Der Berliner Filmemacher Philipp Reichenheim hat mit „Freakscene“ einen beeindruckenden, intensiven Dokumentarfilm über DINOSAUR JR., über J Mascis, Lou Barlow und Murph gedreht, der nach vielen Jahren Vorbereitung ab September 2021 endlich ins Kino kommt und später auch auf DVD und ins Fernsehen. Ich befragte ihn zum Film, zu seinem Alter Ego Philipp Virus und ATARI TEENAGE RIOT wie auch zu seiner familiären Verbindung zu J.
Philipp, wie kamst du einst zur Musik und zum Filmemachen?
Filme und Musik haben seit ich denken kann einen riesigen Einfluss auf mich . Mit breakdancen ging es los ... und dann kam Punk in mein Leben. Mit 15 fing ich an zu fotografieren und ging auf mein erstes Punk-Konzert in Berlin, und ab dann konnte ich von dem Live-Rockzirkus nicht genug kriegen. Mitte der Achtziger kamen super Bands in die Stadt. Es war eine musikalische Aufbruchstimmung in vielen Bereichen und sehr inspirierend. Mit 16 konnte ich dann die erste Videokamera meines Vaters zum Experimentieren benutzen.
Manche kennen dich als Phil Virus aus dem ATARI TEENAGE RIOT-Kontext, manche nur den Filmemacher Reichenheim.
Ich hatte das immer bewusst getrennt. Philipp Reichenheim war Produzent und Regisseur von Kurzfilmen, und Philipp Virus war mein Pseudonym, um visuelle Grenzen auszutesten.Das Rotterdamer International Film Festival nannte mich einmal einen „visuellen Kannibalen“. Ich habe auch viele digitale Fotoausstellungen unter diesem Pseudonym gemacht. Der Name Philipp Virus war inspiriert durch den Philosophen Gilles Deleuze und das klang gut als Punk- und Künstlername so um 1995. Da war ich auch schon voll dabei, mit ATARI TEENAGE RIOT ein Video nach dem anderen zu drehen. Im November 2019 war mir klar, dass ich für „Freakscene“ und Langzeitprojekte meinen bürgerlichen Namen als Regisseur benutzen werde. Philipp Virus hat hier nur die Kamera gemacht.
An was arbeitest du aktuell, woran hast du die Corona-Zeit über gearbeitet?
Wir waren gerade mit der technischen Fertigstellung von „Freakscene“ fertig, als am selben Tag der Lockdown losging. Ich hatte bis Herbst 2020 noch viel mit der Fertigstellung zu tun. Ich drehte noch spontan ein Video für die Sängerin Sofia Portanet – und dann begann ich mein gesamtes Video-, Film-, Foto- und Kunstarchiv von 1991 bis jetzt zu digitalisieren. Das hat bis Februar 2021 gedauert. Es war sehr befreiend, die ganzen Tapes und Rollen auf die Festplatte zu kriegen und gerettet zu haben. Ich denke, dass ich jetzt auch bereit bin, eine Doku über ATARI TEENAGE RIOT anzufangen, und auch über Digital Hardcore und die Neunziger-Jahre-Electronica. Ich habe auch ein Drehbuch für einen Berlin-Neo-Noir-Film mit einem befreundeten Autor entwickelt. Mal sehen, was passiert.
Wie und wann war deine erste Begegnung mit der Musik von DINOSAUR JR.?
Ich kenne die DINOSAUR JR.-Alben seit dem ersten Tag des Erscheinens der ersten Platte in Deutschland. Die Musik hat mich extrem weggehauen, diese Mischung aus Punk, Rock und Noise war einfach einzigartig zu der Zeit. J lernte ich dann 1993 in New York kennen. Irgendwie waren wir sofort Kumpels und er ließ mich auch Artworks und Musikvideos für ihn machen, worüber ich sehr happy war.
J Mascis ist dein Schwager, deine Schwester Luisa seine Ehefrau. Da kann es einerseits auf der Hand liegen, mal zu fragen: „Hey J, ich könnte doch einen Film über euch machen, oder?“ Andererseits kann das ja auch ein Ausschlusskriterium sein. Wie lief das in diesem Fall, wie einfach oder schwer war es, Js Okay zu bekommen?
Das passierte ganz von alleine. Ich hatte 1993 mit meiner 16-mm-Kamera angefangen, ATARI TEENAGE RIOT zu dokumentieren. J hatte ATARI TEENAGE RIOT als Support in Deutschland dabei und somit hielt ich auch für zwei Filmrollen auf DINOSAUR JR. drauf. Später filmte ich auch Js Projekte, wenn ich eine Kamera dabei hatte. Wenn ich eine Kamera in der Hand halte, muss ich einfach draufhalten, das ist wie ein Vertigo-Sog bei mir im Gehirn. Als dann 2004/05 die Reunion kam, war klar, dass ich die Band und ihre Geschichte immer mehr kennen lernte und es auch super interessant fand. Ich drehte dann mit meinen damaligen Partnern Peter Domsch und Liviana Davi eine Live-DVD für DINOSAUR JR. und das war der Wegbereiter für die Doku. J war von Anfang an einverstanden damit, da ich sehr diskret war beim Filmen.
Wie privat kann es werden in so einem Fall? Also was zeigt man, was nicht? Wo ist die Grenze, wo muss auch Unangenehmes rein – etwa Murphs Depression, Lous und Js üble Konflikte Ende der Achtziger?
Die Band ist wie ein eigenes Lebewesen und hat ihre eigene Geschichte. Js und Lous Konflikte sind ja in der Presse richtig durchgekaut worden, so dass da eigentlich alles schon öffentlich gemacht wurde und es wenig Neues gibt. Letztendlich erzählen die Bandmitglieder selber über ihre Konflikte, ihre Wut und die gemeinsame Vergangenheit. Das Live-Material des Kampfes zwischen J und Lou auf der Bühne 1987 ist ein Zeitdokument und war somit auch nutzbar für mich. Ich bin nicht sensationalistisch orientiert gewesen beim Schnitt. Murphs Kampf gegen seine eigenen Dämonen zum Thema Sucht zu thematisieren, erschien mir auch als sehr wichtig. Es geht da um viel Feingefühl und Respekt und darum, die Vergangenheit auch richtig wiederzugeben. Ich glaube aber, dass es uns gelungen ist.
Grundsätzlich „menschelt“ es in deinem Film wenig: Privates wie Kind und Frau und Familie findet nur minimal statt.
Bei „Freakscene“ geht es mir wirklich um die Bandgeschichte. Es ist natürlich klar, dass Familie, Vater zu werden, das Alter einen großen Einfluss auf jeden involvierten Charakter hat. Dennoch durchleuchte ich die Bandeigendynamik. DINOSAUR JR. sind echt coole „weirde“ Typen, die schnörkellos ihr Ding durchziehen. Ohne narzisstische Tendenzen, geradezu bescheiden und bodenständig. Ich habe mich bei „Freakscene“ auf die „dysfunktionale Familie“ DINOSAUR JR. konzentriert und habe mich beschränkt, was zu viele Details über ihre Familien und das Privatleben betrifft. Die gemeinsame Musik und Beziehungen der Gründungsmitglieder innerhalb der Band stehen hier im Vordergrund. Letztendlich „menschelt“ es dann doch gehörig und wir können sogar ein Happy End im Film erleben: Die Band gibt es immer noch und sie machen immer noch geniale, neue Musik.
Als außenstehender Journalist oder Filmemacher kann man natürlich „rücksichtsloser“ vorgehen in seiner Berichterstattung, ist gleichzeitig aber dadurch beschränkt, dass sehr viele Medieninhalte heutzutage stark von Musiker:innen, Labels, Management kontrolliert werden: Was die nicht wollen, ist auch nicht zu sehen, lesen, hören. Wie siehst du das?
Klar hätte man rücksichtsloser an die Geschichte herangehen können, ich denke aber, dass es der Band nicht gerecht werden würde, und somit gibt es keine „reißerischen Energien“, etwa dass einfach nur abgelästert wird. Ich hatte das wirkliche Glück, volle Freiheit zu haben beim Schnitt. J habe ich praktisch erst den fertigen ersten Filmschnitt gezeigt. Er hatte vorher nichts gesehen. Das waren sicher die aufregendsten Minuten für mich, während er den Film das erste Mal sah. Ich habe ganz schön geschwitzt, haha. J sagte mir dann, dass er den Film super findet. Er hatte noch zwei, drei sehr gute Vorschläge und Ideen inhaltlicher Art, die ich auch gerne umsetzte. Es heißt ja immer, zu viele Köche verderben den Brei, und ja, es ist sicher schwierig, wenn Management und Plattenfirmen mitreden, gerade im Falle einer Banddoku. Bei meiner Zusammenarbeit mit Band, Management und meinen Produzent:innen Antoinette Köster und Stephan Holl von Rapid Eye Movies ging es immer um eine authentische Energie im Film. Ich hatte auch das Glück, dass mein Produzent Stephan Holl sich ganz organisch beim Schnitt beteiligte, was auch selten ist. Es gab jedenfalls bei diesem Projekt während der Herstellung keine inhaltliche Zensur oder Marketingstrategien.
Was war deine Idee von dem Film, was wolltest du zeigen, erzählen?
Das Ziel war, einen authentischen Film über die Charaktere J, Lou und Murph und deren Musik zu machen. Deren Freundschaft und musikalische Partnerschaft ist der rote Faden des Films. Zu zeigen, wie sich alle Protagonisten musikalisch und menschlich auf eine gemeinsame Reise mit allen Höhen und Tiefen machen, sich trennen, wieder zusammenfinden. Ein eigener Kreislauf entsteht. Ich finde auch die Bandgeschichte echt interessant. Letztendlich nehmen wir unter anderem die Entstehung der Alternative Music, des Indierock unter die Lupe. Die Mitte der Achtziger war kreativ gesehen eine geniale Zeit für Musik und DINOSAUR JR. waren immer ein Magnet für andere geniale Wegbegleiter. Somit tauchen in dem Film auch viele andere Lieblingsbands auf. Es geht auch darum, die Energie dieser Zeit in das Jetzt zu bringen, als Zeitdokument. Die Musik von damals ist auch immer noch energetisch interessant für die Kids von heute. Alles kann wiederentdeckt werden und in jeder Stadt gibt es eine eigene „Freakscene“.
Warum kommt der Film erst jetzt? Die Aufnahmen sind ja teilweise schon einige Jahre alt.
Es war ein relativ langer Prozess, was die Finanzierung angeht. Mit Rapid Eye Movies hatte ich dann endlich die perfekten „partner in crime“. Der Film ist gefördert worden von der Film- und Medienstiftung NRW. Als es dann endlich grünes Licht gab, musste ich mich durch rund 600 Stunden Archivmaterial beißen. Ja, die Interviews der Bandmitglieder sind über mehrere Jahrzehnte verteilt und letzte Aufnahmen und Interviews wurden im Oktober vor dem Lockdown auf einer US-Westküsten-Tour gedreht. Letztendlich betrachtet der Film die gesamte Karriere der Band über mehr als drei Dekaden. J hatte tatsächlich etwas Sorge, dass der Film nie fertig wird. Es hat so lange gedauert, wie es gedauert hat.
Etwas mehr Vertiefung hätte ich mir beim Thema „Amma“ gewünscht. Das wird nur kurz angerissen, aber es folgt kein weiterer Einblick in Js Seelenleben.
Js Verhältnis zu Amma spricht für sich und beschreibt wahrscheinlich Js Suche nach sich selbst und die Bereitschaft für Transformation und Weiterentwicklung im eigenen Leben. Mir war es wichtig, die spirituelle Hochzeit von J mit meiner Schwester Luisa, durchgeführt von Amma, im Film zu haben, da es für J ein so besonderer Moment in seinem Leben war. Da noch tiefer reinzugehen, wäre vielleicht etwas zu abstrakt und zu viel für die Zuschauer:innen geworden. Ich weiß auch nicht, ob J auf Fragen zu seinem Seelenleben überhaupt mit einer Antwort reagiert hätte, deswegen habe ich an der Stelle Bild und Musik sprechen lassen.
Wie lange hast du dafür Material gesammelt – und ist alles von dir? Bei welchen Gelegenheiten hast du das gedreht?
Wie erwähnt habe ich die ersten Aufnahmen 1995 gemacht, als die Band mit Mike Johnson am Bass und George Berz am Schlagzeug spielte. 1997 löste J die Band auf und ich filmte viele Solo-Auftritte von J wie etwa von J MASCIS & THE FOG. Oder von J, Ron Asheton und Mike Watt, die THE STOOGES-Songs spielen. Ab der Reunion fing ich an, konkret altes Material zu suchen. Hierbei half mir Greg Dalton-Kay, ein Fan und Indierock-Archivar, der akribisch jede existierende Show und Fotos und Videos sammelte. Da tat sich mir ein ganz neuer Kosmos auf. Durch ihn bekam ich viel Bildmaterial aus der Vergangenheit. Ab der Reunion war ich selber oft mit der Band auf Tour, auch privat, und konnte einfach draufhalten.
Da müsste ja eigentlich noch Stoff für zig Filme über Henry Rollins, SONIC YOUTH etc. vorhanden sein, oder? Wird man das irgendwann anderweitig zu sehen bekommen?
Ich habe in der Tat super Footage von Henry Rollins-Interviews und SONIC YOUTH-Live-Shows. Ich habe Lee Ranaldo alles SONIC YOUTH-Material gegeben für deren Archiv. Mal sehen, was damit passiert. Der Rohschnitt von „Freakscene“ war dreieinhalb Stunden lang. Wir haben dann den Schnitt aufgeteilt in A-Seite und B-Seite. Die A-Seite ist der Film geworden und die B- Seite wird eventuell Bonusmaterial für den DVD-Release. Da sind noch echt coole Sachen dabei. Ansonsten gibt es vielleicht irgendwann mal eine J Mascis-Doku.
Für Nicht-Filmemachende ist kaum zu verstehen, wie aufwändig die Rechteklärung für jedes Fitzelchen Bild und Ton ist, man ahnt das beim Abspann. Kannst du das zeitlich quantifizieren?
Oh ja ... Bei der Rechteklärung habe ich mich wirklich zusammenreißen müssen und mir Durchhaltevermögen angeeignet. Das hat mehr als ein halbes Jahr gedauert und ich kam mir oft vor wie Columbo. Das ist manchmal wirklich Recherche-Detektivarbeit, Rechteinhaber in der ganzen Welt aufzustöbern. Es war nicht unbedingt meine Lieblingsarbeit bei dem Projekt. Zudem wurde des Öfteren brutal gehandelt mit mir, das war etwas nervig, aber ich habe es durchgestanden.
Ich empfinde „Freakscene“ eher als „Fan-Film“, der weniger Menschen ansprechen dürfte, die bislang nichts von der Band gehört haben. Wie siehst du das?
Schauen wir mal, was passiert. Ich glaube, dass es sicher auch ein Fan-Film ist, jedoch kann jede Generation da reinschauen und sich inspirieren lassen. Der WDR hat unseren Film nächstes Jahr im Programm und wir haben im Herbst Kinovorführungen im deutschsprachigen Raum, in Japan und England. Alles nimmt gerade sehr an Fahrt auf und wir kümmern uns um alle Regionen. Wir sind auch im internationalen Filmfestival-Betrieb vertreten mit Screenings. Jeden Tag kommen neue Termine dazu und Rapid Eye Movies bringt 2022 den Film als DVD/Blu-ray raus.
Die letzte Frage: Liebt J immer noch rote Brillen – wie im Film zu sehen? Und ist er privat auch so wortkarg wie in den meisten Interviews?
Ich wusste bisher noch nichts von einer Vorliebe Js für rote Brillen. Lila ist seine Lieblingsfarbe. Ich habe mich mit J immer normal unterhalten können. Der ist auch super witzig mit seinem schwarzen Humor. Er ist sicher nicht jemand, der dich vollquatscht. Allerdings kann es manchmal sein, dass es einen Moment dauert, bis die Antwort kommt. Leute reagieren dann meistens ungeduldig und wollen die Konversation weiter am Leben halten und das kann schnell missverstanden werden als permanent wortkarg, anstatt ihn einfach ausreden zu lassen.
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