Punkrock hat in Frankreich einen anderen Verlauf genommen als in den meisten anderen europäischen Ländern. Während ab Anfang der 1980er Jahre fast überall der Hardcore-Punk Einzug hielt und die Geschwindigkeit der Musik rasant anstieg, blieb der Punkrock in unserem Nachbarland auf einem deutlich hörbaren Rock-Level. Die Franzosen hatten es überhaupt nicht mit Geschwindigkeit und blieben mehrheitlich dem 77er- und Oi!-Punk treu.
Das mag vor allem am französischen Selbstverständnis liegen, sich nicht dem amerikanischen Kulturimperialismus hingeben zu wollen, der weltweit die Musikcharts dominierte. Es wurden staatlicherseits Quoten eingeführt, wonach von den Radiosendern mehrheitlich französischsprachige Lieder gespielt werden mussten und so auch einheimische Newcomer bevorzugt wurden. Künstler wie Johnny Hallyday, MANO NEGRA, GASOLINE, SHAKIN’ STREET oder LES RITA MITSOUKO waren die Trendsetter für das „normale“ Musikprogramm. Dennoch gab es jede Menge guter Punkbands, von denen ich euch hier zehn vorstellen möchte, wie immer rein subjektiv ausgewählt.
Gleich zu Anfang sollen CAMERA SILENS aus Bordeaux Erwähnung finden, da sie von allen den vermutlich größten Aha-Effekt hervorrufen werden. 1981 gründete sich die Band, deren Name sich auf die Haftbedingungen von RAF-Terroristen wie Andreas Baader und Ulrike Meinhof bezieht, die angeblich einer Form von Isolationsfolter ausgesetzt waren, auch bekannt als „Camera Silens“ oder „Blackbox“. „Wir waren immun gegen jegliche Form von Autorität und wollten uns in keiner Weise in die Gesellschaft integrieren“, so Sänger Gilles Bertin. 1985 veröffentlichten sie ihr Debütalbum „Réalilté“, das heute als einer der-Punk-Klassiker Frankreichs schlechthin gilt. 1987 folgte die „Rien Qu’en Trainant“-LP, auf der auch erstmals ein Saxophon sehr eindrucksvoll eingesetzt wurde. Am 27. April 1988 geschah ein spektakulärer Überfall auf einen Geldtransporter, der mit einer Beute von umgerechnet 1,8 Millionen Euro, ohne dass ein Schuss abgefeuert wurde, als legendärer Coup in die Geschichte Frankreichs einging. Alle 13 Beteiligten wurden kurze Zeit später geschnappt – alle außer Gilles Bertin, da dem Sänger von CAMERA SILENS die Flucht gelang. In den Folgejahren versteckte er sich in Spanien und Portugal und wurde 2010 von den französischen Behörden für tot erklärt. Völlig unerwartet überquerte Gilles Bertin im November 2016 nach fast dreißigjähriger Flucht zu Fuß die Grenze Richtung Frankreich, weil sein damals fünfjähriger Sohn nicht mit einer Lüge aufwachsen sollte, und stellte sich in Toulouse der Polizei. Er wurde zu fünf Jahren mit Bewährung verurteilt, nachdem die Staatsanwaltschaft „gute Führung“ angeführt hatte. Aufgrund der Folgen seiner im Untergrund lange Jahre nicht behandelten Aids-Erkrankung (durch seine Heroin-Abhängigkeit in den frühen 1980er Jahren) starb Gilles Bertin am 07.11.2019 in Barcelona in Spanien. Im selben Jahr erschien ein Buch von Gilles Bertin über seine drei Jahrzehnte auf der Flucht, das in Frankreich zum Bestseller wurde. Auch die Platten von CAMERA SILENS sind posthum neu aufgelegt worden.
Die TROTSKIDS wurden 1982 in Rennes in der Bretagne gegründet, als dort New Wave noch das vorherrschende Musikgenre war. Das Quartett bestand aus den beiden Brüdern Doumé Septier am Mikro und Félipé Septier am Schlagzeug, Ivan an der Gitarre und Ruff am Bass. Aus beruflichen Gründen siedelten drei von ihnen 1983 von Rennes nach Paris über, woraufhin der Gitarrist durch Oliv ersetzt wurde. Die TROTSKIDS gelten als eine der wichtigsten französischen Punkbands der 1980er. Durch ihren Song „Gueule d’enfer“ auf dem LP-Sampler „Chaos En France Vol. 1“ erlangten sie regelrecht Kultstatus. Gleichzeitig veröffentlichte ihr Label Chaos Productions 1983 ihr erstes, selbstbetiteltes Album mit sechs Songs. Auf „Chaos En France Vol. 2“ findet man den Song „Pas de voyou dans mon bar“. Die zweite LP „A Mort!... A Fond!!...“ erschien 1986 auf Terminal Records, gefolgt von der „Mise À S.A.C.“-12“ im Frühjahr 1987, kurz bevor sich die TROTSKIDS im Juni 1987 aufgrund musikalischer Differenzen trennten.
Ihr gesamtes Schaffen erschien 1997 in Form der Diskografie-CD „La Complète ...“ auf dem französischen Label Combat Rock, später via Dirty Punk in Form von zwei separaten LPs auch wieder auf Vinyl. Da die 24 erhaltenen Songs der Bands nicht auf eine LP passten, gab es 2006 erst mal Volume 1, der zweite Teil folgte 2007, auch wieder im Klappcover mit reichlich Texten und Fotos, allerdings ohne Bandhistory. Alles in allem eine sehr schöne Wiederveröffentlichung von frankophonem Punkrock zwischen Rotz und Hymne, der sich klar an englischen Vorbildern aus den Siebzigern orientiert. Und selbst wer nur rudimentär des Französischen mächtig ist, sollte mitbekommen, um was es in Songs wie „Necrophile“, „L’amour anal“ oder „Furunculé“ geht und dass entsprechend ihre Umwelt seinerzeit kaum begeistert auf sie reagiert haben dürfte. Da diese Rereleases bei den Fans und den Ex-Mitgliedern sehr gut ankamen, reformierten Doumé und Félipé 2008 zusammen mit zwei neuen Mitgliedern – Marco von den MASS MURDERERS an der Gitarre und Bruno von GUNNERS und TV MEN am Bass – ihre alte Band und spielten danach wieder regelmäßig Konzerte. 2015 kam es endgültig zur Auflösung der Band.
Die Anfänge von KIDNAP aus Blois an der Loire, etwa 200 km südlich von Paris gelegen, gehen auf das Jahr 1977 zurück. Wobei sie damals noch nicht KIDNAP hießen, sondern zuerst ACIER respektive RADIATION. Die ursprüngliche Besetzung bestand aus Hugues (voc), Chicol (gt), Mireille (bs) und Aldo (dr), die damals alle erst 15 Jahre alt waren und sich musikalisch an Bands wie den SEX PISTOLS, den HEARTBREAKERS und CLASH orientierten. Ein Dachboden diente als Proberaum und wurde sehr schnell in eine Art Höhle verwandelt, in der Menschen zusammenkamen, um zu trinken und Spaß zu haben. Ab 1978 spielten sie ihre ersten Konzerte, es gab Umbesetzungen. Sänger Hugues musste zur Armee und wurde durch Frédo ersetzt. Im Jahr 1981 taten sie sich mit Bands aus Orléans wie REICH ORGASM, KOMINTERN SECT und NO PUB zusammen, woraufhin eine Reihe von gemeinsamen Konzerten stattfanden. In dem Jahr spielten KIDNAP außerdem ihr erstes großes Konzert zusammen mit den STIFF LITTLE FINGERS in Orléans. Aus dieser Vierer-Band-Freundschaft heraus entstand 1982 die 4-Way-Split-LP „Apocalypse Chaos“, die auf Chaos Productions Records veröffentlicht wurde. Auf dieser Platte enthalten ist auch der Anti-Nazi Song „No SS“, der später auch auf dem legendären internationalen Sampler „Welcome To 1984“ des kalifornischen Fanzines Maximum Rocknroll erschien, was KIDNAP weltweit bekannt machte. Der Song „No SS“ durfte in den 1980er Jahren auf keinem Mixtape-fehlen und gilt bis heute als Kultsong!
Erheblich zum Bekanntheitsgrad trug aber auch die Beteiligung von KIDNAP in den Jahren 1983 und 1984 an den beiden „Chaos En France“-LP-Samplern bei. Wir liebten KIDNAP, die wir als kompromisslose Punkband zu schätzen wussten. Erst viele Jahre später bekam ich ihre „Il Faudra Bien Qu’un Jour Tout Change“-7“ von 1983 in die Hände mit ihren tollen vier Songs. Damals gab es leider kein Discogs oder Internet, so dass man nicht immer mitbekam, welche Platten gerade neu veröffentlicht wurden. 1986 erschien noch das selbstbetitelte Debütalbum auf Ripost Records, wobei die Musik doch schon einen Tacken rockiger war, so dass mir irgendwie die Rotzigkeit der frühen Tage fehlte. 1987 wurde ein gemeinsames Konzert zusammen mit LA SOURGIS DEGLINGUEE vom französischen TV-Sender FR3 gefilmt. Nachdem Sänger Frédo nach Irland auswanderte, versuchten die restlichen KIDNAP-Bandmitglieder sich neu zu orientieren. Ein letztes Demo mit drei Songs wurde 1989 mit Fonfon am Mikro aufgenommen. Aus Mangel an Motivation lösten sich KIDNAP Ende des Jahres auf. Zum Abschluss gab noch zwei Songs auf den Samplern „La Chair Humaine Ne Vaut Pas Chere“ und „Teenage Rock’n’Roll From Blois“. Anfang der 2000er Jahre gab es auf Euthanasie Records eine Reihe von Wiederveröffentlichungen. Im Jahr 2002 kamen KIDNAP auf Einladung ihres Labels für ein geheimes Konzert auf die Bühne zurück, was ein toller Abend gewesen sein muss. Es war eine Freude für die Gruppe, ihr Plattenlabel als auch für das anwesende Publikum.
Ursprünglich waren KOMINTERN SECT aus Orléans südlich von Paris von 1980 bis 1986 aktiv, 2014 reformierten sie sich, mit Sänger Carl und Drummer Thomas (auch BURNING HEADS) von der Gründungsbesetzung und Gitarrist Vott, der ab 1985 dabei war. Der Bandname bezog sich auf die 1919 in Moskau auf Initiative Lenins gegründeten Kommunistischen Internationale, kurz Komintern, deren Ziel die proletarisch-kommunistische Weltrevolution war. Aber nur bis 1943, als Stalin die Komintern als Zugeständnis an die West-Alliierten im Kampf gegen Hitler auflöste. So hatte die Komintern ihre Ziele nicht erreicht und auch nach 1945 wurde daraus nichts mehr. Weiterleben tut sie nur in der Fantasie einiger Nostalgiker – und eben im Bandnamen der französischen Oi!-Legende KOMINTERN SECT. Zwischen 1980 und 1986 veröffentlichte die Band einige Klassiker-LPs, angefangen 1982 mit der erwähnten Vierer-Split-LP „Apocalpyse Chaos“. Es folgten die LPs „Les Seigneurs De La Guerre“ (1983), „Dernier Combat“ (1985) und „Les Uns Sans Les Autres“, bevor sich die Band 1986 auflöste.
2016 gab es ein erstes neues Lebenszeichen in Form der Mini-LP „Des Jours Plus Durs Que D’Autres“, die schon in den ersten Sekunden des Openers „Comme un chien“ klar machte, was hier zu erwarten ist: ultramelodiöser, packender, gröliger Streetpunk mit französischen Texten. Damit blieben KOMINTERN SECT sich selbst treu. Die wirklich gut produzierte Platte erinnert aber auch an ihre Landsleute CHARGE 69 sowie etwa an UK-Garanten für hypermelodiösem Oi! wie GIMP FIST. Ein Textblatt lag zwar bei, aber so gut war mein Französisch nie, um die Lyrics auf konkreten Subtext abklopfen zu können. Einerseits ließ Thomas mit den BURNING HEADS nie Zweifel an seiner politischen Ausrichtung erkennen, andererseits waren KOMINTERN SECT mit dem an OHL erinnernden „Wir sind weder rechts noch links“-Gehabe in den 1980er Jahren nicht unumstritten und hatten mit „Barcelone 1936“ oder „Guérilla urbaine“ Texte, die bezüglich ihrer Position zum Spanischen Bürgerkrieg seinerzeit als rechts angesehen wurden. 2016 sah ich KOMINTERN SECT erstmalig auf dem Rebellion Festival in Blackpool und war unfassbar begeistert von der grandiosen Live-Performance. Das Konzert endete in einem heftigen Besäufnis gemeinsam mit belgischen als auch schwedischen Skinheads und Oi!-Punks, mit denen ich bis heute einen engen Kontakt pflege. 2025 werden KOMINTERN SECT wieder in Blackpool spielen. Don’t miss it!
HAINE BRIGADE wurden 1981 in Lyon in Südfrankreich gegründet. Inspiriert wurde die Band musikalisch von CLASH und den SEX PISTOLS, aber vor allem auch von der Anarchopunk-Band CRASS. HAINE BRIGADE verstanden sich von Anfang an als politische Punkband und waren in die autonome Szene eingebunden. Die Musik war vor allem vom Gesang von Alexa und Laurent geprägt, der für Punk-Verhältnisse sehr vielfältig und melodiös war und stellenweise an französische Chansons erinnerte. Ebenso prägend war das Saxophonspiel von Pierre-Yves, wobei der Gesang und das Saxophon auf schnellen, flotten Punkrock trafen. Aus heutiger Sicht weist die Musik der HAINE BRIGADE einige Gemeinsamkeiten mit dem frühen Emocore und Melodic Hardcore auf. HAINE BRIGADE erscheinen in der Nachbetrachtung wie erstklassige Helden der Arbeiterklasse, nur dass sie offenbar genauso wenig arbeiten wollten wie du und ich. Allerdings muss man nicht Mülltonnen durch die Gegend treten, um 100% rebellisch zu sein. Rebellion ist vor allem eine Frage des Bewusstseins und der eigenen Positionierung zu einem bestimmten System. Die Platten, die uns HAINE BRIGADE hinterlassen haben, sind der beste Beweis dafür. Warum soll man langweilig und fett sein, wenn man effektiv rocken kann? Erst relativ spät, fünf Jahre nach der Bandgründung, haben HAINE BRIGADE mit „Berliner Kinder“ ihr erstes Demotape veröffentlicht, allerdings starteten sie 1987 mit ihrer LP „Sauvages“ komplett durch, da dieses Album direkt europaweit wahrgenommen wurde. Damals sah ich HAINE BRIGADE im AJZ Bielefeld, so dass sie auf ewig einen festen Platz in meinem Punkrocker-Herzen haben. Danach erschien lediglich noch eine Split-7“ aus dem Jahr 1988 mit BÉRURIER NOIR mit dem Titel „Disque De Soutien A La Revue Anarchiste ‚Noir Et Rouge‘“. 1990 löste sich die Band auf.
Außerhalb von Frankreich wurden HEIMAT-LOS aus Courbevoie, einem Pariser Vorort, als eine der ersten Hardcore-Punk-Bands Frankreichs bekannt. Von 1983 bis 1988 existierten HEIMAT-LOS, die dank sehr guter Reviews ihrer ersten beiden Demos im amerikanischen Fanzine Maximum Rocknroll sehr positiv wahrgenommen wurden und daher ab 1983 auf unzähligen Tape-Samplern weltweit erschienen und auf sich aufmerksam machen konnten. Herausragendes Merkmal von HEIMAT-LOS waren damals zum einen der markante Bass-Sound zum anderen die Texte in fünf verschiedenen Sprachen. Der deutsche Textanteil des Bandnamens als auch der ersten 7“-EP „Schlag!“ von 1985 stammte vom Sänger Norbert Mension, der ursprünglich aus dem Elsass kam. 1986 und 1987 erschienen eine Split-7“ als auch Split-LP gemeinsam mit der Pariser Fun-Punk-Band KROMOZOM 4. Nach zwei weiteren 7“s war dann 1988 Schluss mit der Band. Drei Mitglieder machten mit einer japanischen Sängerin als TEAR OF A DOLL weiter. Gitarrist François L’Homer wurde zum Multi-Instrumentalisten und arbeitete als Dolmetscher für das französische Rote Kreuz in der Gefangenenbetreuung, unter anderem in Myanmar. Aktuell hat François L’Homer mit BLOB ON NÄLKA eine neue Oldschool-Hardcore-Punk-Band am Start, deren Bandcamp-Auftritt ich wärmstens empfehlen möchte. Ratbone Records hatten 2006 sämtliche HEIMAT-LOS Songs auf einer Doppel-CD wiederveröffentlicht. Seitdem mich François L’Homer 1987 persönlich im Ruhrpott besuchte, verbindet uns bis heute ein enges Band der Freundschaft.
Eine ebenso herzliche Freundschaft verbindet mich mit Raf Dupuy, dem Gitarristen von ATTENTAT SONORE aus Limoges (Nähe von Bordeaux), die bereits 1986 gegründet wurden und bis heute durchgehend existieren. Von keiner anderen französischen Band habe ich über die Jahrzehnte hinweg mehr Konzerte gesehen. Am Anfang erschienen erst „nur“ klassische Demotapes, inzwischen können sie auf vier LPs und eine Split-CD verweisen als auch auf fünf 7“s, wobei die Split-Singles mit SCRAPS, MDC und D.O.A. deutlich auf den Stellenwert der Band und ihre multiplen Aktivitäten hinweisen. Lange Zeit waren der männlich-weibliche Gesang ein Merkmal bei ATTENTAT SONORE, aber durch zahllose Besetzungswechsel hat sich das momentan auf den Sänger Regis reduziert. Motor hinter der Band ist aber Gitarrist Raf. Seit Jahren organisiert er mit Mitstreitern den Plattenladen Undersounds in Limoges, der als Kollektiv betrieben wird, wobei eine Kraft hauptamtlich bezahlt wird. Zudem macht Raf jeden Montag auf dem Bürgerfunk-Sender Beaub FM von 19 bis 20 Uhr seine Punkrock-Radioshow „Emergency“ mit einer sagenhaft guten Musikauswahl, da er mit den coolsten Neuerscheinungen aus aller Welt versorgt wird. Zudem organisiert er seit dreißig Jahren regelmäßige Konzerte in Limoges, wo mittlerweile sicher mehr als 150 Bands gespielt haben. Zwei Mal im Jahr veranstaltet er eine Plattenbörse in Limoges, daher wünsche ich ihm von Herzen ein langes Leben, damit die Subkultur weiterhin ein wichtiger Bestandteil der Stadt sein kann.
OBERKAMPF hatten sich nach der gleichnamigen Pariser Métro-Station benannt. Deren Namensgeber Christoph-Philippe Oberkampf war ein französischer Tuchfabrikant und Textildrucker deutscher Herkunft. 1738 in Wiesenbach (heute Landkreis Schwäbisch Hall) geboren, gilt er in der wirtschaftshistorischen Forschung als einer der Wegbereiter der Zeit des Übergangs vom Manufaktur- zum Fabrikwesen, der zudem die Revolution überstand, weil er seine Arbeiter gut entlohnte. Aber dass OBERKAMPF so schön martialisch-deutsch klingt, hat vermutlich auch zur Namenswahl beigetragen. 1978 wurde die Band von Joe Hell (voc), Pat Kebra (gt), Buck-Dali (bs) und Dominik Descoubes (dr) gegründet. Nach der ersten 7“ im Jahr 1981 „Couleurs Sur Paris“ unterschrieben OBERKAMPF einen Plattenvertrag beim Majorlabel Virgin Records, bei denen 1982 das erste Album „P.L.C. (Plein Les Couilles)“ erschien, 1985 gefolgt von „Cris Sans Thèmes“. OBERKAMPF waren bekannt für ihre anti-nationalistische Einstellung, die sich unter anderem darin äußerte, dass die Band bei einem Live-Auftritt die französische Flagge verbrannte. Zudem wurde ihre Version von „La Marseillaise“ von Schweinegrunzen begleitet, ebenso wie ihr Aufruf zum Widerstand gegen staatliche Institutionen im Lied „Couleurs sur Paris“ von der ersten 12“ von 1981. 1985 löste sich die Band auf. Im Jahr 2000 fanden sie wieder zusammen und nahmen 2003 das Album „Animal Factory“ auf. 2005 wurden sämtliche Studiosongs noch mal auf CD wiederveröffentlicht. In Frankreich genießen OBERKAMPF Kultstatus, ähnlich wie hierzulande DIE TOTEN HOSEN, allerdings ohne den dazu gehörigen Massenerfolg. Inzwischen hört man allerdings kaum noch etwas Aktuelles von dieser Band.
Eine weitere der wenigen Hardcore-Punkbands der 1980er Jahre aus Frankreich waren SCRAPS aus Boulogne-Sur-Mer und Lille, die sich 1983 gründeten. Eigentlich ist Hardcore-Punk nicht die richtige Bezeichnung für ihren Sound, man muss es eher Fastcore nennen. Wobei man SCRAPS aus heutiger Sicht einen gewissen musikalischen Dilettantismus bescheinigen muss. Aber aus dem gnadenlosen Geballer wurde später eine Methode, die SCRAPS hervorragend beherrschten. Die musikalische Ausrichtung kann man etwa mit der von LÄRM aus Holland vergleichen, die zeitgleich aktiv waren. 1985 erschien das erste selbstbetitelte Demotape, wobei Songs wie „Le Pen (Fuck Off)“ und „Make noise not music“ und „Anarchie pas utopie“ uns DIY-Hardcore-Punks voll aus dem Herzen sprachen. Dieser langsame, dissonante Song „Le Pen (Fuck you)“ ist der SCRAPS-Hit und Kult schlechthin. Der Bassbeat ist extrem tanzbar, dazu der derbe, großartige Text, die dissonante, eintönige Gitarre ... das hat was! Und da wird einem wieder bewusst, wie lange diese verkackte Familie Le Pen Frankreich schon im Würgegriff hält. Fuck Le Pen! Danach erschienen 1986 mit „Apartheid“ und 1987 mit „Aaargh!“ zwei weitere 7“s, zudem waren sie 1989 mit ihrer Split-7“ zusammen mit D.O.N.D.O.N. aus Japan eine der ersten europäischen Hardcore-Punk-Bands, die je eine Platte auf einem japanischen Label (MCR Records) veröffentlichten. Erwähnenswert ist auf jeden Fall, dass SCRAPS bis heute existieren, eine Vielzahl von Platten veröffentlichten und regelmäßig Konzerte spielen. Das halb polnische, halb Berliner Label Refuse Records hat 2023 sowohl das erste Demotape von 1985 auf einer 12“ als auch die sehr feine „Make Noise Not Music 1986-1989“-Diskografie-LP veröffentlicht.
WUNDERBACH wurden 1980 in Nanterre im Großraum Paris gegründet. Als Bandname sollte eigentlich die deutsche Übersetzung des französischen Wortes „Formidable“, also „Wunderbar“, Verwendung finden, wobei letztendlich der Bandname in WUNDERBACH abgeändert wurde. Die sechsköpfige Band, inklusive einer gelegentlich singenden Dame, hatte alle Looks drauf, von Wave über Psychobilly, 77er-Punk als auch Skinhead! Und so ist auch irgendwie ihr Sound, bei dem vor allem die unglaublich gute Produktion auffällt: knallig, transparent, viel besser als vieles, was seinerzeit in Deutschland runtergeschrubbt wurde. Toll war auch der teils mehrstimmige Gesang, der eine erstaunliche Vielfalt stilistischer Einflüsse bot. Damals war man echt enttäuscht, erfahren zu müssen, dass WUNDERBACH 1984 nach nur zwei Platten, eine davon auf New Rose, schon wieder Vergangenheit waren. 2005 reformierte sich die Band allerdings wieder. Die Live-CD/DVD „Ultime Pogo Tour“ bereitete sowohl den Fans als auch der Band so viel Spaß, dass sie seitdem weitermachten. Inzwischen hat die Band mit „Increvables“ (2011), „Week-End À Nanterre“ (2016) und „Actionnaires De La Raya“ (2024) drei neue Studioalben veröffentlicht und absolviert regelmäßig Konzerte und Touren. 2012 habe ich diese großartige Band in der Punkeria in Duisburg live sehen dürfen und bin seitdem ein bekennendes Franzosen-Liebchen! Und das, obwohl die französischen Drecks-Katholiken vor etwa 250 Jahren einen Teil meiner hugenottischen Vorfahren töteten und den Rest der Familie zur Flucht nach Brandenburg nötigten. Aber guter französischer Punkrock ist anscheinend dicker als Blut, haha! C’est la vie!
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #176 Oktober/November 2024 und Helge Schreiber