Punk ist eine Jugendkultur. Ein zutreffender Satz, der allerdings mit jedem Jahr, in dem sich die Szene weiter entfernt von ihrer Stunde Null (ich setze der Einfachheit halber das Jahr 1977 an), mehr von seiner Bedeutung verliert, was das Alter seiner Akteure betrifft. Und so ist Doug Moody, Jahrgang 1928, Sohn des einstigen EMI-Chefs Wally Moody, der Ende der Siebziger in Kalifornien das Label Mystic Records gründete, auf dem unter anderem NOFX, RKL, ILL REPUTE, BATTALLION OF SAINTS, THE MENTORS und DR. KNOW veröffentlichten, mit seinen heute 82 Jahren der bislang älteste Gesprächspartner in der Geschichte des Ox. Ja, ich wage sogar die Aussage, er ist der älteste noch aktive Punklabel-Betreiber aller Zeiten. Und da der Mann über ein exzellentes Gedächtnis verfügt, drehte sich das telefonisch geführte Gespräch nicht nur um Mystic Records, sondern auch um das Abbey Road Studio im London der 1930er Jahre, um den Rassismus gegenüber afroamerikanischen Musikern in den USA der Vierziger, um das „Machen“ von Chart-Hits in den Fünfzigern, die Hippie-Kultur der Sechziger, den Punk der Siebziger, den Hardcore der Achtziger.
Nicht unerwähnt bleiben sollte aber auch, dass Mystic Records für viele damalige Bands – speziell RKL äußerten sich in dieser Hinsicht sehr explizit – ein rotes Tuch war und ist. Mit Abzock-Vorwürfen wurde und wird da schnell hantiert, und gut möglich, dass Moody mit seiner Vergangenheit im knallharten Musikbusiness der Fünfziger und Sechziger auch als Punklabel-Betreiber in geschäftlicher Hinsicht kein Waisenknabe war, aber das mindert die Bedeutung seines Labels nur bedingt, ist doch zu bedenken, dass ohne ihn, sein Studio und sein Label eine Menge beeindruckender Punkbands nie in Form von Aufnahmen und Platten verewigt worden wären. Zudem: Je weiter man sich zeitlich wie räumlich von irgendwelchen Szene-Kleinkriegen der Los Angeles-Punks der späten Siebziger und frühen Achtziger entfernt, je weniger man persönlich davon betroffen war oder ist, desto stärker relativiert sich auch die Bedeutung irgendwelcher Konflikte.
Deshalb ist dieses Interview ein interessanter Beitrag zum Thema Plattenlabel-Historie, denn jemand, der sein Handwerk in den Fünfzigern lernte, hat eben einen anderen Hintergrund als einer, der mit Punk aufwuchs. Und nicht zu vergessen: Auch ein Greg Ginn von SST, der epochale Alben veröffentlichte, oder ein Curtis Casella von Taang! wird von einigen seiner Bands nicht gerade als Lichtgestalt angesehen.
Doug, was machst du gerade?
Ich liege noch im Bett, schaue fern und trinke eine Tasse Tee. Ich bin 82, da braucht man nicht mehr so viel Schlaf. Manchmal bin ich schon früh wach und arbeite dann zwei, drei Stunden. Ich richte meine Ruhezeiten einfach nach meinem Körper.
Als junger Mensch bekommt man nie genug Schlaf und hat immer das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Wie ist das bei dir?
Ich verschwende ungern meine Zeit. Mein Grundsatz, schon von früher Jugend an, war immer „Use the day before it uses you“. Ich hasse die Tage, die vorübergehen, ohne dass ich irgendwas geschafft habe. Und Mystic Records ist ein sehr ergiebiges Gebiet, um sich damit zu beschäftigen. Ich habe für über 500 Bands Aufnahmen gemacht, und ich bin jetzt dabei, alles an Informationen im Zusammenhang mit dem Label zu recherchieren, was dann in einem Buch landet. Außerdem trage ich all die Coverartworks von Mystic zusammen, alles T-Shirt-Motive. Es geht also um das Projekt, die Geschichte von Mystic zu dokumentieren, aber auch mein Leben, bis zurück in die 1940er, denn damals begann ich meine Arbeit als Produzent, nachdem ich aus der Air Force entlassen wurde. Du siehst, das ist eine lange Zeit, und das braucht Zeit.
Dann lass uns doch ganz am Anfang beginnen. Was war dein erster Kontakt mit so etwas wie Pop-Musik?
Im Alter von drei Jahren. Mein Vater war der Boss von Electric & Musical Industries in England, abgekürzt EMI, nachdem er zuvor für Parlophone gearbeitet hatte, die dann von EMI aufgekauft wurden. Mein Vater nahm mich als Dreijährigen jeden Samstag mit ins Studio, wo er Tanzkapellen, ja, alle Arten von Musik aufnahm. Er managete drei Labels, Columbia, HMV und Regal Zonophone, und er brachte mir auch schon in jungen Jahren bei, wie man aufnimmt. Damals, in den Dreißigern, funktionierten die Aufnahmegeräte noch nach dem Prinzip von mechanischen Uhrwerken. Man musste ein 35 Kilo schweres Messinggewicht nach oben kurbeln, das dann wie bei einer Standuhr den Motor antrieb. Das Gewicht hing an so einem langen Kabel, dass es durch ein Loch in der Zimmerdecke geführt wurde. Mein Job war es als Kind an diesen Samstagen, auf dieses Uhrwerk aufzupassen, denn das Gewicht durfte nie den Boden berühren. Die Aufnahme musste also immer zu Ende sein, bevor das Gewicht den Boden erreichte. Die Aufnahmen selbst wurden in drei Zoll dickes Wachs geschnitten, mit einer heißen Nadel, die mit Hilfe einer Autobatterie erhitzt wurde, und mit einem kleinen Staubsauger wurden direkt die Wachsspäne abgesaugt – und auf diesen Staubsauger musste ich auch aufpassen. Und all das lernte ich jeden Samstagmorgen im Tonstudio, das war mein erster Kontakt mit Pop-Musik. Ich erinnere mich noch genau, dass mein Vater die Musiker beim Betreten des Studios als Erstes aufforderte, die Schuhe auszuziehen, denn die stampften natürlich beim Spielen im Takt mit und das hörte man, wenn man da nicht aufpasste, auf den Aufnahmen.
Was für Bands wurden da aufgenommen?
Beispielsweise die Band von Geraldo alias Gerald Bright, oder Billy Cotton, Harry Leader und seine Band. Das waren alles Tanzbands, und mein Vater liebte sie, weil er ein begeisterter Tänzer war. Er hatte eine ganze Menge Pokale und Preise gewonnen als Tänzer. Und diese ganzen Aufnahmen fanden statt im Abbey Road Studio, vor dessen Tür sich auch der Zebrastreifen befand, auf dem dieses legendäre Foto der BEATLES entstand. Das ist ein Haus im Regency-Stil mit einem Ballsaal darin, der ganz mit Holz ausgekleidet war. In diesem Ballsaal nahm man auf, und das ergab den wundervollen Sound dort, ganz gleich, ob klassische Musik oder Tanzmusik. Bis ich dann im Zweiten Weltkrieg als Jugendlicher zur Air Force eingezogen wurde, begleitete ich so oft wie möglich meinen Vater, wenn er Aufnahmen machte.
Dann musstest du zur Air Force, warst ein Teenager, als der Zweite Weltkrieg, die Angriffe der Deutschen, zunehmend auch London erreichten.
Oh ja, und ich habe gesehen, was Krieg in einer Stadt anrichtet. Nicht nur die Raketenangriffe, auch abstürzenden Flugzeuge legten immer wieder Teile der Stadt in Schutt und Asche, lösten Brände aus. Ich wurde während des Krieges in London zuerst als Melder eingesetzt und war dann bei der Air Force als Fluglotse tätig. Die Tätigkeit eines Melders war eine verantwortungsvolle, denn es gab oft keine Telefonverbindung, weil die Leitungen beschädigt waren, ganz abgesehen davon, dass auch die Wasser- und Abwasserleitungen nicht mehr funktionierten und man sein Geschäft in Eimer erledigen musste: ein Eimer für die Damen, einer für die Herren. Wir mussten im Krieg dreimal umziehen, jedes Mal wegen eines Luftangriffs. Und mit 17 kam ich dann zur Luftwaffe, wo ich nach dem Ende des Krieges bei der Berliner Luftbrücke eingesetzt war.
Wie ging es nach Kriegsende weiter?
Als ich die Air Force dann verließ, brachte mich mein Vater in Kontakt mit einem gewissen Eli Oberstein, der mal Vizepräsident von RCA war. Der hatte einen Prozess gewonnen gegen die Radio Corporation of America, kurz RCA, doch er hatte die Record Corporation of America gegründet, und die zahlten im eine Menge Geld für den Namen RCA. Er wurde auch von Columbia verklagt wegen der Verwendung der Abkürzung LP. Sein neues Label hieß Royale, und er heuerte mich an, um ihm einen Katalog von Klassikaufnahmen aufzubauen. Er schickte mich nach Deutschland, Frankreich und Holland, und dort kaufte ich in der Zeit direkt nach dem Krieg Aufnahmen und Musikrechte auf, die ich dann direkt an Oberstein weiterverkaufte. Er brachte mich dann später auch in Kontakt mit Sears, Roebuck and Co., einer großen Handelskette aus Chicago. Die wollten Platten mit Hit-Songs von mir, und so packte ich vier Hit-Songs auf eine 10-Zoll-Schallplatte mit 78 Umdrehungen. Wir lieferten die Songs, und die ließen jeden Monat diese Platten mit Liedern aus den US-Hitparaden pressen. Und so wurde ich der erste Independent-Schallplattenproduzent der USA und verdiente eine ganze Menge Dollars damit.
Lebtest du da schon in den USA?
Zuerst arbeitete ich noch von London aus, erst 1951 brachte mich Eli erstmals in die USA. Ich schaute mich dort um und stellte fest, dass man in den USA in seinen Möglichkeiten nur durch sein Gewissen begrenzt wird. Hat man keines, kann man werden, was man will. Also muss man aufpassen, wofür man sich entscheidet. 1953 entschied ich mich dann endgültig, in die USA zu gehen und verbrachte das erste Jahr damit, von Eli Oberstein zu lernen, wie das Musikbusiness funktioniert, wie man Schallplatten an Läden und Großhändler verkauft, wie man sie im Radio promotet. Als ich das dann alles konnte, begann ich für eine kleine Plattenfirma namens Herald And Ember Records aus New York zu arbeiten. Das war ein schwarzes Label, und es waren auch nur Schwarze, die mich dort willkommen hießen, denn ich konnte im Gegensatz zu ihnen Noten lesen. Also brachte ich schwarzen Musikern das Notenlesen bei und managete schwarze Bands, verschaffte ihnen Auftritte, etwa in Hotels. Damals fing es gerade an, dass man Schwarze zunehmend als Musiker akzeptierte. Zu dieser Zeit bekam ich dann einen Anruf von Dick Clark, der mit seiner Show American Bandstand eine TV-Legende wurde. In seiner Show fing er damals an, für ein weißes Publikum auch schwarze Musik zu spielen, und dadurch hatte ich dann meine ersten millionenfach verkauften Hits. Aus meiner Rolle als Manager schwarzer Musiker und Bands wurde ich dann zum Plattenproduzenten.
Du erwähntest eben, dass du Noten lesen kannst. Wie hast du das erlernt?
Ich habe als Kind und Jugendlicher zwölf Jahre lang Musikunterricht erteilt bekommen, und vielleicht wäre ich unter anderen Umständen ja Dirigent oder Komponist geworden. Meinem Vater war das sehr wichtig, der kümmerte sich darum, dass ich erstklassige Lehrer hatte. Ich kam also aus der Klassik, und meine ersten Produktionen waren Opern im Stile von Gilbert und Sullivan. Ich hatte also einen Klassikhintergrund und arbeitete mit schwarzen Musikern, die keine Noten lesen konnten, denen ich den Takt vortanzen, die Melodien vorsingen und die Texte vorlesen musste. Das Ergebnis war also eine etwas verfälschte Version eines amerikanischen Songs, aber es funktionierte und die Platten verkauften sich.
Das klingt nach einem Kulturschock, oder wie empfandest du es, als mit klassischer Musik aufgewachsener Angehöriger der britischen Oberschicht mit armen schwarzen Musikern in New York zu arbeiten?
Es war eine Erfahrung, die mir die Augen öffnete. In England hatte ich keinerlei Probleme gehabt mit Menschen aus anderen Kulturen. Ich besuchte ein Gymnasium, das sehr viele Schüler aus anderen Ländern des Commonwealth hatte, so genannte „Children of the Empire“, aus Indien, Ägypten und so weiter. Ich lernte also schon früh, dass es die verschiedensten Menschen auf der Welt gibt. Mir war allerdings nicht klar, und das erkannte ich erst später, dass wir Engländer überall auf der Welt eine intellektuelle Elite nach unserem Vorbild geschaffen hatten. Die lernten in der Schule nach dem gleichen Lehrplan, sprachen die gleiche Sprache und so weiter. Als ich dann in die USA kam, verstand ich deshalb auch nicht, warum dort die Schwarzen nicht wie die Weißen behandelt wurden. Ich hatte keine Probleme mit den Schwarzen, ich verstand mich sehr gut mit ihnen, lernte ihre Kultur zu verstehen. Und ich verstand, dass sie ihre Musik auch nicht erfunden hatten, um etwas Eigenes zu machen, sondern dass sie versuchten, „weiß“ zu klingen und weiße Musik zu machen, sich anzupassen. Sie hatten aber weder das Wissen noch den Background dazu, und so entstand eine schwarze Version weißer Musik.
Von was für Musik reden wir?
Den ersten Hit hatte ich mit Gospel, mit Mahalia Jackson und „No matter how you pray ...“, und im Gospel hatte ich auch meine weiteren Hits in den ersten Jahren. Ich war einfach begeistert von den wundervollen Stimmen dieser Musiker. Ich begann dann aber auch, mich für die Straßenmusiker zu interessieren. Die konnten auch wundervoll singen, aber ihre Texte waren eher „broken English“, in der Sprache der Straße, und so mussten wir da anders arbeiten. Ein schwarzer Bluesmusiker etwa sang „One day I’m gotta get me a white woman“, aber das kann man nicht auf Platte pressen, also wurde da „One day I’m gonna get me a pretty woman“ daraus, und einen Schritt weiter kopierte dann ein weißer Musiker wie Roy Orbison die schwarzen Musiker mit „Pretty woman“. Für andere war die schwarze Musik vielleicht ein Kulturschock, aber nicht für mich. Für mich waren die Schwarzen keine anderen Menschen und ich verstand auch nicht, warum sie das weiße Amerika anders behandelte. Schließlich waren das die Leute, denen ich mein Einkommen verdankte, und an meiner Arbeit wiederum waren die jüdischen Geschäftsleute interessiert, die das Musikgeschäft dominierten.
Wie rassistisch war das Amerika der Fünfziger und das Geschäftsumfeld, in dem du dich bewegtest?
In New York konnte ich mich ganz normal mit Schwarzen abgeben, mit einem Schwarzen die Straße entlang laufen, mich mit ihm unterhalten, das wurde akzeptiert, es gab viele Künstler und Musiker. In Philadelphia hingegen mussten die Schwarzen im Norden der Stadt bleiben, im Süden waren sie nicht erwünscht. Ich hatte eine Band unter Vertrag namens THE FIVE SATINS, mit der wir über drei Millionen Platten verkauft hatten, ohne in den Charts aufzutauchen, darunter auch „In the still of the night“. Die fuhr ich mal mit meinem Auto nach Norfolk, Virginia zu einem Auftritt, und als ich dann an eine Tankstelle fuhr, bekam ich vom Tankwart zu hören „Get the niggers out of the car or I’m not serving you!“. Und so musste ich die Band bitten, an der nächsten Straßenecke zu warten, bis ich meinen großen Cadillac aufgetankt bekommen hatte. Der Tankwart machte auch direkt weiter: „I can’t understand why a white guy is driving niggers around!“ Und so ging es weiter: Ein paar Kilometer weiter hielt ich an, um für uns alle ein paar Donuts zu kaufen, und bekam zu hören „I am not serving you with niggers in the car!“ Oder die Sache mit dem Hotel: Die mussten in einem „schwarzen“ Hotel übernachten, ich in einem „weißen“, und in manchen Orten konnten wir nicht auf der gleichen Straßenseite laufen. Es war entsprechend schwierig, schwarze Musikgruppen zu produzieren und zu promoten. In den Sechzigern begann sich das dann zu ändern, und von erwähntem Dick Clark war es ein sehr starkes Statement, schwarze Gruppen in seiner Show auftreten zu lassen.
Über die Zeit, in der du deine ersten Hits hattest, wurden schon viele Bücher geschrieben und man weiß heute, wie damals Hits gemacht wurden, Stichwort „Payola“, also das Bezahlen von Radio-DJs für das Spielen bestimmter Songs.
Wir waren Piraten! Wir bewegten uns außerhalb der Welt der großen Plattenfirmen. ABC besaß die ABC-Radiosender, NBC hatte seine eigenen, ebenso RCA und Columbia. Die kontrollierten den Markt, die großen Sender, und gleichzeitig gab es die kleinen Sender mit vielleicht 250 Watt Sendeleistung, die wirklich kaum überleben konnten. Darunter waren auch die Sender, die schwarze Musik spielten. Für uns war es deshalb sehr einfach, unsere Musik ins Radio zu bringen und damit Platten zu verkaufen, und noch viel lustiger war es, wie wir uns das Geld beschafften, das zu bezahlen. Es gibt in den USA die BMI, Broadcast Music Inc., die sich um die Rechte von Musikern und Songwritern kümmert. Einmal im Jahr misst BMI die Reichweite von Radiosendern, und das machten die damals exemplarisch an ein paar wenigen Sendern und rechneten das entsprechend hoch. Anhand dieser Zahlen wird dann Geld an die Inhaber der Urheberrechte ausgeschüttet. Wir kleinen Independent-Firmen – es waren damals vielleicht 100 – fanden nun durch unsere guten Kontakte zu den Musikredakteuren der kleinen Sender auf unseren Reisen durch das ganze Land heraus, welche der Sender von BMI „überwacht“ werden, also bei welchen Sendern die BMI damals die gespielten Musikstücke erfasste, was wiederum die Stücke waren, für die später Geld ausgeschüttet wurde. Also besuchten wir die entsprechenden Sender fortan regelmäßig und vergaßen nie, Geschenke mitzubringen, dem armen Besitzer des Senders neue Reifen auf sein Auto aufzuziehen, und so weiter. Und im Gegenzug meldeten die dann der BMI unsere Songs und ich bekam dann 15.000 Dollar von BMI für einen Song, der angeblich im Radio gespielt wurde. Wir waren also in den Augen der Majorlabels Piraten, wir wurden finanziert von der BMI und brachten mit dem Geld neue Platten raus.
Und was hattet ihr noch auf Lager?
Wir fuhren durch die ganzen kleinen Städte mit unseren Bands, und wer dort Geld hatte, das waren die Gebrauchtwagenhändler und Möbelhäuser. Am Samstagvormittag hatten die immer große Sonderangebotsaktionen, die sie mit Radiowerbung anpriesen die Woche über, und so gingen wir zu den Händlern und boten ihnen folgenden Deal an: Die spielten unseren Song in ihrem Radio-Clip, und dafür kommen wir am Samstag zu ihrem Laden raus und unterschreiben dort Schallplatten und Autogrammkarten. Und so spielten überall im Land am Samstag Bands auf dem Hof eines Autohändlers, die Kids kamen mit ihren Eltern, und die Autoverkäufer schnappten sich die Eltern, während die Kids die Band anhimmelten – und wir bekamen für unsere Songs kostenlos Airplay, die Songs wurden bekannt und wir verkauften Platten. Wir waren auf uns alleine gestellt, wir mussten uns einfach was überlegen, um zu überleben, und so fuhr man immer mit ein paar 100 Platten im Kofferraum durch die Gegend, um sie irgendwem zu verkaufen.
War das ein gutes Leben?
Es war wundervoll. Ich hatte nie mehr Spaß in meinem Leben! Ich hatte Eltern, die genug Geld hatten, um mir eine gute Ausbildung bezahlen zu können, wir ließen unsere Kleidung schneidern, wir hatten handgemachte Möbel, das war ein ganz anderes Leben gewesen als das, das ich dann in den USA kennen lernte. Da kaufte man Kleidung von der Stange, keiner trug Krawatten, man ging zum Essen, ohne sich schick zu machen – das war alles ganz anders als in England und ich liebte diese Freiheit, die Amerika bot. Und den Austausch mit Menschen. Und ich liebte es, Hitplatten zu produzieren. Alles in allem hatte ich 14 Gold- und Platin-Platten – das war ein Lebensstil, den ich sehr genoss. Und irgendwann kamen dann die Punks, und in denen erkannte ich die schwarzen Kids aus den frühen Fünfzigern wieder, mit zerrissenen Hosen und ausgetretenen Schuhen, mit alten Instrumenten. Ich erinnere mich noch gut an das Schlagzeug einer der schwarzen Bands damals: die Snaredrum bestand aus der alten Trommel einer Marschkapelle, in die der Musiker Schrotkugeln eingefüllt hatte. Und so was musste ich irgendwie so aufnehmen, dass es vernünftig klingt. Ganz zu schweigen von den kaputten Lautsprechern, so dass die Bassgitarre klang, als ob da einer furzt. Unter solchen Bedingungen hätte ich nie gearbeitet, ich hätte mich nicht freiwillig darauf eingelassen. Aber dieses Leben war gut, denn nachdem wir rausgefunden hatten, wie man seine Platten in die Charts bekommt, lief es bestens für uns. Wir Independentlabels wechselten uns ab mit den Hits, jeder kam mal dran, hahaha. Es gab genug für alle von uns, es waren wohl sieben Labels. Wir bekamen reichlich Geld von der BMI, das Geschäft machte richtig Spaß und es war so einfach. Ich besuchte einen Radio-DJ zu Hause, gab ihm meine Kreditkarte und sagte, er solle sich ein schönes Wochenende machen, während ich mich um sein Haus und seine Kinder kümmerte. Kam er zurück, fragte er mich, welche Platte wir in den Charts haben wollen – so machten wir Hits, so lebten wir. Es war wirklich unglaublich – und das kann man auch in dem Buch „Record Makers and Breakers“ von John Broven nachlesen. Der Autor ist ein englischer Plattensammler und ehemaliger Bankmanager, der darüber schreibt, wo Hitplatten herkamen. Er ist ein richtiger Rock’n’Roll-Historiker, und das Buch ist wirklich höchst interessant. Ich habe ihm auch einige Geschichten erzählt, eben wie die ganze Payola-Sache organisiert wurde.
Wie denn?
Die Majors machten das ja im großen Stil! Die verschenkten Kreuzfahrten, Farbfernseher und so weiter, doch die behaupteten dann, alleine wir hätten Discjockeys bestochen und hetzten die Behörden auf uns und alle mussten sich wegen Bestechung verantworten. Aber letztlich konnte mir keiner etwas anhängen, denn ich hatte immer mit meiner Kreditkarte bezahlt und nicht mit Bargeld, also hatte ich mich nicht strafbar gemacht, wenn ich jemandem was gekauft habe.
Hattest du jemals ein schlechtes Gewissen wegen dieser Charts-Manipulation?
Eigentlich nicht. Wir halfen doch nur den Discjockeys bei irgendwelchen kleinen Radiosendern. Die machten ihren Job erst ein paar Jahr, die bekamen damals nicht ihren Anteil am Kuchen, die hungerten. Erst später wurde das System eingeführt, dass Radio-DJs an den Werbeeinnahmen ihrer Sendung beteiligt wurden und sie so nicht mehr darauf angewiesen waren, die Hand aufzuhalten. In den Fünfzigern war das noch so, dass die DJs ein sehr geringes Jahresgehalt von vielleicht 2.000 Dollar hatten und sich selbst darum kümmern mussten, Werbezeit in ihrer Sendung zu verkaufen. Wir gingen dann so vor, dass wir dem örtlichen Plattenladen ein paar Platten schenkten, und der Plattenladen wiederum kaufte sich Werbezeit im Radio. So konnten die wiederum jene neuen DJs unterstützen, die dringend auf Einnahmen angewiesen waren. Dieses System arbeitete den Interessen der Majors entgegen, und jedes Mal, wenn die uns den einen Weg versperrten, fanden wir einen neuen. Wir waren Piraten und so nannten sie uns damals auch, doch eigentlich waren wir nur Independents, die versuchten, das Business zu verändern. Und das taten wir: Wo früher die Majors alles dominierten, hatten durch unsere Arbeit auch die unabhängigen Labels und neue, andere Musik eine Chance.
Nach den Fünfzigern kamen die Sechziger ...
... und die Drogen. Ich war gegen die Drogen. Musiker, auch meine, nahmen jetzt Drogen: Marihuana, Haschisch, Kokain und so weiter. Ich hatte darauf keine Lust – und ich hatte damals auch schwere Lungenprobleme. Ich hatte 60 Zigaretten am Tag geraucht, trank schon morgens Scotch und hatte den Spaß an meinem Job verloren, während ich für Mercury Records arbeitete. Die hatten mich als A&R-Mann für ein neues Label namens Smash Records angeheuert, und wir hatten einen Hit nach dem anderen, doch all die Zigaretten plus die Zigarren am Abend und der Scotch machten mich kaputt. Ehe ich mich versah, hatte ich eine geschwollene Leber und konnte kaum noch atmen. Ich ging zum Arzt, und der gab mir noch fünf Monate.
Mit Mitte 30 warst du also am Ende.
Ja, und vielen meiner Freunde ging es genauso, die starben an allen möglichen Sachen. Wir lebten wirklich exzessiv, standen nie vor Mittag auf, arbeiteten nachmittags, hetzten uns ab, um Platten zu verkaufen, schliefen im Auto, waren entweder im Studio oder unterwegs, und spät am Abend ging’s dann gemeinsam in Johnny Johnson’s Steakhouse, wo man sich riesige Steaks kommen ließ und endlose Gespräche über Musik führte.
Wie ging es weiter? Im Laufe der Sechziger veränderte sich die Musikwelt weiter, es kamen Bands wie die SONICS auf, STOOGES oder MC5, die Vorboten von Heavy Metal waren erkennbar.
Heavy Metal entwickelte sich deshalb, weil Konzerte zunehmend zur wichtigen Einnahmequelle von Bands wurden. Je größer das Konzert, desto höher die Einnahmen. Wo Bands früher kleinere Auftritte hatten, waren es jetzt immer größere Hallen. Und so wurden die Trucks immer größer, die Lautsprecher, das Publikum – so wollten das die Veranstalter. Und Drogen spielten bei all dem auch eine Rolle. Bis dahin war die Pop-Musik, wie Leute wie ich sie vertraten, so was wie die Cartoon-Seite der Zeitung gewesen. Pop-Musik war eine Karikatur des Lebens, ein Cartoon. Mit Heavy Metal hielt dann die Realität Einzug in die Musik – und auch bei mir schlug die Realität zu, denn wie ich eben schon sagte, ich wurde krank. Mein Arzt sagte mir, ich müsse mein Leben ändern. Er verwies mich an Adelle Davis, eine Pionierin auf dem Gebiet der Ernährungsforschung. Und die riet mir als Erstes, mit dem Arbeiten aufzuhören, worauf ich natürlich entgegnete, ich müsse doch von irgendwas leben. Sie riet mir, mir irgendwas zu suchen, was mir Spaß macht, und vor allem solle ich mich viel an der frischen Luft aufhalten, nicht mehr rauchen und keinen Alkohol mehr trinken. Ich: „Für wie lange? Für sechs Monate?“ Sie: „Für mindestens zwei Jahre!“ Sie versprach mir, meine Lungen – ich konnte damals kaum noch atmen – würden sich regenerieren, und sie empfahl mir, viel frische Ananas zu essen – und Hirse. Mit einer Tasse Hirse und kochendem Wasser hast du Frühstück für zehn Tage. Ich hielt mich daran, aß meine Hirse und Müsli mit Nüssen und Trockenfrüchten, und dazu Ananas und Kräutertee. Das war ab da mein Frühstück. Und siehe da, nach fünf, sechs Monaten konnte ich wieder atmen, doch es dauerte siebeneinhalb Jahre, bis ich wieder ganz gesund war.
Und was hast du in der Zeit gearbeitet?
Ich traf jemand, der mir sagte, ich solle an der Universität mein Wissen über Musik an andere weitergeben. Der sagte, das sei ein perfekter Job, die würden mir da ein Zimmer stellen und ich bekäme zu essen und auch noch Geld, und nach einem Semester wechselt man dann an ein anderes College. Und so erzählte ich da an den Colleges von meinen Erfahrungen im Musikbusiness, aß meine Ananas und wurde nach und nach wieder gesund. Das war in der zweiten Hälfte der Sechziger, so ab 1966, für zwei Jahre. Und dann war ich auch wieder gesund, was ich daran erkannte, dass ich an einem Restaurant vorbeikam, wo es so gut nach Hamburger roch, dass ich wieder Lust darauf bekam. Und ab da war ich wieder ich selbst, habe seitdem aber nie wieder geraucht und trinke nur noch selten Alkohol – ich liebe Single Malt.
Schließlich bist du nach Kalifornien gegangen.
Ja, nachdem ich das erste Mal dort gewesen war, wollte ich da nicht mehr weg. Ich kaufte ein altes Tonstudio und traf bald darauf einen Kerl, der für Ampex arbeitete, diesen Hersteller von Tonbandaufnahmegeräten. Die hatten gerade eine neue 16-Spur-Maschine entwickelt, und die wäre natürlich wundervoll gewesen für mein Studio – nur hatte ich das Geld dafür nicht. Er meinte, mit meiner Vergangenheit sei es kein Problem, dafür einen Kredit zu bekommen, und so verschaffte er mir einen über 250.000 Dollar und ich kaufte diese Maschine und richtete mir ein nagelneues Studio ein. 1971 war das, und ich nannte es Mystic Sound Studio. Früher hatte das mal Mustang Records geheißen, und Ritchie Valens und BOBBY FULLER FOUR hatten dort aufgenommen – viele große Namen. Das Studio lief auch gleich richtig gut, ich nahm viele Basic Tracks für Motown-Künstler auf, denn die hatten ihr Studio in Detroit aufgegeben und ihr neues Studio in Los Angeles klang total nach Plastik, die bekamen da keinen guten Sound hin. Ich dagegen hatte ein Studio aus Holz, dessen Klang ihnen gefiel, also arbeiteten sie mit mir. Ich hatte also gut zu tun, immer Aufträge von den Majors. Und dann, eines Tages, kamen die Punks, die Skateboarder ... Und ich wusste sofort, das ist es, das will ich machen. Ich hörte auf, für irgendwen anders zu arbeiten, und gründete Mystic Records. Das war 1979.
Was war dein erster Eindruck von den Punks, als sich Mitte/Ende der Siebziger in Los Angeles diese Subkukltur entwickelte?
Die erinnerte mich an die schwarzen Kids aus den Fünfzigern mit ihren abgefuckten Instrumenten und ihrer zerrissenen Kleidung, und sie hatten was zu sagen. Es war Blues aus den Vorstädten, aber eben weiß, obwohl das auch nicht genau zutrifft. Die meisten von denen waren Latinos, Mexikaner, aus der zweiten Einwanderergeneration. Die hatten was zu sagen, die wollten akzeptiert werden – wie die Schwarzen auch. Die wollten nicht nur die miesen Jobs bekommen, Autowäscher, Gärtner und so weiter. Die wollten ihren Weg machen, und ihre Lieder hatten starke Botschaften – gegen den Krieg zum Beispiel. Da ging es nicht um Pop-Musik, diese Texte waren Ausdruck purer Verzweiflung. Wir sprachen damals auch von „thrash and bash music“, denn das war es: sie schrieen so laut sie konnten, dazu ging das Schlagzeug „bang, bang, bang!“. Die Jungs wollten es lieber Punk nennen, also sprachen wir von Punk. Und so vermischten sich da dieser kalifornische Thrash-and-Bash-Sound und Punk, den Bands wie AGRESSION, DR. KNOW und RKL bekannt machten. Diese Bands und ihre Musik verbreiteten sich, und in der Folge nahm ich über 500 Bands in meinem Studio auf, und viele davon veröffentlichte ich auf meinem Label, das ich aufzog wie ein Blues-Label in den Fünfzigern.
Von klassischer Musik zu Gospel und Blues und schließlich zu Punk – du scheinst musikalisch sehr offen zu sein.
Das Wichtigste war für mich immer, mit Menschen in Verbindung zu stehen, und was immer sie als Ausdrucksmittel wählten, versuchte ich zu verstehen, mich auf die gleiche Wellenlänge zu begeben. Das ist wie verschiedene Radiosender zu hören. Und bis heute kann ich mir gleichermaßen Klassik anhören, Punkrock oder einen exzellenten Jazz-Pianisten – und ich liebe das Jazz-Piano! Ich hasse allerdings, dass wir heute nicht mehr in der Lage sind, Emotionen bei der Aufnahme festzuhalten. Alles ist digital, es gibt nur noch eckige Linien, keine Wellen mehr. Ich dagegen liebe Harmonien. Die meisten elektrischen Instrumente erzeugen aber keine keine Harmonien, und viele Musiker der jüngeren Generation verstehen nicht, wie man Emotionen erzeugt. Immerhin, es gibt heute wieder eine wachsende Fangemeinde für Vinyl und das ist gut. Der Unterschied zwischen digital und analog ist für mich übrigens ganz einfach zu erklären: Digital klingt, als ob man ein Album in einem gekachelten Badezimmer hört, analog andererseits wie im Wohnzimmer, mit weichen Sofas und Kissen überall. Am wichtigsten an der Musik sind aber die Menschen: Ich habe es immer geliebt, Menschen um mich herum zu haben, mit ihnen zu reden.
Und wie ging es dann mit dem Label weiter?
Ich habe über 500 Bands in meinem Studio aufgenommen, und ich habe jeder Band versprochen, ihr Album zu veröffentlichen. Es kostete mich sechseinhalb Jahre Zeit und 80.000 Dollar pro Jahr, um Mystic aufzubauen, und dann hatte ich auch einen furchtbaren Autounfall, der mich ein Jahr kostete. Und als ich wieder arbeiten konnte, das war dann Mitte/Ende der Achtziger, wollte jeder nur noch CDs haben, keine LPs mehr, also verbrachte ich ein Jahr ohne Einkommen, weil keiner mehr Schallplatten haben wollte. Dummerweise folgte ich den Massen und verlegte mich auch auf CDs, anstatt zu verstehen, dass es einen Sammlermarkt gibt und da LPs gefragt sind. Ich verschuldete mich auf Jahre, um mein Versprechen gegenüber den 500 Bands wahr zu machen, und brachte es letztlich auf rund 300 veröffentlichte Bands. Aber ich halte meine Versprechen und so habe ich mir vorgenommen, so lange ich lebe, daran zu arbeiten, die restlichen Bands zu veröffentlichen.
In letzter Zeit bist du wieder besonders aktiv.
Ja, die Plattensammler halten das Label am Leben. Wir machen alles auf weißem Vinyl mit schwarz-weißen Etiketten. Vinyl hat überlebt, obwohl die Majors in den Achtzigern versucht haben, Vinyl zu killen. So wie sie auch versucht haben, die kleinen Indie-Plattenläden auszulöschen. Die wollten nur Läden haben, die das verkaufen, was die Majors loswerden wollen, wovon sie glauben, dass der Markt danach verlangt. Was immer heute an Problemen vorhanden ist, die Majors sind daran schuld, sie haben das Musikgeschäft kaputtgemacht.
Erzähl mir von der Zeit Ende der Siebziger bis Mitte der Achtziger, wie kamst du zu Bands wie RKL oder DR. KNOW?
Damals war die große Zeit der Fanzines, der kleinen schwarz-weißen Hefte, die man damals auf Kopierern vervielfältigte. Jedes College, jede Kleinstadt in den USA hatte ein Fanzine, und die besprachen im Austausch gegen eine Platte unsere Releases. Wir hatten irgendwann eine Liste von 1.500 Fanzines, und wir bekamen aus dem ganzen Land Briefe, wo uns Leute einluden, doch mal in ihre Stadt zu kommen und ihre Bands aufzunehmen. Wir schickten also Platten raus an all die Fanzines, und die schrieben „Wenn eure Band eine Platte rausbringen will, geht zu Mystic, die nehmen euch auf und machen das“, und so meldeten sich immer mehr Bands bei uns, kamen zu uns nach Hollywood und nahmen in zwei, drei Tagen ein paar Songs auf. Das hielt mich ganz schön auf Trab, wir hatten zwei, drei Bands die Woche im Studio, und die wohnten da auch. Das nahm solche Ausmaße an, dass wir das auf die jeweilige Band und den engsten Freundeskreis begrenzen mussten, wir waren zu einer Art Hotel geworden. Das war wundervoll, das war wie eine Familie. Alle halfen beim Renovieren und Putzen, wir kochten zusammen, und die Punks lernten schnell Mädels kennen, die in den umliegenden Restaurants arbeiteten, und die brachten dann abends noch übriges Essen mit. Und die saßen dann auf den Sofas rum, während wir aufnahmen, und es kamen immer mehr von ihnen, um all die Musiker aus dem ganzen Land kennen zu lernen. Das Studio entwickelte sich also mehr und mehr zur einer Art Club. Auf Dauer ging das natürlich nicht gut, doch ein paar Häuser weiter gab es ein chinesisches Restaurant namens Cathay de Grande, das dabei war pleite zu gehen, und mit dem machte ich einen Deal: Ich schicke dir meine ganzen Bands rüber, du hast sogar eine Bierausschanklizenz, also ist dir geholfen und mir auch. Die Bands konnten da auch live spielen, und so entwickelte sich Cathay de Grande zu einem der angesagtesten Punk-Clubs der Stadt. Und wir machten da auch Live-Aufnahmen, etwa der MENTORS, doch aus unserem ursprünglichen Plan, einfach Kabel zu ziehen aus dem Studio ins Restaurant, um direkt über unser Mischpult aufzunehmen, wurde leider nie was. Morgens so gegen ein oder zwei Uhr schloss das Studio offiziell, aber da es geräuschgedämmt war, probten da nachts auch Bands. Ich schlief damals oft im Studio in meinem Büro, und wie schon erwähnt, durch die Fanzines und meine Anzeigen darin kam ständig neuer Bandnachschub, was letztlich zu den 500 Bands führte, die bei mir aufnahmen.
Aber irgendwann ging das alles zu Ende.
Ja, Mitte der Achtziger, so 1986/87, begann sich Hollywood zu verändern. Die Leute, denen Disneyland gehört, hatten die Idee, Hollywood mit Disneyland und Las Vegas zu verbinden, das für Touristen interessant zu machen. Die hatten sogar den Plan, Las Vegas, Hollywood und Disneyland mit einer Monorail-Bahn zu verbinden. Aus dem Plan wurde letztlich nichts, aber Investoren hatten begonnen, Grundstücke aufzukaufen, und darunter war auch das Gebäude mit unserem Studio. Und so kam es, dass wir umziehen mussten nach Oceanside beziehungsweise San Marcos, zwischen Los Angeles und San Diego.
Und wie ging es weiter?
Mystic wurde wieder ein Stück kleiner, letztlich waren da nur ich und ein Helfer fürs Lager, der die schweren Kisten schleppte. Es war nur noch ein Ein-Mann-Geschäft, und ich vertrieb die Platten über Sound Of California. Das ist der Vertrieb, den ich heute noch habe, und dahinter steckt Bill Karras. Bill war früher mal Chefkellner von einem der größten Restaurants in Los Angeles, und der ging nach seiner Schicht immer noch auf Punk-Konzerte und tanzte dort in seinem schicken Kellneranzug. Andere Punks versuchten, diesem Typen mit Fliege und Dinnerjacket die Nase blutig zu schlagen, aber er wusste sich zu wehren. Ich sprach ihn eines Abends darauf an, warum er sich das immer wieder gibt, und er sagte, er liebe die Musik, die körperliche Herausforderung, den Enthusiasmus aller Beteiligten. Und er sagte, er würde viel lieber für ein Plattenlabel arbeiten als für ein Restaurant. Ich sagte, wenn er 5.000 Dollar habe und ein Auto, könne er für diese Summe Platten von mir kaufen und ich würde ihm zeigen, wie man die verkauft. Und einen Tag später sei er schon ein Plattenvertrieb. Am nächsten Tag stand er vor der Tür, mit einem Auto und 5.000 Dollar. Wir luden sein Auto mit Schallplattenkartons voll und los ging es mit dem Klinkenputzen. Am Ende der Woche gehörte er zu uns, schlief mit den Bands im Studio und fuhr jeden Morgen los, um Platten zu verkaufen, und kehrte abends mit Schecks zurück. Ich richtete ihm ein Büro ein, er gab seinen Job als Kellner auf und wurde unser Großhändler. Außerdem kümmerte er sich bald als Controller um die finanziellen Angelegenheiten von Mystic, und er machte das besser als ich. Wir kennen uns jetzt seit 35 Jahren, und er ist immer noch mein Großhändler.
Du hast Vinyl gehen und die CD kommen und letztlich die CD wieder gehen sehen, den Wiederaufstieg von Vinyl erlebt ...
... und ich habe noch erlebt, wie Menschen ohne Strom leben: Meine Großeltern haben sich nachts noch mit Kerzen beholfen, und in meinem Elternhaus wurden noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg Gaslampen verwendet. Und dann setzte sich die Elektrizität durch, und dann bekamen die Schreibmaschinen ein Gedächtnis und man nannte sie Computer. Und sie entwickelten ein Eigenleben, sie zwingen uns dazu, uns nach ihren Regeln zu verhalten. Der Streit zwischen dem Menschen und den Computern wird für die Zukunft unser aller Leben bestimmen. Und letztlich wird der Mensch zum Sklaven des Computers werden, davon bin ich überzeugt, hahaha.
Du lachst, denn du wirst das nicht mehr erleben.
Genauso ist es, hahaha. Andererseits ist es gut möglich, dass wir uns an meinem 100. Geburtstag noch mal unterhalten. Ich habe hier auf dem Schreibtisch eine Flasche Brandy stehen, die 60 Jahre alt ist, und ich habe mir vorgenommen, die erst zu meinem 100. Geburtstag aufzumachen. Ich sehe die Flasche jeden Tag, und sie ist mein Ansporn, so lange durchzuhalten.
Andere in deinem Alter führen ein ruhiges Leben als Rentner. Wieso du nicht?
Mit 62 wollte ich mich zur Ruhe setzen, als Frührentner. Ich wusste, dass ich eine gute Rente bekommen würde, und der Gedanke war verlockend, also ging ich ins Büro der Rentenversicherung – und die konnten mich in ihren Unterlagen nicht finden! Die hatten einfach meine Unterlagen verloren. Ich hatte viele Jahre richtig gut verdient, als ich in den Sechzigern für Mercury und 20th Century Fox arbeitete, sogar im Internet finden sich dafür Belege, aber die haben mich nicht im Computer, weil seinerzeit bei der Umstellung von handschriftlichen Akten auf elektronische Unterlagen irgendwer einen Fehler gemacht hatte. Sie sagten, sie könnten mir nur die Mindestrente von 300 Dollar pro Monat geben. Tja, mittlerweile sind daraus zwar 700 Dollar geworden, aber damit kommt man ja auch nirgendwo hin. Und so war klar, dass ich, statt als Rentner zu leben, wieder würde arbeiten müssen. Ich überlegte dann, was ich machen könnte, und mir fielen all die Plattensammler ein, und dass ich auf Mystic ja schon die verschiedensten Shape-Platten gemacht hatte, etwa quadratische Schallplatten oder welche in Form eines Herzens oder eines Baseballs. Ebenso hatte ich Picture-Alben gemacht, aber irgendwie gefiel mir der Gedanke nicht, und so beschloss ich, Mystic als Vinyl-Label zu reaktivieren. Das war und ist viel Arbeit, denn man musste die ganzen Aufnahmen remastern.
Haben Sammler eine Chance, die Original-Releases auf Mystic von den Neuauflagen zu unterscheiden?
Ja, das ist ganz einfach: Man muss nur auf die Adresse achten. Die Originale haben als Adresse Hollywood oder San Marcos. Wenn da Oceanside steht, ist es eine Neuauflage. Es ist mir wichtig, dass der Sammlerstatus der Mystic-Platten trotz Neuauflagen erhalten bleibt. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte damals von jeder Platte 100 zur Seite gelegt, wenn mal wieder eine Platte auf eBay für 100 Dollar versteigert wird, aber was soll’s.
Die Arbeit mit dem Label hält dich also noch den ganzen Tag auf Trab?
Nicht den ganzen Tag, ich habe noch genug Zeit etwa zum Fernsehen. Ich liebe es, Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg anzuschauen. Ich war damals ja mit dabei, aber wir waren doch von all den Informationen abgeschnitten. Wir bekamen vom Krieg etwas mit, wenn eine Bombe geworfen wurde, aber nur wenig über Radio und Zeitungen. Und natürlich, wenn man von einem deutschen Jagdflugzeug über ein Feld gejagt wurde ...
Was?!
Ich war mit Freunden unten an der Küste in Cornwall, als die Deutschen den Hafen von Falmouth bombardierten. Wir standen oben an der Küste, und die Flugzeuge kamen auf unserer Höhe übers Wasser. Wir machten Faxen, brüllten und machten obszöne Gesten, was einem der Piloten nicht passte, und so nahm er Kurs auf uns und jagte uns übers Feld. Das dauert nur ein paar Sekunden, aber wenn du über dir ein Flugzeug im Tiefflug siehst und das Mündungsfeuer des Maschinengewehrs siehst, bekommst du es mit der Angst zu tun. Keinem von uns passierte was, und hinterher versuchten wir, mit dem Taschenmesser die Kugeln aus der Erde zu graben, die der Deutsche auf uns gefeuert hatte, fanden aber keine. Jeder von uns hat natürlich seine eigene Version der Geschichte, wie konnten uns nicht mal auf den Flugzeugtyp einigen. Der eine sagte Heinkel, ich Junkers, und so weiter. Als jugendliche Fahrradkuriere bekamen wir aber nicht mit, was damals so in der Welt vor sich ging, und das hole ich heute vor dem Fernseher nach, und ich bin immer wieder erstaunt, was die Menschen damals alles über sich ergehen lassen musste. Welch Verzweiflung der Krieg über die Menschen brachte, welch Unglück, was für Veränderungen! Und dabei war mein Leben damals gar nicht so schlecht: Ich hatte als Fahrradkurier Ersatzreifen, die ich eintauschen konnte, ich bekam Taschenlampenbatterien gestellt, die viel wert waren, und so war ich mit meinen 14, 15 Jahren recht glücklich. Und erst rückblickend erkenne ich jetzt, wie tragisch die Zeit für viele andere Menschen war. Als die Amerikaner dann nach England kamen, im Vorfeld der Invasion in der Normandie, machte ich auch noch gute Geschäfte, als ich den US-Soldaten Bruchstücke von deutschen Flugzeugen und Bomben, die ich auf der Straße gesammelt hatte, als Souvenirs verkaufte. Na ja, und so verbringe ich heute so eine Stunde am Tag vor dem Fernseher, koche mir was zu essen, und dann kommt mein Freund Danny vorbei, der mir dabei hilft, Plattenkartons in der Gegend rumzutragen. Die sind mir heute einfach zu schwer. Ich hatte noch irgendwo 200 Kisten eingelagert, voll mit alten Zeitschriften und Platten, und die müssen gesichtet werden. Und dann ist da ja noch mein Buchprojekt: Ein Buch über mich und Mystic, an dem ich schreibe, sowie ein Buch mit all den Plattencovern von Mystic. Und meine E-Mails muss ich auch noch bearbeiten, denn ich bekommen im Monat bis zu 300 Mails aus aller Welt, wo mir Leute irgendwelche Fragen über Mystic stellen. Außerdem telefoniere ich viel, beantworte Fragen von Leuten, die wissen wollen, wie man im Musikgeschäft überlebt. Und einmal im Monat fahre ich zu meinem Großhändler und wir tun so, als machten wir immer noch dicke Geschäfte, haha. Und neulich noch habe ich ein paar 1.000 alte Mystic-CDs gegen ein paar 1.000 Band-T-Shirts eingetauscht, so dass ich jetzt auch noch diese T-Shirts am Hals habe und sehen muss, wie ich die verkauft bekomme. Na ja, und mit all diesen Sachen komme ich so auf 3.000, 4.000 Dollar im Monat.
Und wie geht es mit Mystic weiter, das 2009 seinen 30. Geburtstag feierte?
Ich habe noch 200 Bands zu veröffentlichen. Neulich haben wir noch unveröffentlichte Aufnahmen von FAITH NO MORE gefunden, und da sind noch eine Menge mehr alter Tonbänder, durch die ich mich durchhören muss. Ein konkretes Projekt wird „Hollywood Stomp“ sein: Damals hatten wir eine Party im Studio und wir hatten vorher einen Basic-Track aufgenommen und den Refrain festgelegt, „Doing the Hollywood Stomp“. Dann machten wir die Party, verschlossen die Tür und hatten vorher in jeden Raum, inklusive der Toilette, ein Mikro gehängt, und jeder Besucher musste ein paar Zeilen singen, über das Leben in Hollywood. Wir nahmen das auf, und das Ergebnis ist eine LP mit nur einem Song, die wir nun endlich veröffentlichen wollen. Das war ein unglaublicher Abend in Hollywood, da waren alle bekannten Punk-Größen von Los Angeles anwesend. Du hattest gefragt, was ich den ganzen Tag mache? Also langweilig ist mir nie, aber im Gegensatz zu früher muss ich mich am Nachmittag ein halbes Stündchen hinlegen, und dann mache ich mir ein Bier auf und arbeite weiter. Ich lebe in einem Mobile Home Park in Oceanside, auf halbem Wege zwischen San Diego und Los Angeles. Ich brauche die frische Seeluft für meine Lungen. Aber ich bin auch gerne unterwegs, ich reise recht viel, besuche oft Freunde in Nashville. Solange ich was zu tun habe, das etwas mit Musik zu tun hat, bin ich glücklich und zufrieden.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #92 Oktober/November 2010 und Joachim Hiller