ECHTER PUNK IM WAHREN VEGAS

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Eindrücke aus dem Punk Rock Museum

Am 1. April 2023 wurde in Las Vegas das Punk Rock Museum eröffnet. Bereits zwei Wochen nach der Eröffnung war der Autor vor Ort. Ein gutes Jahr danach schildert er hier seine Eindrücke. Oder das, was davon noch übrig ist.

Bis vor kurzem hieß es noch, sich bei einem Besuch von Las Vegas zu entscheiden: Direkt die komplette Reisekasse beim Roulette verzocken? Sich auf einer Gondel durch ein hyperkitschig nachgebautes Venedig aus Plastik schippern lassen? Oder aus einem fliegenden Hubschrauber mit dem Maschinengewehr auf Zombie-Attrappen schießen? Kann man da wirklich alles machen. Ist nur eine Frage des Geldes. Spoiler: Die Zombies sind sehr teuer! Seit Anfang April 2023 gibt es noch eine weitere Attraktion: das maßgeblich von Fat Mike initiierte Punk Rock Museum. Da ich gerade beruflich mit meinem Bruder in Los Angeles bin und das in den USA so viel wie „in der Nähe“ heißt, entschließen wir uns, dem Museum genau zwei Wochen nach dessen offizieller Eröffnung einen Besuch abzustatten.

Erst mal heißt es also: vier Stunden von Los Angeles durch die Wüste („Fledermausland!“) nach Las Vegas heizen, um uns dort in einer der zahlreichen Hotelburgen einzumieten. Trotz ominöser Resortgebühr und irgendwelchen Steuern ist „The Strat“ noch einigermaßen erschwinglich, denn unsere Kohle sollen wir ja im hauseigenen Casino lassen. So der Plan der Hoteliers. Aber da kennen die uns schlecht: Wir haben die Unterkunft nur gewählt, weil sie fußläufig vom Punk Rock Museum entfernt liegt und wir da nicht mit dem Auto hinfahren möchten. Zum Museum gehört schließlich eine angegliederte Bar und da wollen wir uns im Anschluss an den Besuch der Ausstellung ordentlich einen umhängen. Logisch! Punkrock. Danach dann noch Auto zu fahren, kommt natürlich nicht in Frage. Der Fußweg zum Museum ist abenteuerlich. Sämtliche amerikanischen Klischees greifen. Mehrspurige Straßen, keine anderen Menschen weit und breit, Fußgänger:innen sind nicht vorgesehen, wir also: völlig fehl am Platz. Hier läuft wirklich niemand. Dann eine riesige Stripteasebar. Sieht ziemlich shady aus. Dahinter unser Ziel, ein schwarz angestrichener Flachdachbau, auf dem in großer, giftgrüner Schrift (Font: Friz Quadrata; so wie beim BLACK FLAG-Logo) zu lesen ist: Punk Rock Museum. Links und rechts des Gebäudes Palmen. Sieht wirklich richtig gut aus! Im Vergleich zu den sonstigen Fake-Fassaden, für die Las Vegas berüchtigt ist, kann man diese Schlichtheit definitiv als Statement verstehen. Auf das Wesentliche reduzierte Architektur. Ein Gebäude wie ein Punk-Song. Nichts wie rein.

Am Eingang wird zunächst einmal das Credo des berühmten Banksy-Films umgekrempelt, denn hier gilt nicht Exit, sondern Entry through the Gift Shop! Wir versuchen, uns entsprechend an T-Shirts, ein paar Büchern, Tassen, Kühlschrankmagneten und anderem Kleinkram vorbei zur Kasse zu schleichen. Aber: „Stop!“ Eine Frau in einer Art Uniform (sieht fast aus wie von der California Highway Patrol) hält uns auf und will zunächst wissen: „Do you also want to visit the bar?“ Na ja, klar. Auf jeden Fall! „ID, please!“ Ach ja, man muss natürlich über 21 sein, um sich später einen Drink genehmigen zu dürfen. Wenn man mit Ü40 diesbezüglich kontrolliert wird, freut man sich richtig. Es ist fast wie früher an der Tanke und durch diese Alterskontrolle wirkt hier alles schon nostalgisch, bevor man überhaupt drin ist. Nice! Die Geburtsdaten auf der ID werden als akzeptabel abgenickt und die uniformierte Türsteherin verpasst uns ein grünes Bändchen ums Handgelenk. Hätten wir wohl ein schwarzes X auf den Handrücken bekommen, wenn wir erst zwanzig gewesen wären? Wäre natürlich auch irgendwie cool gewesen. Anyway, zweiter Versuch zur Kasse vorzudringen: Jetzt klappt’s. Die junge Frau, die hier das Sagen hat, ist sehr nett. Sie freut sich über Kundschaft. Im Moment scheinen wir tatsächlich die einzigen Gäste zu sein. Viel los ist im Eingangsbereich jedenfalls nicht. Ich zahle mit Kreditkarte. 32,70 Dollar. Pro Person. Steuern inklusive. Nicht gerade günstig, aber es ist ja für Kultur. Jetzt also endlich ab in die Ausstellung.

Der erste Eindruck ist ein olfaktorischer: Es riecht komplett neutral. Fast schon steril. Sollte Punk nicht irgendwie riechen? Vermutlich sind die vielen Vitrinen und Schaufensterkästen, auf die man zugeht, aber einfach einigermaßen luftdicht verschlossen, so dass die ausgestellten Exponate ausschließlich visuell wirken. Das tun sie allerdings umso intensiver: Ziemlicher Overkill! Überall Flyer, Poster, Fotografien. Zum Teil Originale aus den 1970er und 1980er Jahren, zum Teil aber auch ein paar Reproduktionen, mit denen große Flächen der Wände tapeziert wurden. Wie bei einem großen Wimmelbild weiß man gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll. Ein bisschen schwankt die Anordnung des Ganzen zwischen chronologisch und thematisch. Natürlich etwas RAMONES, SEX PISTOLS, THE CLASH und Co., dann aber auch ziemlich bald reich bestückte Schaufenster, die größere Themenschwerpunkte setzen, wie eine eigene Hardcore-Sektion. Hier finden sich Flyer und Setlists von ADOLESCENTS über D.O.A. und TEEN IDLES bis zu den ZERO BOYS. Dazu ein paar zerfetzte Klamotten, die von unterschiedlichen Bandmitgliedern gestaltet und getragen wurden. Daneben ist auch eine kleine Infotafel mit Text angebracht. Das sorgt für wirkliche Museums-Vibes. Mike Gitter vom xXx Magazine erklärt hier: „Hardcore changed the fucking world. [...] It remains the last pure youth culture that matters.“ Das kann man natürlich so sehen – auch wenn es hier nur durch Museumsglas möglich ist. Unweit daneben überlebensgroß auf einer riesigen Fototapete: HR von den BAD BRAINS, wie er ins Mikrofon brüllt. Classic. Gegenüber davon, fein säuberlich aufgereiht und ebenfalls vom Glas geschützt: sämtliche Ausgaben des „Punk Magazine“ inklusive der ersten Nummer von 1976 mit der Lou Reed-Illustration auf dem Cover. Das Heft hat sich gut gehalten. Darunter sehr viel Flipside und natürlich auch das Maximum Rocknroll. Man würde gerne reinblättern.

Es bleibt nicht nur beim Betrachten, denn der gesamte Besuch der Ausstellung wird von vornherein mit Musik untermalt, was bei einem Punk Rock Museum ja irgendwie auch als essentiell gelten dürfte. Während also hier noch Ian MacKaye bei einer Live-Performance von MINOR THREAT brüllt, die auf einem Flatscreen-Monitor gezeigt wird, hört man dort bereits die ersten Akkorde von „Basket case“, so dass auch GREEN DAY gleich zu Anfang ihren Beitrag zu einer Art musealen Kakophonie leisten, die durch ihre moderat eingepegelte Lautstärke gar nicht mal so unangenehm klingt. Noch weiter aus der Ferne erhebt sich derweil die Stimme von Kathleen Hanna von BIKINI KILL, die „Rebel girl“ intoniert und dadurch die Thematisierung der Riot Grrrl-Bewegung ankündigt, die hinter einer der nächsten Ecken auf uns zu warten scheint. Dazwischen immer wieder Songfragmente von anderen Bands. Manchmal leise, manchmal laut. Es gilt hier eben einfach Gleichzeitigkeiten auszuhalten oder sich schlicht darauf zu konzentrieren, was eine:n gerade am meisten anspricht. Das ist generell eine gute Herangehensweise an die unzähligen Objekte, die neben den Flyern, Fanzines und Platten in den Vitrinen präsentiert werden.

Steht da tatsächlich ein SST Electronics T1 Ham Radio Tuner? Den muss Greg Ginn irgendwann um 1971 zusammengelötet haben; lange bevor er BLACK FLAG gründete und lange bevor die Bedeutung der Buchstaben SST sich von Solid State Tuners respektive Solid State Transmitters verschoben hatte, um für eine nicht unerhebliche Weile zu einem Qualitätssiegel avantgardistischer Punk/Hardcore-Musik zu werden. Unweit von dem SST-Gelöt steht eine Fender Super Twin Combo in Snakeskin-Optik. Ist das echtes Schlangenleder? Ziemlich abgewetzt! Das Teil gehörte mal D. Boone von den MINUTEMEN, und im Gegensatz zu vielen seiner hier in der Ausstellung vertretenen Zeitgenoss:innen ist der schon seit fast vierzig Jahren tot und dürfte sich damit definitiv für einen Platz im Museum qualifiziert haben. Tim Armstrong hingegen lebt zwar noch und zeigt sich nicht nur bei RANCID ziemlich agil, seine alte left-handed Seville Stratocaster-Gitarre hat er aber trotzdem in den Ruhestand entlassen und hier in Las Vegas zur fachgerechten Archivierung abgegeben. Immerhin wurden auf diesem Instrument die „Heptic“-EP und das „Energy-“Album von OPERATION IVY eingespielt, und das ließe sich natürlich als museumsreife Leistung einstufen, wenn die Songs von OPERATION IVY nur nicht noch so frisch und kein bisschen angestaubt klängen. Unterm Strich hat diese Klampfe vermutlich auch mehr zur Punk-Historie beigetragen als Kurt Cobains Lederjacke oder Roger Mirets originalen Zipper Boots (die trug man damals als günstige Alternative zu kostspielig aus England importierten Doc Martens). Ehrfürchtig durchs Glas bewundern darf man diese modischen Reliquien hier trotzdem.

Ebenfalls gut verglast widmet sich eine ganze Vitrine verschiedensten Memorabilia von SUICIDAL TENDENCIES mitsamt den berühmten Skelett-Zeichnungen von Skateboarder Lance Mountain. Überwacht wird dieses Ensemble von einem fast lebensgroßen Pappaufsteller von Mike Muir. Der schaut grimmig, wie immer. Zwischendurch dann einfach mal ein großes L7-Tourplakat: „Pretend we’re dead“. Ganz in der Nähe eine Vitrine mit unterschiedlichsten Gegenständen, die durch ein Hinweisschild als „Various items owned by Darby Crash“ ausgezeichnet sind. Zu sehen: ein Eisernes Kreuz an einer Kugelkette, ein Lederarmband und mehrere Buttons, unter anderem mit der Aufschrift „Nuke the Valley“, und einem Foto, das Darby Crash selber zeigt. Das hat natürlich Stil. Daneben, mit einem extra Hinweis versehen, dann auch noch das handschriftlich gefüllte „Phone book belonging to Darby Crash“. Es ist aufgeschlagen, so dass man einen exklusiven Einblick in sein Adressregister bekommt und ich nun die Festnetznummer des PLUGZ-Bassisten Barry habe. Ich glaube aber nicht, dass die noch aktuell ist. Ob Barry überhaupt noch lebt? Darby Crash wäre dieses Jahr jedenfalls 65 Jahre alt geworden. Aber er ist bereits seit 1980 tot. Auf einem weiteren seiner hier versammelten Buttons steht „Pay or Die“.

Ein paar Schritte weiter sind auf einer Fototapete Dexter Holland und Noodles während eines OFFSPRING-Konzerts zu sehen. Dexter noch mit Zöpfchen. Dazu, fein säuberlich eingerahmt, das Album „Smash“ und eine Ehrung für 11.000.000 verkaufte Platten: „The biggest selling independent record in history!“ In dieser Ecke der Ausstellung wird es jetzt sowieso erst mal sehr Epitaph- und Fat Wreck-lastig und es sind allerlei Dinge von BAD RELIGION, NOFX und PENNYWISE zu sehen: das Originalgemälde von Joy Aoki, das als Cover für das BAD RELIGION-Album „Against The Grain“ diente, ein Surfboard von NOFX (sieht wirklich benutzt aus) und einige Entwürfe für das Cover der 1989er PENNYWISE-Platte „A Word From The Wise“. PENNYWISE liefern dann auch so etwas wie das Herzstück des Museums, denn in dessen Mitte findet sich eine 1:1-Nachbildung ihres Proberaums, der eigentlich über zwanzig Jahre lang in einer Garage in Hermosa Beach beheimatet war. Wie eine Infotafel verrät, dient der Raum auch heute noch einer Reihe von South Bay-Bands als Übungsstätte. Er gehört mittlerweile Justin Thirsk, dem Bruder des verstorbenen PENNYWISE-Bassisten Jason. Das Kurator:innenteam des Museums hat hier ganze Arbeit geleistet, wie sich im Vergleich mit einem Foto der echten Garage zeigt, das direkt neben dem Nachbau aufgehängt wurde, um von dessen Originaltreue zu zeugen. Von Graffiti-Sprüchen an der Wand („Shut the fuck up!“) über die leeren PBR-Dosen auf den Amps bis zum Setup der Lautsprecherboxen und des Drumsets sieht alles so aus, als sei die Band gerade erst nach einer langen Probe aus dem Garagentor in die kalifornische Sonne entschwunden. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Abermals kommt der olfaktorische Aspekt zur Geltung und wirkt sich entlarvend aus: Wer auch nur einmal für ein paar Minuten in einem Proberaum war, wird sofort feststellen, dass auch hier der Geruch fehlt: kein Bier, kein Schweiß, kein Pups. Das kann kein realer Proberaum sein und konsequenterweise ist für uns Besucher:innen auch der Eintritt verboten. Man darf nur schauen. Aber in Las Vegas ist ja sowieso nichts echt, oder?

Da steht Mike Roche. Der Bassist von T.S.O.L. Nicht als Pappaufsteller wie sein Namensvetter Muir, sondern im Gegensatz zu der gefaketen Garage ganz in echt. Sieht ziemlich müde aus und ist etwas wackelig auf den Beinen. Gehört der hier zum Inventar? Nein, ich erinnere mich, dass man für 100 Dollar pro Person eine geführte Tour durch das Museum buchen kann, die dann von wechselnden Persönlichkeiten aus der Punkrock-Community durchgeführt wird. Heute ist offensichtlich Roche dran. Um ihn herum stehen fünf Besucher:innen, die sich diesen Spaß gönnen. Gemeinsam betrachten sie alte T.S.O.L.-Flyer, während einer der Teilnehmenden aufgeregt erzählt, dass nach irgendeinem T.S.O.L.-Gig vor zig Jahren mal einige Leute der Supportband in seinem Keller übernachtet haben. Das sei in Ohio gewesen. Mike Roche wirkt etwas abwesend, nickt aber freundlich. Mein Bruder zieht mich schnell weiter, bevor wir noch 100 Dollar nachlösen müssen. Es wird sowieso Zeit, ins nächste Stockwerk zu wechseln.

Auf einer Art Zwischenetage lauert eine Überraschung: Hier befinden sich ein Tattoostudio und eine Hochzeitskapelle, die so aussieht, als würde jeden Augenblick ein Elvis-Imitator hinter dem Vorhang hervorspringen, um Ringe auf die Finger von frisch Vermählten zu stecken. Wenn man wollte, könnte man sich im Punk Rock Museum also als Andenken erst ein wenig Tinte unter die Haut jagen und sich danach noch flugs trauen lassen. Viva Las Vegas! Im Moment wirkt das allerdings alles noch ziemlich verwaist, was daran liegen mag, dass das Museum erst seit zwei Wochen geöffnet hat und die hier angebotenen Serviceleistungen noch an Fahrt aufnehmen müssen. Heute wird jedenfalls weder geheiratet noch tätowiert und ein paar Treppenstufen weiter ist es ohnehin interessanter. Dort befindet sich ein kleiner, schalldicht abgetrennter Raum, in dem allerlei Gitarren und Bässe mitsamt Verstärken und Comboboxen versammelt sind. Im Gegensatz zur nachgebauten PENNYWISE-Garage ist das Betreten hier ausdrücklich erwünscht und man wird sofort von Rob Ruckus, einem sehr netten, etwas in die Jahre gekommen Punker begrüßt, der erklärt, dass es sich bei den Exponaten ausnahmslos um private Instrumente und persönliches Equipment handelt, das einst von Mitgliedern diverser, international bekannter Punkbands benutzt wurde. Alles darf gespielt werden, ja es soll sogar gespielt werden.

Gitarren von Joan Jett, RANCID oder WASTED YOUTH? Ein Bass von MXPX? Alles da! Ehe ich mich versehe, habe ich den Bass von Fat Mike umhängen. Der mit den ganzen blauen Mike-Aufklebern. Darauf hat er 1993 bei der „WDR Rockpalast“-Aufzeichnung in Essen gespielt. Ich bin mir nicht sicher, was ich fühlen soll. Ehrfurcht? So wirklich entwickelt der Viersaiter für mich keine auratische Strahlkraft. Es ist halt ein Bass. „Go for it!“, fordert mich Rob auf und ich frage mich, wie er das aushält, den ganzen Tag irgendwelchen dahergelaufenen Punkrock-Tourist:innen beim Malträtieren dieser Instrumente zuzuhören. Ich belasse es aus Rücksicht beim vorsichtigen Anschlagen der E- und A-Saite, bedanke mich höflich und schaue mich lieber noch ein bisschen weiter im Raum um. Ach, guck mal, da hängt ja ein gerahmtes Foto, das Mike Roche in Aktion zeigt. Auf dem Bild sieht er noch etwas jünger aus. Das war offensichtlich lange vor seiner Zeit als Tourguide. „Hey, I’ve just seen him downstairs!“, berichte ich Rob. Der weiß natürlich, dass Roche im Haus ist, und freut sich: „Yeah, man.“ Dann tritt ein Teenager in den Raum, der sich bereits den ganzen Tag darauf gefreut hat, auf Fletchers Gitarre „Bro hymn“ zu spielen. Höchste Zeit, diese Instrumentenkammer zu verlassen.

Der Rest der Etage ist sehr geräumig und ganz ähnlich gestaltet wie das Erdgeschoss: schaufensterartige Kästen an den Wänden und in der Raummitte die eine oder andere Glasvitrine mit immer mehr Postern, Platten, Flyern, Objekten und Obskuritäten aus der Punkrock-Welt. Thematisch gibt es hier ein paar Länderschwerpunkte zu sehen und es ist garantiert für jede:n was dabei: Schweden, Brasilien, ja, auch ein bisschen Deutschland. Dann natürlich auch noch Exkurse zu Emo, Pop-Punk, Anarchie. Einmal querbeet durch den Punkrock-Kosmos. Unsere Aufmerksamkeitsspanne beginnt zu schrumpfen und wir freuen uns über einige recht großformatig gerahmte Fotos, die halbwegs willkürlich mit kurzen Zitaten der darauf abgebildeten Musiker:innen für ein paar lustige Zwischentöne sorgen. Da ist zum Beispiel der AFI-Sänger Davey Havok und berichtet von seinem anstrengenden Alltag: „Usually, old ladies tell me to find Jesus. Look, I’m just trying to find some chai and a good vegan muffin.“ Das ist ziemlich deep und so dermaßen aus irgendeinem Zusammenhang gerissen, dass es wirklich einfach mal so stehen gelassen werden darf.

Auch wenn es nicht unbedingt ein „Chai“ sein muss, regt sich bei uns langsam das Bedürfnis nach einem Getränk. Wir treten den Rückzug ins Erdgeschoss an, um dort die sogenannte Triple Down Bar zu besuchen, die neben der PENNYWISE-Garage das zweite räumliche Highlight des Punk Rock Museums bildet. Nachdem in der Ausstellung bleibende Eindrücke gesammelt wurden, sollen hier früher oder später alle landen, um sich an der Theke auszuruhen – vorausgesetzt, sie sind über 21 Jahre alt. Entweder sind heute also besonders viele junge Menschen im Museum oder wir sind neben der Reisegruppe um Mike Roche tatsächlich die Einzigen im Haus, denn zumindest in der Triple Down sind wir vollkommen allein, abgesehen vom Barkeeper. Sofort kommen wir mit ihm ins Gespräch. Er stellt sich nicht nur als Matt Mohawk vor, sondern ist auch entsprechend frisiert. Matt freut sich über unsere Gesellschaft und entpuppt sich als äußerst redefreudig. Erst vor kurzem hat er seine eigene Bar in Florida aufgegeben und ist der Liebe wegen nach Las Vegas gezogen. Das ist natürlich maximal romantisch, denn die meisten kommen ja wegen des zu gewinnenden Geldes. Matt gewinnt sein Geld nicht, sondern muss es verdienen, und tut das nun seit ein paar Tagen damit, dass er in der Triple Down Bar unter anderem Bier und ein obskures Getränk ausschenkt, das auf den Namen „Fletcher“ hört. Abermals haben sich PENNYWISE damit in die Museums-DNA eingeschrieben und ihrem gleichnamigen Gitarristen ein Denkmal in Form eines Longdrinks gesetzt: Der „Fletcher“ besteht aus Rum und Cola und wird in einer leeren Pringles-Dose serviert. Die Pringles werden direkt dazu gereicht, so dass sich ein vollwertiges Menü ergibt. Natürlich bestellen wir einen. Matt trinkt ein paar Bier mit und als wir eigentlich gerade aufbrechen wollen, um zurück ins Hotel zu laufen, schlägt er vor, wir könnten ihn auch nach seiner Schicht gegen 23 Uhr abholen. Dann würde er uns „das wahre Vegas“ zeigen. Das klingt nicht nur mysteriös, sondern auch verlockend.

Nachdem wir die bis dahin verbleibende Zeit noch für einen kurzen Fußmarsch zur Tankstelle genutzt haben, um uns mit einem Sixpack PBR vorzubereiten, erwartet uns Matt bei unserer Rückkehr zum Museum tatsächlich bereits auf dem Parkplatz mit einem von ihm bestellten Uber, dessen Fahrer uns zunächst Richtung Fremont Street bringen soll. Wir lassen das Museum hinter uns und machen kurz darauf als Erstes Station in einer riesigen Kneipe, die dafür berühmt ist, dass die Bediensteten mit Megaphonen ihre Kundschaft beschimpfen. Matt kennt hier zum Glück alle, so dass wir in Ruhe gelassen werden und uns auf die Runde „Jäger-Bombs“ konzentrieren können, die er trotz unseres Protests sofort bestellt hat. Ein ekelhaftes Gesöff, das sich aus Jägermeister und Energydrink zusammensetzt und in den USA-üblichen XL-Bechern aufgetischt wird. Dann doch lieber einen Fletcher! Leider besteht Matt darauf, uns einzuladen, und als höfliche Gäste können wir uns an dieser Stelle natürlich schlecht einfach ausklinken und das bereits bezahlte Gedeck verschmähen. Das ist ein Fehler! Ab hier beginnen die Erinnerungen an die Nacht zu verschwimmen.

Matt kennt noch viele weitere Bars und er will sie uns alle zeigen. Jeweils inklusive „Jäger-Bomb“. Immer mit seinem Insistieren: „I’m paying, guys!“ Irgendwann kommt noch seine Freundin dazu und wir fahren mit ihrem Auto weiter. Tatsächlich landen wir schließlich etwas außerhalb in einer angenehm versifften Bar, deren Patina eher an ein kleines AZ erinnert. Das gefällt uns. Hier riecht es endlich auch mal nach Punk. Aber wo genau war das? Wie hieß diese Bar? Wann sind wir dort abgehauen? Warum meinte Matt auf einmal, das Auto seiner Freundin fahren zu müssen oder überhaupt noch fahren zu können? Wie haben wir zurück ins „Strat“ gefunden? Es gibt keine Antworten auf diese Fragen. Ehrlich gesagt setzt meine Erinnerung erst wieder so richtig ein, als ich am nächsten Tag zitternd auf dem Beifahrersitz unseres Mietwagens darauf warte, dass mein Bruder „Irgendwas! Aber schnell!“ aus der Apotheke holt, um mich vor dem Herzinfarkt zu retten, dem ich mich nahe zu fühlen glaube. Zum Glück sind Apotheker:innen in Las Vegas einiges gewohnt und meistern solche Situationen mit einem bewährten Rezeptvorschlag: eine Flasche Gatorade und eine Banane. Das hilft tatsächlich sofort. Danach noch zweimal um den Parkplatz laufen, um frische Luft zu atmen und dann: endlich weg von hier. Leaving Las Vegas. Wir haben genug von der Stadt!

Was das Punk Rock Museum angeht, bleibt als Fazit, dass sich dort hervorragend Zeit verbringen lässt. Wie Matt uns noch vor den „Jäger-Bombs“ erzählt hat, ist momentan sowieso nur die Spitze des Eisbergs ausgestellt und in den angrenzenden Lagerhallen befinden sich noch zwei- bis dreimal so viele Sammlungsgegenstände, die nur darauf warten, nach einem Ausbau und einer Erweiterung des Museums öffentlich gezeigt zu werden. Trotzdem wird man in der Ausstellung wohl auch in Zukunft kaum etwas entdecken, was sich nicht auch in entsprechenden Büchern, Magazinen, Fanzines oder Filmen finden, nachschauen oder nachlesen ließe. Dafür wird die Historisierung und Aufarbeitung der Punk-Kultur durch unterschiedlichste Medien bereits seit Jahren viel zu akribisch betrieben. Allerdings handelt es sich bei den hier in Las Vegas ausgestellten Exponaten in den meisten Fällen eben doch um die jeweiligen Originale und nicht bloß um mediale Dokumentationen von verschollenen Objekten. Inwiefern eine Lederjacke dadurch sehenswerter ist, dass sie mal von Kurt Cobain getragen wurde, bleibt dabei zwar fraglich, aber immerhin kann man sich an der Behauptung erfreuen (oder berauschen?), dass sie wirklich „echt“ ist.

Diese Tatsache steht wiederum im starken Kontrast zu all dem, wofür Las Vegas eigentlich bekannt ist: Während so gut wie alles in dieser mit Hotels und Casinos übersättigten Wüstenstadt aufwändig gefaket, nachgemacht oder kopiert ist, sind die meisten Gegenstände im Punk Rock Museum tatsächlich mühevoll aus den kulturellen Kontexten zusammengetragen worden, in denen sie einst benutzt, beschmutzt, gebastelt und gebraucht wurden. So gesehen darf es an sich schon als rebellische Geste verstanden werden, ein solches Museum ausgerechnet in Las Vegas zu eröffnen, bricht es – von der PENNYWISE-Garage mal abgesehen – doch mit den ortsspezifischen Konventionen, sich die Welt und ihre kulturellen Errungenschaften einfach künstlich nachzubauen. Eine solche Lesart würde zumindest ein wenig darüber hinwegtäuschen, dass ein Museum für Punkrock letzten Endes doch reichlich kontraintuitiv erscheint, weil es seinen Gegenstand – in allen denkbaren Facetten – durch die museale Inszenierung quasi zu einem Fetisch erhebt, der hier (nicht nur bildlich gesprochen) auf einem Sockel präsentiert wird, von dem Punk ursprünglich einmal alles und jede:n hinabzustoßen versuchte. Ging es nicht darum, sich eben gerade nicht kategorisieren, archivieren, inszenieren oder institutionell repräsentieren zu lassen?

Sich hier nun aber über die Widersprüchlichkeiten eines im kulturellen Establishment angekommenen Punkrock und seiner damit vermeintlich eingebüßten Sprengkraft aufzuregen, wäre jedoch mittlerweile ebenfalls ein ziemlich museumsreifes Klischee, das ich hier bestimmt nicht reproduzieren möchte. Vielleicht ist es ja auch gerade der entscheidende Clou von Fat Mike gewesen, das Museum in Las Vegas anzusiedeln, um durch diese bemerkenswerte Ortswahl von vornherein die anstrengenden und reaktionären Definitionsversuche und Diskussionen um Authentizität und Ausverkauf durcheinanderzuwirbeln, die besonders gerne von selbsternannten Gralshüter:innen hinsichtlich „ihrer“ Punk-Kultur vorgebracht und geführt werden. Von daher lässt es sich fast schon als eine begrüßenswerte Provokation verstehen, dass das Punk Rock Museum weder in New York noch in Los Angeles und auch nicht in London eröffnet wurde, sondern in einer auf maximalen Konsum ausgerichteten Stadt in der Wüste Nevadas. Ob das nun ganz besonders oder absolut gar nicht authentisch ist? Keine Ahnung. Letztendlich mag Punkrock einfach nur das sein, was die Menschen daraus machen, und das gilt wohl auch für die individuellen Eindrücke, die sie im Punk Rock Museum von Las Vegas sammeln. Die einen werden es lieben, die anderen werden es hassen und wiederum andere werden eine tolle Band oder tolle Künstler:innen entdecken, die sie noch nicht kannten. Vielleicht kommen viele auch einfach nur auf ein Getränk vorbei. Der Service in der Bar ist immerhin exzellent.

Letztlich bin ich sehr froh, dass wir diesen Ausflug in unsere Reiseroute integriert haben. Ich frage mich, ob auch in Zukunft alle Besucher:innen des Museums in den zweifelhaften Genuss kommen werden, vom hauseigenen Barkeeper in die lauwarme Nacht von Las Vegas entführt zu werden. Vermutlich hatten wir das Glück (oder Pech?), dass wir so kurz nach der Eröffnung vor Ort waren und Matt Mohawk sich einfach sehr darüber gefreut hat, gleich zu Beginn seiner Karriere als Museumskneipier zwei blassen Touristen aus Deutschland seine neue Heimat zeigen zu können. Dass wir am Tag danach keinerlei Erinnerungen an die von ihm geführte Tour durch das „wahre Vegas“ haben, ist eigentlich nur konsequent und unterstreicht den artifiziellen Charakter dieser seltsamen Stadt. Was heißt in Las Vegas schon „wahr“? Sind wir wirklich dort gewesen? Ist das alles wirklich passiert? Hängt die OFFSPRING-Tapete wirklich neben der Darby Crash-Vitrine oder befindet sie sich nicht doch einen Raum weiter? War das überhaupt alles echt?

Immerhin scheint es keine Einbildung gewesen zu sein, dass ich mir vor dem Verlassen des Museums noch eine Tasse mit dem Aufdruck „Punk Rock Museum“ gekauft habe. Sie hat 17,95 Dollar gekostet. Plus Steuern. Als stumme Zeugin der Geschehnisse halte ich sie jetzt in meinen zittrigen Händen, während wir auf der Interstate 15 – auch bekannt als Las Vegas Freeway – in Richtung Los Angeles der untergehenden Sonne entgegenfahren. Aus dem Autoradio ertönt „Nie wieder Krieg, nie mehr Las Vegas!“ von DIE ÄRZTE. Ach was, das ist natürlich nicht wahr ... Aber es hätte gut sein können.