: Du gehst jetzt aber zeitlich weiter, da gebe ich dir nur teilweise recht. Der Song „Eisbär“ von GRAUZONE erschien zum ersten Mal auf dem „Swiss Wave – The Album“-Sampler am 26. September 1980 in einer Auflage von 1.000 Exemplaren und fand vorerst nur wenig bis gar keine Beachtung außerhalb der Szene. Erst im Jahr darauf, als EMI Welt Records den Song als 12“ und 7“ veröffentlichte, wurde er zu einem regelrechten Smash-Hit, denn die DJs spielten ihn sofort. Offiziell wurden 450.000 Exemplare verkauft und „Eisbär“ schaffte es in Deutschland und Österreich in die Hitparaden. Es kamen weitere Lizenzen dazu, von Japan bis Brasilien, sowie die damals üblichen Schwarzpressungen. Martin Byland von Off Course Records schätzte das Total der weltweit verkauften „Eisbären“ schlussendlich auf rund eine Million Kopien. Bei YELLO beläuft sich das Ganze ähnlich. Im April 1979 erschien ihre erste 12“ mit den beiden Songs „I. T. Splash/Glue Head“, auch diese fand nur wenig bis keine Beachtung. Erst ihre erste LP „Solid Pleasure“, die in den USA bei Ralph Records am 15. Oktober 1980 und in Europa erst im Jahr drauf am 24. Februar erschien, machte die Band einem breiteren Publikum bekannt. 1981 war aber schon länger Schluss mit Swiss Punk/Erste Welle. Sozusagen alle Bands hatten sich aufgelöst oder unter einem anderen Namen in neuer Formation mit Post-Punk weitergemacht. Jetzt stellt sich die Frage, wer von diesen GRAUZONE- und YELLO-Hörern – Live-Konzerte gab es von beiden Bands keine – wusste, dass GRAUZONE sich aus der Punkband GLUEAMS heraus formierten und YELLO aus DIETER MEIER & FRESH COLOR und TRANCEONIC. Letzteres wussten dies bis vor kurzem eigentlich nur eine Handvoll Personen. Dazu kommt, dass GRAUZONE als NDW-Band eingestuft wird, sprich, es herrscht die allgemeine Meinung, dass sie eine deutsche Band sind/waren. An einer Korrektur dieser Meinung arbeiten wir seit letztem Jahr mit deren Wiederveröffentlichungen. Bei GEILE TIERE war dies Luciano Castelli, nicht Salome, der heute noch in Kreuzberg lebt, bei PALAIS SCHAUMBURG Thomas Fehlmann, bei MINUS DELTA T Mike Hentz, bei DIE UNBEKANNTEN, DIE GESUNDEN, DIE HAUT und bis heute NICK CAVE & THE BAD SEEDS Thomas Wydler and so on ...
Hollow: Du hast natürlich recht: Luciano Castelli war der Schweizer, den hatte ich nicht mehr auf dem Zettel. Und dass GRAUZONE aus den GLUEAMS hervorgegangen waren, deren Singles ich damals rauf- und runter gespielt habe, war mir nicht mehr bewusst. Gut, dass es solche Punk-Pedanten wie dich gibt!
Lurker: Danke dir für das Kompliment. Gehen wir ein wenig in die Gegenwart oder Zukunft. Wir sind ja beide „alte Knacker“ und haben einiges erlebt und schreiben viel und gerne. Die Idee der eigenen Memoiren drängt sich da auf. Du bist da ja schon ein wenig weiter, als ich es bin. Was hat dich dazu bewegt?
Hollow: Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, blickt man ja fast zwangsläufig auf sein Leben zurück und versucht herauszubekommen, warum es so und nicht anders verlaufen ist. Und ich habe eben ganz viele interessante Leute kennen gelernt, was ich zu einem großen Teil dem Punk zu verdanken habe, der mein Leben doch mehr geprägt hat, als ich es mir zwischendurch manchmal gewünscht habe. Ob ich wollte oder nicht, letztlich bin ich darauf immer wieder zurückgekommen und schätze mich glücklich, diese Zeit hautnah mitbekommen zu haben und nicht nur aus Büchern zu kennen. Aber mein Leben bestand eben auch nicht ausschließlich aus Punk, hat nach dieser kurzen Phase der Anarchie 1977 bis 1980 immer wieder Fahrt aufgenommen, und darüber will ich mir wohl klarwerden. Im Grunde sind ja alle meine Bücher autobiografisch gefärbt, ob ich nun über Rio Reiser oder DIE TOTEN HOSEN, die NDW oder die Rote Gourmet Fraktion geschrieben habe. Wenn ich meine Erlebnisse mit den über siebzig (Auto-)Biografien vergleiche, die ich in den vergangenen Jahren lektoriert habe, habe ich auch außerordentlich viel erlebt, ohne je einen Plan B gehabt zu haben – ich hatte ja noch nicht mal einen Plan A. Es ist alles wie zufällig passiert, aus etwas anderem hervorgegangen oder hat sich fast nahtlos an etwas angeschlossen. Vielleicht will ich ja mit meinen Memoiren auch anderen Mut machen, ihr Leben nicht allzu sehr zu planen, sondern es darauf ankommen zu lassen. Nicht nur daran zu denken, wie man die nächste Rate für den Bausparvertrag zusammenbekommt, sondern das zu tun, was ein Punk tun muss: Etwas in die eigenen Hände nehmen und selbst etwas schaffen, aufbauen – und es wieder einreißen, wenn die Zeit reif ist, um etwas Neues zu tun. Dieser Do-It-Yourself-Gedanke war ja eigentlich das wirklich große Ding des Punk, und dem bin ich noch immer verhaftet. Amen.
Lurker: Als nicht gefragter, aber getaufter Katholik, als auferstandener Punk, der genau nach diesem Prinzip lebt, wie du es besser nicht beschreiben kannst, stimme ich dir 101% zu und freue mich, deine Memoiren meinen Kindern und Enkelkindern ... Scheiße, habe ja gar keine – doch irgend jemand wird dann schon da sein, dem ich diese vorlesen kann.
Lurker Grand
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ROTZKOTZ
Ein Interview mit „Unruly“ Uli
Uli, was hat das mit deinem Punknamen Doo Little und bis heute dem Zusatz „Unruly“ auf sich?
Als ich im Januar 1978 zu ROTZKOTZ stieß, gab es da schon ein Plakat. Dies zeigt in der Manier des Fahndungsplakats des Bundeskriminalamtes von 1972 – Anarchistische Gewalttäter, „Bader-Meinhof-Bande“, Rote Armee Fraktion/RAF – die vier ROTZKOTZ-Mitglieder mit ihren Übernahmen. Zuunterst auf dem Plakat wurde das Emblem der Rote Armee Fraktion statt mit dem MP5-Maschinengewehr mit einer Gitarre versehen. Dies, weil ROTZKOTZ mit der arroganten Missachtung des menschlichen Lebens durch die RAF nicht einverstanden waren. Somit musste ich mir schnell was überlegen, mir fiel aber kein „punkiger“ Name ein. Ich glaube, es war der Einfluss von Reggae, und klar dachte ich auch an Dr. Dolittle. Letztendlich war’s mir auch nicht so wichtig. Das Etikett „Unruly“, also „ungezogener“ Uli gaben mir 1980 THE NAMES, als ich von Russel angefragt wurde, als ihr Fahrer, Roadie und Tourmanager mitzumachen. Ich glaube, es war auch Russel, der dies als Erster sagte. Da steckt wohl auch was von „erratic“, unberechenbar, drin.
Somit hat das mit deinem Charakter zu tun. Als wir anfingen, uns per Mail auszutauschen, hast du den Zusatz „Unruly“ ins Spiel gebracht. Hast du mir das bewusst geschrieben, da ich dich an deine Punk-Zeit erinnere, oder wirst du heute noch so von Freunden und Bekannten gerufen?
Ja, ich hatte kurz davor mit Russel Lax, dem ehemaligen Schlagzeuger von den POP RIVETS und THE NAMES, gemailt und da hatte ich mal wieder davon Gebrauch gemacht. Doch hier in Holland, wo ich ja jetzt lebe, bin ich unter diesem Namen nicht bekannt.
Russel hatte bei den POP RIVETS den Übernamen Little Russ und du bei den ROTZKOTZ Doo Little, was ja irgendwie ein lustiger Zufall ist. Euch verbindet ja eine lange und tiefe Freundschaft. Wie kam es dazu und wieso habt ihr euch menschlich so gut verstanden?
Es hatte gleich bei unserem ersten Zusammentreffen „geklickt“. Liz und Russel kamen im Frühjahr 1979 zum ersten Mal in den Schallplattenladen Musicland hier in Hannover. Ich arbeitete damals dort und sie verkauften uns einige Exemplare der ersten noch handgemachten POP RIVETS-LP „Greatest Hits“. Es war sofortige und gegenseitige Sympathie, viel Gesprächsstoff mit gemeinsamen Interessen wie: Musik, Punk in the UK, John Peel, Monty Python, Touren und Platten aufnehmen und produzieren. Russel ist einfach auch „good fun“, offen, authentisch, ehrlich, konstruktiv und natürlich, nicht zu vergessen, der britische Humor, den ich sehr mag. Ich würde sagen, wir sind so ’ne Art Soulmates!
Aus dieser Freundschaft entstanden auch umgehend etliche Projekte. Gehen wir mal deren fünf durch. Erstens: Zwei POP RIVETS-Touren durch Deutschland und die Schweiz, im Sommer und Herbst 1979.
Bei den beiden POP RIVETS-Touren war ich eigentlich nicht direkt beteiligt. Bei der Sommertour war ich natürlich als Fan bei den Konzerten, die in Hannover und Umgebung stattfanden. Ich glaube mich auch zu erinnern, dass Russel und noch zwei Bandmitglieder nach dem Konzert in unserer WG übernachtet haben. Von der Herbsttour habe ich eigentlich nur durch Russ telefonisch mitgekriegt, dass Liz diesen Unfall hatte.
Zweitens: ROTZKOTZ nahmen an zwei Tagen, am 4./5. Juni 1979, in den Oakwood Recording Studio in Herne Bay Kent, England ihr erstes Album „Vorsicht ! Paranoia“ auf.
Nach dem Zusammentreffen im Frühjahr 1979 mit Russ und Liz blieben wir weiter im Kontakt und nachdem wir hörten, wie günstig es ist, in England Aufnahmen zu machen – damals gab es in Hannover und Umgebung noch keine kleinen Projekt- oder Demo-Studios –, sind wir schließlich im Juni 1979 nach Herne Bay gegangen, wo es ein Achtspur-Studio gab. Geschlafen haben wir bei Russel im nahen Whitstable. Am ersten Tag haben wir die Basic Tracks und ein paar Overdubs aufgenommen, am zweiten den Gesang und abgemischt. Unter anderem war auch Hollow Skai dabei und Russel und er sind auch bei den Background-Vocals zu hören. Das Ganze war eigentlich mehr oder weniger eine „Live im Studio“-Aufnahme, ziemlich rauh. Wir hatten wenig Zeit und beim Mischen waren unsere Ohren noch taub, hahaha ... Da wir kein eigenes Label hatten, hat Russel uns angeboten für die erste Pressung von 300 Exemplaren, diese auf ihrem Label Hipocrite unter der Nummer Hip 666 rauszubringen. Bis die LP in England fertig gepresst war, dauerte es noch bis zum 12. September. Dann hatten wir endlich 300 LPs mit white Labels und Cover in unseren Händen. Doch meine Mitmusiker hatten keine Lust, da was zu machen, und unser Schlagzeuger Peter Köhler wurde in der Zwischenzeit von der Bundeswehr eingezogen – also habe ich ’ne Schablone vom Plakatschriftzug gezogen und mit Manfred Schütz vom boots-Plattenladen auf die Labels „Vorsicht ! Paranoia“ gestempelt und den Umschlag mit ROTZKOTZ besprayt. Der Rest der ersten Auflage wurde zum großen Teil von mir und Manfred verteilt.
Drittens: Ein Teil der Auflage erschien auch auf dem Label Hipocrite Music von den POP RIVETS, dies aber mit dem Titel „Much Funny“.
Für die Auflage mit dem Fotoumschlag „Much Funny“ und dem gedrucktem Label, ebenfalls HIP 666, war ich nochmals in England und habe die Platte neu schneiden und mastern lassen. Gepresst wurde dann bei Pallas in Norddeutschland.
Viertens: Eine THE NAMES-Tour, abermals durch die Schweiz und Deutschland im Mai/Juni 1980.
Im Mai meldete sich Russel bei mir und fragte mich, ob ich eine für Ende Mai geplante Schweiz/Deutschlandtour als Fahrer, Roadie und „Tourmanager“ mitmachen würde. Ich hatte gerade meinen Job bei Manfred Schütz’ Plattenladen aufgegeben und trampte somit Mitte Mai nach Canterbury. Nach einem letzten Auftritt der NAMES mit zwei anderen Bands in Canterbury ging’s im alten Bedford-Van mit Doppelkabine und der Backline, Instrumenten und Schlafsäcken aufs Festland. Die Tour startete am 27./28. Mai in der Heimatstadt von Liz mit zwei Gigs im Penelope/Albani in Winterthur in der Schweiz. In Deutschland wurde meine WG in Hannover zum Dreh- und Angelpunkt für diverse Gigs, Hannover, Berlin, Gelsenkirchen, Gütersloh, Braunschweig, Hagen, Düsseldorf, Bochum etc.
Fünftens: Wie kam es zu der THE NAMES-Single Too Cool To Dance?
Nach der Tour im Juli nahm ich wieder Kontakt zu meinem „alten“ Arbeitgeber Manfred Schütz auf. Er hatte ja mit der ersten ROTZKOTZ-LP den unabhängigen boots-Vertrieb gegründet und war bereit, eine THE NAMES-Single zu finanzieren und zu vertreiben. Am 7. und 8. August wurde die Single mit drei Songs von der Demokassette im Studio Toncooperative Hannover eingespielt. Um die Single „legal“ rauszubringen, gründete Manfred das Label GeeBeeDee. Danach sollte eine LP folgen. Leider wurde daraus nichts. Zwar wurde im September eine Demokassette mit guten Songideen aufgenommen, aber Manfred hatte inzwischen so viele andere Bands unter Vertrag genommen, dass er die NAMES nicht in der gewünschten Art und Weise unterstützen wollte oder konnte. „No money, no honey.“ John Lewis, ihr Sänger und Gitarrist, der schon häufig über fehlende Kohle geklagt hatte, stieg aus, nahm einen Job bei seinem Vater als Versicherungsagent an und die NAMES lösten sich in der Folge auf.
Im Herbst 1979 bist du bei ROTZKOTZ ausgestiegen. Was war der Grund dafür? Hast du jemals wieder in einer Band gespielt oder sonst in einer Form Musik gemacht?
Also, musikalisch ging das mit uns vieren ja relativ gut, aber organisatorisch und menschlich waren wir nicht gerade auf einer Linie, unter anderem too much arrogantes posing. Besonders hilfreich waren da unser Sänger E.A. und Gitarrist Horst jedenfalls nicht. Dazu kamen personelle Wechsel. Peter, unser Schlagzeuger, wurde im Juli zur Bundeswehr eingezogen. Wir suchten einen neuen Drummer und fanden ihn in der Person des damals 15-jährigen Markus Joseph, heute Marky Ramöne von den HAMBURG RAMÖNES. Er musste natürlich zuerst die Songs mit uns einüben, somit spielten wir kaum Gigs. Dann wurde Angelika „Locke“ Rudloff als zweite Gitarristin gewonnen. Nun kam es zu Uneinigkeiten über unsere zukünftige Musikausrichtung. Ein wenig später zerstritten sich auch noch unser Sänger und Gitarrist. Mein Frust war somit so groß, dass ich im September/Oktober 1979 die Reißleine gezogen habe. Bei mir im Vorderhaus wohnte Annette Benjamin von HANS-A-PLAST mit ihrem damaligen Freund Phil Luland, einem Straßenclown und „busker“ aus England. Mit ihm als Sänger, „Locke“ an der Gitarre, Markus Joseph am Schlagzeug und mir als Bassisten fingen wir an, ein von Punk/Reggae- und Ska-Einflüssen geprägtes Set zu erarbeiten. Wir traten kurz unter dem Namen SPLIFF auf. Ich weiß nicht mehr woher, vielleicht aus entsprechenden Fachpublikationen der Musikindustrie, aber wir wussten schon im März, dass es SPLIFF als Bandnamen bereits gab. Im No Fun Nr. 35, Jan./Feb. Ausgabe, wurden wir noch als SPLIFF angekündigt. In der Neue Hannover Presse vom 7. März 1980 nennen wir uns dann aber schon SPLIZZ. Im Mai 1980 präsentierten die West-Berliner SPLIFF im Kant Kino erstmals ihre 120-minütige Rock-Show „Spliff Radio Show“. Wir spielten als Vorgruppe bei einigen Auftritten von HANS-A-PLAST in Norddeutschland. Im März 1980 erschien auch der erste No Fun-Sampler „Hannover Fun Fun Fun“, wo wir und auch ROTZKOTZ, jetzt wieder mit dem ersten Drummer und neuem Bassmann, mit je einem Song vertreten sind. Danach wurden wir unseren Übungsraum los und als wir nicht umgehend was Neues fanden, lösten wir uns auf. Markus ging wieder zu ROTZKOTZ zurück und Phil sowie ROTZKOTZ-Peter fanden bei KUSCHELWEICH ein neues Zuhause. In den Jahren 1981/82 und 84 gab es jeweils zu Weihnachten und Silvester Benefiz-Auftritte in Hannover, dies in dieser ROTZKOTZ-Besetzung: E.A. Wehmer, Horst, Markus und mir. 1986 bin ich nach Amsterdam übergesiedelt. Dort habe ich ungefähr ein Jahr lang Bass bei den SADISTIC BUSDRIVERS gespielt. So ’ne Punkband aus der hiesigen Hausbesetzerszene. Wir hatten ein paar Auftritte in besetzten Häusern und auf einem kleinen Festival. Auch diese Band löste sich auf, und nachdem 1989 mein Sohn auf die Welt kam, habe ich der Live-Musik erstmal Ade gesagt. Ich habe dann ein bisschen Soundscapes und Licht für unabhängige Tanz- und Theaterproduktionen gemacht. Von 2000 bis 2001 habe ich nochmals in einer „Irish Folk“-Formation Bass gespielt, hahaha! Ich habe ein Homestudio, wo ich so bisschen rumexperimentiere, aber keine Band mehr.
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SOS VOM SINKENDEN SCHIFF BRITANNIA
Vierzig Jahre sind vergangen, seit Liz und ich eine Schachtel POP RIVETS-Platten in die Schweiz brachten, in der Hoffnung, ein paar Exemplare zu verkaufen, wen auch immer wir dafür interessieren konnten. Wir hatten keine Pläne, irgendwelche Live-Shows zu arrangieren, da wir null Erfahrung darin hatten, aber im Geiste der damaligen Zeit gelang es uns irgendwie, eine kleine Tour zusammenzustellen. Ein Denkanstoß, dass Liz und ich unwissentlich zum Rock’n’Roll-Lifestyle in der Schweiz beigetragen haben – ansonsten hätte man hier ein gesundes und zufriedenes Leben bis in alle Ewigkeit geführt!
Ich habe beschlossen, nicht über die POP RIVETS oder unsere verschiedenen Reisen durch Europa zu schreiben. Ich möchte lieber über die Umstände schreiben, welche zum massiven Umbruch durch Punk führten. Wie war es möglich, dass eine kleine, feuchte Insel, in den späten Siebziger Jahren so viel eigenständige und bahnbrechende Musik produzierte, und was ist mit England geschehen seit diesen verwegenen Zeiten?
Man sagt, dass großartige Kunst oft in Zeiten mit großen Konflikten geschaffen wird, und die späten Siebziger Jahre waren eine Zeit mit gewaltigen Turbulenzen in England. Da war eine Atmosphäre von Nihilismus und Niedergeschlagenheit (perfekt!), da Margaret Thatchers rechtsorientierte Regierung und neoliberale Politik an die Macht gekommen waren und ganzen Gemeinschaften zerstörten. Diese Tatsache für sich lieferte einen fruchtbaren Boden für Rebellion und Veränderung, denn ohne Zweifel inspirierte das damalige politische Klima viele Musiker und Künstler.
Aber ich denke, es gab noch einen weiteren wichtigen Grund, der dazu beitrug. Das Hochschulwesen war damals in den Siebziger Jahren in England für alle gebührenfrei. Zum ersten Mal vermischten sich dabei junge Leute mit allen möglichen Backgrounds und aus allen Klassen und tauschten Ideen und Körperflüssigkeiten aus! Die Barrieren waren weg und das Resultat war eine gewaltige Menge an aufregender neuer Kunst und Musik, die während dieser Zeit aus britischen Kunstschulen und Colleges hervorkam.
Sogar nachdem ich die Kunstschule schuldenfrei verlassen hatte, war es möglich, sich arbeitslos zu melden und auf die wichtigen Sachen zu konzentrieren, wie Aufmerksamkeit für die eigene Band zu erlangen! Wir lebten in besetzten Häusern, die auch als Probelokale dienten, überlebten mittels Postschecks, Amphetaminen und Fantasien vom Ruhm. Irgendwie eine romantische Zeit, wenn man so will. Mit der realen Bedrohung eines Nuklearkriegs über unseren Köpfen setzte sich auch eine „Nach mir die Sintflut“-Attitüde durch. Niemand hatte Geld, es gab keine Arbeit und wir konnten morgen atomisiert werden – also was zur Hölle soll’s, let’s party!
Dieses Durchmischen von Kulturen und die heutzutage unvorstellbare Freiheit spielten eine gewaltige Rolle dabei, dass so viel innovative Musik in den späten Siebziger Jahren aus England kam. Auf eine Art und Weise muss man dem englischen Bildungssystem und Thatcher dafür danken!
Wir haben 2020 und der Untergang geht für die Mehrheit der Briten weiter. Gier und Armut überall, wo du hinschaust. England ist jetzt Mittelpunkt für Geldwäscherei und eine Touristendestination, ohne Rücksicht jeglicher Art auf das Wohl seiner eigenen Bürger. Leute sterben wortwörtlich auf der Straße. Ich fühle mich wie gefangen in einem Land von Idioten, die mit Träumen von Patriotismus und den einstigen „glorreichen Zeiten“ des Empire und der Kriege künstlich ernährt werden. Niemand scheint dies zu bemerken oder kümmert sich groß, während wir immer weiter in einen nationalistischen und nostalgischen Morast abrutschen. Wir sind alle viel zu beschäftigt, auf Bildschirme zu starren! Totaler Konsum hat uns alle gezähmt, und wie so viele Jugendbewegungen wurde Punk innerhalb weniger Jahre kommodifiziert, monetarisiert, gefahrlos und akzeptabel gemacht.
Punk war für mich nicht so sehr Bondage-Hosen oder Irokesenfrisuren. Es war mehr ein neuer Ansatz für Kunst und Musik, Anti-Konsum und die eigene Erdbeerkonfitüre zu machen. Nicht den ganzen Tag nur für den Mann zu schuften und dadurch auch das Böse des Kapitalismus zu besiegen. Schön wär’s! Zügelloser Konsum regiert immer noch, und deshalb haben wir uns verschuldet, so viele Leben bedeutungslos gemacht und sind dabei unseren Planeten langsam zu zerstören. Wer weiß, wo all das hinführt, wenn wir eine Generation haben, die denkt, dass Sozialismus und Kommunismus das Gleiche sind.
Überwachung ist jetzt überall und lässt kaum Raum, um Proteste hochkommen zu lassen. Extinction Rebellion wurde von der jetzigen Regierung kürzlich als terroristische Organisation bezeichnet. Fast jeder Quadratmeter in England ist nun in Privatbesitz. Studenten sind mit enormen Schulden belastet, finden keine relevanten Jobs und arbeiten schlussendlich in einer Wirtschaft mit Niedriglohn-Nullstunden-Verträgen, welche die Lebenshaltungskosten nicht tragen. Die Briten konsumieren mehr Alkohol und Drogen als jede andere europäische Nation, und der Grund dafür ist offensichtlich. Wir sind sehr unglücklich und wir wollen flüchten. Hilfe! Beam me up, Scotty!
Mr. Lax aka Little Russ Lax
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DIE MAMAS gab es und gibt es schon immer. Künstler, Musiker, Dichter, politisch Engagierte, eigentlich alle nehmen sie in Anspruch. Aber wie uns die Geschichte lehrte, blieben sie meist namenlos im Hintergrund. In der Rockmusik wurden Frauen in der Regel von den Männern auf die Bühne gestellt. Dann traten Musikerinnen wie Janis Joplin und Patti Smith oder Feministinnen Wie Germaine Greer und Alice Schwarzer ins Rampenlicht und zündeten den Funken. So traten Frauen plötzlich selbständig auf die Bühne, sogar die „Die Mamas“ wurden zuweilen sichtbar.
In meine eigene „Mama“-Rolle bei den POP RIVETS rutschte ich rein zufällig. Die Idee, mit ihnen in der Schweiz aufzutreten, war die von Ivan vom Schallplattenladen Musikbox in Winterthur. Ich tat dann lediglich das, was die POP RIVETS nicht selber tun konnten, einfach aus Liebe zu ihrem Schlagzeuger Russ. Mit ihrer Musik konnte ich nichts anfangen, sie gefiel mir nicht einmal besonders. Bei der Nachfolgeband von Russ, THE NAMES, war es dann anders. Deren Musik gefiel mir sehr. Ich war kein Punk, eher ein altes Hippie-Mädchen. Wir hatten aber etwas Wichtiges gemeinsam, wir ließen uns nicht in Schubladen zwängen.
Meine aktive Zeit mit Musikern wurde durch einen Unfall abrupt beendet, trotzdem war sie von dauernder Bedeutung – ich entdeckte, dass ich sehr viel kann, wenn ich es nur genug wollte. Das kommt mir bis heute oft zu Hilfe, wenn ich etwas organisieren oder aufräumen will – mit anderen Worten, mein Unternehmungsgeist war geweckt, allerdings nie in Richtung Geschäft oder Geldwirtschaft, dafür bin ich zu zu sehr Hippie geblieben.
In den Siebzigern war ja die Zeit von „Curtains up“. Es wurde klar, dass eine Gesellschaft nicht nur aus genormten, vermeintlich „braven“ Bürgern besteht. Das Individuum und auch Andersdenkende und Minderheiten mussten akzeptiert und gehört werden. Obwohl dies in der der Geschichte der Schweiz „eigentlich“ eine Tradition hat, musste dies mit viel Druck in den Achtzigern von innen und außen erst noch erkämpft werden.
Liz
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #152 Oktober/November 2020 und Lurker Grand