In der letzten Ausgabe berichtete ich über das europäische Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. In diesem Zusammenhang werden auch Vorträge organisiert, die der Präventionsarbeit und der Erwachsenenbildung dienen. Matthias Adrian, einst eine Schlüsselfigur der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) in Hessen, referiert als Szenekenner für derartige Zwecke. Seit seinem Ausstieg aus den rechtsradikalen Kaderstrukturen fühlt sich Matthias verpflichtet, über die Machenschaften der gefährlichen NPD und der Neonazistrukturen aufzuklären. Einzig und allein mit Fakten weiß Matthias Adrian die Scheinargumente der Rechtsextremen auszuhebeln. So vertritt er seit dem Jahr 2000 das Zentrum für Demokratische Kultur mit dem Neonazi-Aussteigerprojekt „Exit Deutschland“.
Montag, 5. Dezember 2005, 20.00 Uhr. Zwei Polizeiwagen stehen vor dem Evangelischen Bildungswerk am Ölberg in der Regensburger Altstadt. Etwa hundert Besucher finden sich in einem kleinen Lesesaal ein und warten gespannt auf den Neonazi-Aussteiger Matthias Adrian. Vorwiegend Pädagogen erwarten sich Anregungen zum Motto des Vortrags: „Man muss ihnen entgegen treten“. Nach einem kurzen Grußwort des Veranstalters betritt Matthias Adrian durch die Nebentür den Saal. Wie auf Kommando stürzen sich einige Fotografen der lokalen Presse auf den schüchtern wirkenden Herren, um ein gutes Foto zu ergattern. Matthias scheut den Blickkontakt. Nachdem die erste Sensationsgier gestillt ist, beginnt Matthias Adrian, von sich zu erzählen: „Ich möchte gleich schon mal mit allen Klischees aufräumen. Ich komme aus keinem zerrütteten Elternhaus, man hat mich als Kind nicht vernachlässigt, ich war auch kein Einzelgänger oder in der Schule unbeliebt und ich war auch nie arbeitslos“. Danach hat Matthias noch zwei Ausbildungen als Bäcker und Zerspanungstechniker abgeschlossen und war während seiner aktiven Neonazizeit Abteilungsleiter. Aufgewachsen in der hessischen Provinz, wird er durch die Erzählungen seines Großvaters auf den Nationalsozialismus aufmerksam. Der an Waffen interessierte Junge ist von den unkritischen Schilderungen des Opas über seine Kriegsjugend begeistert, jedoch kollidieren diese mit der Schockpädagogik der 68er Lehrergeneration im Geschichtsunterricht an der Geschwister-Scholl-Schule, die Matthias zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund seiner offen gezeigten Gesinnung verlassen muss. „Somit dominierte einmal mehr das Ignorieren des Themas an der Schule.“ Matthias Adrian bezeichnet das nicht interessierte Verhalten der Pädagogen, „das Nichtauseinandersetzen (-wollen) mit der Materie als das eigentliche Versagen der pädagogischen Arbeit.“
Matthias möchte mehr über die Nationalsozialisten erfahren. Er bedient sich einseitiger Quellen wie der National-Zeitung und verschafft sich diverse Nazi-Zines, die neben Nazirockbands auch über das Germanentum berichten. Sehr detailliert erzählt Matthias Adrian, wie er immer mehr in die Neonaziszene gerät. Trotz der Anwesenheit des für nationale Kreise arbeitenden Anwalts Herzogenrath-Amelung im Kreise der Zuhörer lässt er keine Anekdote aus, um die Neonaziszene als dummen, aber sehr gefährlichen Haufen zu entlarven. Da ihm von Anfang an der betrunkene Skinhead in der Truppe, der die Ideologie lediglich als Mittel zum Zweck zur Gewaltausführung nutzt, ein Dorn im Auge ist und sich der Führungskader als inkompetenter Egomanenhaufen entpuppt, distanziert sich Matthias nach einer Weile von der NPD. Sein Ziel ist es, etwas Neues auf die Beine zu stellen. So befasst sich Matthias mit der einschlägigen Literatur, taucht tiefer und tiefer in die schwachsinnigen, nicht fundierten Ideologien der Nationalsozialisten ein, bis er nach einer Weile intensiven Studiums der irrwitzigen so genannten Atlantis-Theorie vor dem Scherbenhaufen seiner bisher geglaubten und als wichtig empfundenen Ideale steht. Er beschließt seinen Ausstieg und wendet sich durch Umwege an Exit, eine private Initiative, die sich Menschen annimmt, die den Neonazistrukturen entfliehen wollen. Von diesem Zeitpunkt an ist Matthias Adrian überzeugter Demokrat, „denn das wahre Feindbild der NPD ist nicht (nur) die politische Linke, sondern vor allem die Demokratie.“
Nachdem Matthias Adrian seinen persönlichen Teil beendet hat, wollen die Pädagogen wissen, wie sie sich in der Öffentlichkeit oder in der Schule verhalten sollen, wenn sie auf rechtsextreme Tendenzen stoßen. „In erster Linie ist es wichtig, sich mit den Hintergründen auseinanderzusetzen“, so Adrian, „auch wenn es erst einmal viel Arbeit macht. In der Regel würden den rhetorisch meist wenig Bewanderten bald die Argumente ausgehen und diese zum Umdenken bewegen. Um den Neonazis bei öffentlichen Kundgebungen den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist Kreativität und Phantasie gefragt. Friedliche und witzige Ideen umsetzen, die trotzdem nicht vom eigentlichen Problem ablenken, aber die Ewiggestrigen als die Deppen hinstellen. Auf keinen Fall aggressives Verhalten oder gar Gewalt ausüben, wie so oft der Fall, was zur Folge hat, dass der rechtsradikale Aufmarsch wegen der ‚linken Chaoten‘ von der Polizei geschützt werden muss. Denn so gewinnt das rechte Spektrum einmal mehr die Medien für sich.“
Ich muss gestehen, mir war die Person Matthias Adrian nach dieser Veranstaltung erst noch etwas suspekt. Aber nach einem Telefonat mit ihm über seine Arbeit bei Exit Deutschland einige Tage später schwand meine Skepsis.
Wie sieht deine Arbeit bei Exit Deutschland aus?
Die in Europa existierenden Aussteigerprojekte sind bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht vernetzt. Exit startete Mitte 1998 auf Initiative des schwedischen Ex-Nazis Kent Lindahl. Die Neonaziszene in Schweden ist zwar klein, aber sehr aggressiv. Das deutsche Projekt Exit wurde nach dem Muster Schwedens von Neonazi-Aussteiger Ingo Hasselbach – bekannt geworden durch das Buch „Die Abrechnung“ –, sowie Bernd Wagner, der sich zu DDR-Zeiten bereits mit Rechtsextremismus auseinandersetzte, und dem Stern-Redakteur Uli Hauser im Herbst 2000 gegründet. Das Team von Exit Deutschland besteht derzeit aus einer Koordinationsstelle mit zwei ehemaligen Polizeibeamten, einem Kriminologen, einem Polizeioffizier und mir als Aussteiger. Da uns die finanziellen Mittel fehlen, ist das hauptamtliche Team etwas geschrumpft, aber es unterstützen uns einige ehrenamtliche Mitarbeiter. Wir sind eine Non-Government-Organisation und nicht zu verwechseln mit den Pseudo-Aussteigerprogrammen der Landesregierungen, die diese lediglich zur Erkenntnisgewinnung nutzen. Auf Wunsch stellen auch wir den Kontakt zur Polizei und dem Verfassungsschutz her, aber ansonsten gehen wir mit den Informationen unserer Betreuten vertraulich um, mit der Ausnahme natürlich, dass wir von Straftaten erfahren, die wir anzeigen müssen, da wir uns ja selbst strafbar machen würden. Bisher betreuten wir circa 250 Leute. Unsere Nummer ist ja bekannt, so dass sich die Personen bei uns melden können. Das ist schon mal der erste Schritt. Dann müssen sie uns erzählen, wer sie sind und was sie gemacht haben, damit wir die Gefährdungslage der Einzelnen einschätzen und überprüfen können. Der Tankstellen-Glatze wird dann eben erzählt, sie soll sich nicht mehr an der Tankstelle aufhalten, während wir jemanden aus dem Führungskader Evakuierungsmaßnahmen vorschlagen werden. Erst muss der Lebensunterhalt gewährleistet sein, gegebenenfalls Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe beantragt werden. Wenn die Existenz gesichert ist, kann man anfangen, die ideologischen Strukturen aufzuarbeiten. Kurz gesagt, wenn der Bauch satt ist, kann man beginnen, mit dem Kopf zu arbeiten. Ein weiterer Teil meiner Aufgabe ist es zu recherchieren. Nazis sind ja so blöd. Einer von denen schreibt darüber sicher im Internet. Dann behalte ich die rechtsextreme Musikszene noch etwas mit im Auge. Wir vom Demokratischen Zentrum beziehen ja auch so Medien wie die Deutsche Nationale Zeitung oder die Deutsche Stimme, um informiert zu bleiben. Exit-Gründer Kent Lindahl fasste den Aufgabenbereich von Exit Schweden folgendermaßen zusammen: „Was Exit tun kann, ist Folgendes: Denjenigen, die aus der Naziszene aussteigen wollen, Hilfe und Unterstützung anbieten, für Eltern und Angehörige als Ansprechpartner fungieren, unsere Kenntnisse und Erfahrungen an Eltern, Schulen, Sozialdienst, Freizeitheime und Polizei weitergeben und aktiv eine Zusammenarbeit dieser Partner unterstützen. Denn eine Zusammenarbeit dieser Partner ist nötig, will man den Zulauf zu diesen Gruppen verringern und viele der schon etablierten Nazis zum Aussteigen bewegen.“
In der Mittelschicht wächst die Furcht vor dem sozialen Absturz, und mit ihr der Hass auf Ausländer. Wie war das konkret bei dir in deinem alten Umfeld?
Bei mir auf dem Dorf, in der Kleinstadt handelte es sich vorwiegend um Heimatvertriebene und Erbhofbauern, die vom Dritten Reich begeistert waren. In einer Kneipe in Bürstadt traf ich zwei ehemalige Mitschüler. Während der eine es gut fand, dass ich aus der Neonaziszene ausgestiegen bin, meinte der zweite, eigentlich würden ja die meisten Leute so denken wie ich. Der hatte das mit dem Ausstieg noch nicht so kapiert.
Nun kümmert sich Exit auch um die betroffenen Eltern, deren Kinder sich in Neonazistrukturen befinden. Wie sollten deiner Erfahrung nach Eltern auf keinen Fall reagieren?
Auf keinen Fall in Panik geraten und zwanghaft versuchen, dem Kind irgendetwas aufzudrücken. Wichtig ist, sich mit der Materie auseinanderzusetzen, und dass sie sich an uns wenden. Trotzdem ganz klar Stellung beziehen, dass man mit dieser Meinung auf keinen Fall einverstanden ist, und dennoch versuchen, nüchtern und objektiv zu argumentieren, um es nicht in einem Streit eskalieren zu lassen.
Siehst du die Neonazibewegung als eine Art eigene Jugendkultur?
Nein. Man kann die rechtsextreme Szene nicht als reine Jugendbewegung bezeichnen. Sicher gibt es so etwas, durch die Musik und das gemeinsame Konzerterlebnis der reizvollen verbotenen Veranstaltungen, die via eMail und SMS publik gemacht werden und spätestens nach anderthalb Stunden, wenn die Polizei davon erfährt, abgebrochen und aufgelöst werden müssen. Aber darüber hinaus darfst du nicht vergessen, dass es in den neuen Bundesländern mittlerweile Kaderstrukturen gibt, in denen die Leute Mitte dreißig sind. Die Glatzen, die damals in Rostock und Hoyerswerda randalierten, haben jetzt selbst Kinder. Wir haben somit jetzt das Phänomen rechtsextremer Jugendlicher aus rechtsextremen Elternhäusern. Und was anfangs noch als Provokation erscheint, wird schnell zu einer ideologisch gefestigten Meinung.
Glaubst du, dass Bildung, auch im Sinne deiner präventiven Aufklärungsarbeit, den Zulauf rechtsextremer Organisationen eindämmen kann?
Ja. Vorausgesetzt, Bildung wird gut vermittelt. Momentan aber sind mehr Arbeitsplätze und Zukunftsperspektiven für Jugendliche wichtiger.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #64 Februar/März 2006 und Simon Brunner