Alexander Hacke ist im Oktober 2015 fünfzig Jahre alt geworden und kann auf ein bewegtes Leben zurückschauen. Er war und ist Musiker, unter anderem bei EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN und CRIME & THE CITY SOLUTION, Produzent und Komponist für Theater- und Filmmusik (speziell für Regisseur Fatih Akin) und gemeinsam mit seiner Frau Danielle de Picciotto Weltreisender. Seit 2010 führen beide ein nomadisches Leben. Sie haben ihr Haus im Berliner Wedding aufgegeben und sind unterwegs, viel in den USA, aber auch in Mexiko oder Prag, Wien, Hamburg. In Berlin haben beide noch ein Büro, wo sie unterkommen, wenn sie in der Stadt sind, und ihr Lager mit einem Archiv, ihrer Kunstsammlung und den Instrumenten.
Alexander Hacke beschreibt seine Beziehung zu EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN sehr emotional und eindringlich: die Neubauten sind seine Familie, er ist Einzelkind und sie sind seine älteren Brüder. Aber die Neubauten sind ein extremes Ding. Und er ist sich bewusst, dass es dieses Musikerkollektiv, diese Familie, niemals so lange gegeben hätte. würden die Mitglieder sich nicht parallel mit anderen Dingen und Projekten (auch jenseits der Musik) beschäftigen.
So hat er letztes Jahr sein Leben in einem Buch mit dem Titel „Krach“ Revue passieren lassen. „Krach“ berichtet von den Anfängen im Milieu der Kreuzberger Hausbesetzer und Punkbands und dem Aufstieg von EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN ebenso wie von Hackes Zeit mit Christiane F., die er bei einem Neubauten-Konzert mit ABWÄRTS 1980 in Hamburg kennen lernte – beide waren zwei Jahre liiert und traten auch unter dem Namen SENTIMENTALE JUGEND auf. Es erzählt vom Mauerfall und den drastischen Veränderungen, die mit den Wendejahren über West-Berlin hereinbrachen. Er schreibt auch über sein Leben und die Arbeit mit Danielle de Picciotto, und verbindet in seinem Buch persönliche Erinnerungen an Berlin mit Anekdoten und Begegnungen.
Heute formuliert er seine Beziehung zu Berlin als Form von „Sentimentalitäten und Romantizismen“, kann also loslassen von der Stadt. Jüngst hat er sich in einem Interview treffend beschrieben: „Mit Sicherheit war ich ein Sonderling, ich habe mein Leben lang instinktiv nach Inspirationen gesucht, die sich weit abseits von meinem eigentlichen Umfeld abgespielt haben.“
Danielle de Picciotto hat 2015 ihr Debütalbum „Tacoma“ veröffentlicht, benannt nach ihrem Geburtsort im US-Bundesstaat Washington. Die Kompositionen haben durchwegs die Qualität eines Soundtracks für Filme. Nun ist „Perseverantia“ erschienen, ein neues gemeinsames Album von Alexander Hacke und Danielle de Picciotto. Beide haben in diesem Kontext Zeit gefunden, über ihre Lieblingsalben der Achtziger Jahre zu reflektieren.
Die Auswahl von Danielle de Picciotto
CRIME & THE CITY SOLUTION „Room Of Lights“ (1986)
Im Jahr 1986 zog ich nach meinem Studium von New York nach Köln. Ich wollte die Welt erforschen. Das Jahr am Rhein war kurz, aber entscheidend, denn dort entdeckte ich die Musik, die mich bis heute begeistert. Kurz nach meiner Ankunft fing ich an, im legendären Rose Club zu arbeiten, und lernte CLOCK DVA, THE WALTONS, LAIBACH, Nikki Sudden und CRIME & THE CITY SOLUTION – damals noch ohne Alexander Hacke – und viele andere kennen. CRIME & THE CITY SOLUTION sah ich dann auch noch einmal in der Biskuithalle in Bonn, da war dann Alexander dabei, kurz vor meiner Abreise nach Berlin 1987, und das Album „Room Of Lights“ wurde für mich zum Sound von West-Berlin. Ich konnte damals natürlich noch nicht ahnen, dass ich zwanzig Jahre später den Gitarristen dieser Band heiraten und 25 Jahre später selber in dieser Band spielen würde, aber ich fühlte mich sofort von diesem Universum angezogen.
SIOUXSIE AND THE BANSHEES „Kaleidoscope“ (1980)
Die Frauen der Musikszene der Achtziger Jahre fand ich extrem beeindruckend. Sie waren selbstständig, androgyn, sehr experimentierfreudig und mit ihren weiß gepuderten Gesichtern, schwarz gefärbten Haaren und knallrot geschminkten Mündern ganz nach meinem Geschmack. Bei meinem ersten Besuch in Berlin lief die Musik von Siouxsie überall. Ihr Song „Happy house“ war immer noch ein Hit, obwohl das Album schon 1980 rausgekommen war, und die eigenartigen Dissonanzen stießen bei mir meine ersten Soundexperimente an. Jahre später in 2007 lernte ich Steven Severin, den Bassisten der BANSHEES, in Prag auf einem Filmfestival kennen, wo er einen seiner wunderschönen Filmscores live aufführte. Seitdem stehen wir in Kontakt.
NICK CAVE & THE BAD SEEDS „Tender Prey“ (1988)
1987 zog ich nach Berlin in eine große Fabriketage. Dort hatte ich fünf Mitbewohner, und einer davon, Roland Wolf, war der Keyboarder von NICK CAVE & THE BAD SEEDS. Mein Zimmer war direkt neben seinem, und da er einen Flügel, ein Klavier und eine Hammondorgel besaß und ununterbrochen darauf spielte, wenn er nicht auf Tour war, hörte ich morgens entweder Arvo Pärt – sein Lieblingskomponist –, oder die Klavierpartituren für die neuen BAD SEEDS-Songs durch die Wand. „Mercy seat“ war mein Lieblingssong. Damals jobbte ich im Fischlabor, der Bar von Dimitri Hegemann, der dann später den Tresor-Club ins Leben rief. Und nachdem ich eines Nachmittags während meiner Schicht durchgehend fünf Stunden „Mercy seat“ gespielt hatte – ohne Unterbrechung! – drohte er mir mit Musikverbot, wenn ich nicht endlich was anderes auflegen würde.
Diamanda Galás „The Divine Punishment &
Saint Of The Pit“ (1988)
Roland Wolf wurde mein Mentor in vielerlei Hinsicht. Er stellte mir nicht nur die Mitglieder von BAD SEEDS und EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN vor. Ihm war es wichtig, meine Musik und Literaturkenntnisse zu erweitern, und so saßen wir täglich vor seiner riesigen Plattensammlung, während er mir einzelne Alben oder Songs vorspielte. „The Divine Punishment & Saint Of The Pit“ von Diamanda Galás nahm er als Erstes in die Hand und wir hörten sie zweimal hintereinander schweigend an. Diese Stunden werde ich niemals vergessen – die große leere Fabriketage mit Blick auf das West-Berliner Kreuzberg mit Diamanda Galás’ Musik im Hintergrund. „Exeloume“ wurde mein Lieblingsstück und ich spielte es so oft ich konnte auf Ausstellungen oder Events. Zusammen mit Alexander Hacke habe ich dann 2008 Diamanda in Kopenhagen in einer Kirche endlich live erlebt. Ihre Intensität ist noch bis heute unvergleichlich.
TANGERINE DREAM „Dream Sequence“ (1985)
1988 jobbte ich als Kellnerin im Restaurant Sabu in Charlottenburg. Die Bezahlung war gut und man bekam immer ein leckeres Abendessen vor der Arbeit. Das japanische Lokal war außerdem Anlaufstelle für Musiker, und viele meiner Freunde besuchten mich während meiner Schicht. Jayney und Johnny Klimek von THE OTHER ONES kamen regelmäßig vorbei und eines Tages brachten sie auch Edgar Froese von TANGERINE DREAM mit. Obwohl ich Anfang der Achtziger Jahre wenig mit elektronischer Musik anfangen konnte, begann ich mich 1988 zusammen mit meinem damaligen Freund Matthias Roeingh, den meisten als Dr. Motte bekannt, für Acid House und Techno zu interessieren. Als Jayney mir Edgar vorstellte und von seiner neuen Platte erzählte, hörte ich sie mir gleich zu Hause an und war begeistert. Obwohl TANGERINE DREAM schon seit den Siebziger Jahren Ikonen waren, kam mir die Musik extrem zeitgemäß vor. Diese und andere elektronische Vorreiter wurden unsere Idole, und mit diesen Einflüssen gingen wir dann 1989 bei der ersten Love Parade auf die Straße, um für Liebe, Freude und Musik zu demonstrieren. Edgar Froese blieb weiterhin in meinem Leben und stellte mich zusammen mit seiner Frau Bianca 2004 in seiner neuen Galerie als erste Künstlerin aus.
Die Auswahl von Alexander Hacke
TON STEINE SCHERBEN „ IV“ (1981)
„Die Schwarze“ war die erste Platte der Scherben, die weit über ihre bis dahin erfolgreiche „Rockmusik mit politischen Texten“ hinausging. Inhaltlich war es tiefsinnig und voller Symbolik, und auch musikalisch passierten aufregende Dinge wie verquere 7/8-Rhythmen oder psychedelische Improvisationen. Mit „Jenseits von Eden“ haben sie ein monolithisches Meisterwerk geschaffen, einen Song wie das Vaterunser, mein ständiger Begleiter seit nunmehr 35 Jahren. 1996 hatte ich die traurige Ehre, mit EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN anlässlich des Abschiedskonzerts für Rio Reiser im Berliner Tempodrum singen zu dürfen.
PSYCHIC TV „Dreams Less Sweet“ (1983)
Nachdem sich THROBBING GRISTLE 1980 aufgelöst hatten, war dies das Nachfolgeprojekt der Erfinder des Begriffs „Industrial Music“ – mehr Sekte als Musikgruppe. Das gesamte Album wurde mit „Zuccarelli Holophonics“ aufgenommen, einem Kunstkopf-Mikrofon in einem echten menschlichen Schädel, bei dem lediglich die verderblichen Organe, wie Gehirn und Augen, durch Gummiteile ähnlicher Konsistenz ersetzt worden sind. Für eine Weile waren wir Labelkollegen, und Genesis P-Orridge unterrichtete mich in „okkulturellen“ Angelegenheiten.
THE HIGHWAYMEN „Highwayman“ (1985)
Zwei Mitglieder dieses Projekts, Johnny Cash und Waylon Jennings, haben diese Welt bereits verlassen, die beiden anderen, Kris Kristofferson und Willie Nelson, der mit inzwischen über achtzig immer noch jedes Jahr tourt, weilen nach wie vor unter uns. Schon damals verehrte ich diese „alten“ Herren und würde mir wünschen, dass man, gerade in unserer Branche, wieder mehr Wert auf Nachhaltigkeit legen würde. Schnelles Geld war mit keinem dieser „Outlaws“ zu verdienen, dafür waren sie immer viel zu sperrig.
SLAYER „Reign In Blood“ (1986)
Mein erstes SLAYER-Konzert war im Rahmen der Tour zu diesem Album, eine absolute Offenbarung! Abgesehen davon, dass ich unter dem Einfluss von Ecstasy auf einer für dieses Genre eher untypischen Droge war, hat mich selten ein Live-Act wieder so umgehauen. „This is not a rock show, this is church!“, brüllt ein Fan in den Extras einer SLAYER-DVD und spricht damit die Wahrheit. Als mich Sänger Tom Araya über zwanzig Jahre später einmal fragte, wie ich ihren Auftritt an dem Abend fand, antwortete ich „stimulierend“, was ihm angeblich noch nie jemand gesagt hatte, aber ich konnte an seinem Grinsen erkennen, dass er genau wusste, was ich meinte.
SUICIDE „A Way Of Life“ (1988)
SUICIDE sind weitere Vertreter meiner absonderlichen Teen-Idole. Während Gleichaltrige in den Achtzigern Prince, Sade oder AC/DC hörten, waren für mich Freaks wie Alan Vega, Genesis P-Orridge, Diamanda Galás oder Yamatsuka Eye von den BOREDOMS die absoluten Helden. Ungläubig habe ich acht Jahre vorher schon in die Rillen des ersten SUICIDE-Albums gestarrt. Diese Musik hatte so rein gar nichts mit der langweiligen alten Rockmusik zu tun. Sogar Punk war im Vergleich ziemlich hausbacken, und ich wusste, dass das hier der Wegweiser in meine Zukunft war.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #126 Juni/Juli 2016 und Markus Kolodziej
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #126 Juni/Juli 2016 und Markus Kolodziej
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #130 Februar/März 2017 und Joachim Hiller