Man kann einfach nicht anders, als alles durch die Corona-Brille zu sehen. Fans auf dem neuen Album in Form von Sprachnachrichten einbeziehen? Klar, macht man wegen Corona, weil live nichts geht. Ein Einsiedler-Phänomen, ursprünglich aus Japan, bei dem die Menschen ihre Wohnungen jahrzehntelang nicht verlassen? Kenn ich, mach ich schließlich auch! Ist natürlich Quatsch. Das neue Album der Schweizer DREAMSHADE namens „A Pale Blue Dot“ ließ mich stark vermuten, dass auch sie alles tun, um durch die Pandemie zu kommen. Tatsächlich ist es anders – und meine Fragen an Sänger Kevin Calì sind wohl eher mein eigenes zwanghaftes Verhalten, alles mit dem C-Wort in Verbindung zu bringen. Daran sollte ich arbeiten.
Ein Album während Corona produzieren ist schwer – aber machbar. DREAMSHADE hatten das Glück, die Monate des Schreibens und Aufnehmens als so entspannt wie noch nie zu empfinden. „Nach den letzten Jahren haben wir nun eine Harmonie zwischen uns, die alles wahnsinnig erleichtert. Unser neuestes Mitglied in der Band ist unser Drummer Francesco ‚Fry‘ Ferrini. Er passt perfekt zu uns und hat so viel Enthusiasmus und Frische in unser Team gebracht.“ Dieses Team ist mittlerweile fest zusammengewachsen. Eine solche Stabilität und Verlässlichkeit bietet in unseren Zeiten auch genügend Halt, um den Kopf frei zu haben und sich auf die Kunst konzentrieren zu können. „Wir hatten ganz klare Vorstellungen für dieses Album. Wir schrieben die Songs sehr schnell und waren dann auch schnell von ihnen überzeugt. Wir haben das Gefühl, die neue Platte könnte ein Fan-Favorit werden, denn sie hat alles, was unseren Sound ausmacht.“
Außerdem haben die Fans an zumindest einem der Songs mitgearbeitet. In einem Aufruf bat die Band ihre Fans, einen Part des Songs „Save this“ selbst stimmlich zu interpretieren und ihnen per WhatsApp zu schicken. „‚Save this‘ ist inspiriert von der Geschichte der Band, der Beziehung zwischen uns und der Gemeinschaft der Fans. Wir wollten die Erinnerungen, die in all den Jahren Teil unserer Geschichte waren, lebendig werden lassen. Es gab sicherlich Höhen und Tiefen, aber letztendlich hatten wir immer den Antrieb, nach vorne zu schauen und uns selbst und anderen einen Beweis für unseren Zusammenhalt und unsere Stärke zu geben. Deshalb wollten wir etwas Besonderes schaffen, das unseren Zuhörern, Freunden und der Familie die Möglichkeit gibt, mit uns Teil eines Songs zu sein.“ Da könnte man ja fast meinen, DREAMSHADE hätten eine neue Strategie entdeckt, um die Abstandsregeln erträglicher zu machen. Ein Versuch, die Fan-Bindung zu erhalten während Corona? Tatsächlich starteten die Schweizer ihren Aufruf bereits im Februar, noch bevor die Welt auf den Kopf gestellt wurde. Kevin lacht. „Haha, darüber haben wir nie nachgedacht ... Es war auf jeden Fall ein Weg, um die Fans einander und zu uns näher zu bringen. Wir hatten keine Ahnung, wie sich die Dinge entwickeln würden. Aber ich bin glücklich über die Bedeutung, die dieser Teil des Albumschreibens hatte. Wir verdanken das, was wir heute sind, unseren Hörern und es war uns wichtig, sie zu diesem Zeitpunkt und in diesem Song mit einzubeziehen. ‚Save this‘ bedeutet, dass wir das, was wir lieben, bewahren und festhalten möchten. Und das schließt unsere Liebsten, unsere Freunde, unsere Leidenschaften und das Leben als Ganzes ein.“ Und wurde der Song schlussendlich so, wie sie sich das vorgestellt haben? Wenn man den Fans die Freiheit lässt, es so zu interpretieren, wie sie wollen, können ja auch Sachen rauskommen, die vielleicht überraschen. „Ich würde sagen, dass wir mit dem Endergebnis zufrieden sein können. Die Tatsache, dass jeder so singen konnte, wie er wollte, hat dazu beigetragen, den Chor noch echter zu machen. Die Idee mit den verschiedenen Stilen der Stimmen erlaubte uns, mehr Frequenzen zu haben, die zusammen wie ein riesiger Stadionchor klingen. Sie einzubauen, war eine langwierige Arbeit, aber notwendig, damit sie gut zusammen klingen. Wir haben Stunden damit verbracht, aber am Ende haben wir es geschafft, eine gute Balance zwischen ihnen, meiner Stimme und der Musik zu finden.“
Es gibt neue Möglichkeiten durch Apps, das Internet, die Technik. Auf dem neuen Album werden jedoch auch die Schattenseiten des Internets beleuchtet, zum Beispiel in „Stone cold digital“. Ständige Beurteilung und ungefiltertes Feedback, unbewusstes permanentes Vergleichen mit anderen. Dinge, die krank machen können. Ein weiterer Song sticht heraus, in dem es jedoch noch viel weitergeht. „‚Elephant‘ ist ein wenig anders und spricht aus der Sicht eines ‚Hikikomori‘. Dabei handelt es sich um ein neues Phänomen von Einsiedlern, die sich freiwillig im Schlafzimmer verstecken, sich isolieren und keinen Kontakt zur Außenwelt und zur Gesellschaft haben. Manche von ihnen bleiben bis zu zwanzig oder dreißig Jahre am Stück in ihrem Zimmer. Ein modernes soziales Unbehagen, das in den Achtzigern in Japan entstanden ist, sich aber heute weltweit immer mehr ausbreitet. Sehr traurig, aber es zeigt ein sehr präsentes soziales Unbehagen in der heutigen Welt: Die Angst vor der Verurteilung. Ich glaube, dass soziale Medien ein sehr nützliches Werkzeug sind, wenn sie intelligent eingesetzt werden. Es gibt aber immer mehr Missbrauch und falsche Wege, diese Technologie zu nutzen, und das ist leider ein Phänomen, das heute immer häufiger zu beobachten ist. Ich glaube, es liegt an jedem von uns, sich dieses neue Medium, das uns zur Verfügung gestellt wurde, so bewusst und sinnvoll wie möglich zu nutzen.“ Zum Beispiel, um Fans mit einzubeziehen – so gut es geht und bis wir uns wieder in echt sehen können. Noch ist schließlich Corona!
© by Fuze - Ausgabe #87 April/Mai 2021 und Christina Kiermayer
© by Fuze - Ausgabe #87 April/Mai 2021 und Christina Kiermayer