Dafür / dagegen: Live-Alben

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Juni 1998, BAD RELIGION sollen in Graz spielen. Die Tickets kosten 520 Schilling (etwa 37 Euro), was für mich als Schüler ziemlich viel Kohle ist. Zudem kenne ich bislang nur ihr ’94er Album „Stranger Than Fiction“. Bock habe ich trotzdem irgendwie, also nutze ich ein paar Tage vor der Show die Zeit zwischen Schule und Zugabfahrt, um beim Elektronikgroßdealer am Hauptbahnhof in ihr ’96er Live-Album „Tested“ reinzuhören. Und ja, spätestens bei Track 9, als BAD RELIGION das Publikum die Anfangszeilen von „Generator“ singen lassen und dann erst einsteigen, ist klar: Ich muss die sehen. Denn genau das ist es, was für mich den Reiz von Live-Alben ausmacht und sie von Best-Of-Compilations unterscheidet. Diese Atmosphäre, die du dir ins Wohnzimmer holen kannst, dieses Gefühl, zumindest ein klein bisschen dabei zu sein. Sechs Jahre zuvor drückt mir ein Schulkollege ein Tape in die Hand. „Außer Kontrolle“ steht vorne drauf, „Meine Damen und Herren, liebe Schüler, liebe Lehrer, DIE ABSTÜRZENDEN BRIEFTAUBEN“, sagt der Ansager. Was in den folgenden siebzig Minuten Live-Geschehen passiert, soll meine weitere musikalische Sozialisation maßgeblich beeinflussen. Klar, mit verzerrten Gitarren komme ich schon vor diesem Punkrock-Erstkontakt in Berührung. Ein anderer Schulkollege stellt mir beispielsweise AC/DC vor, erst „The Razors Edge“, später ihr originell betiteltes Live-Album „Live“, das mir an Liedgut der Band alles näher bringt, was wichtig ist. Es sind einige Bands, die ich auf diese Weise entdecken kann, MOTÖRHEAD beispielsweise oder die RAMONES natürlich, allerdings nicht mit „It’s Alive“ von 1979 sondern mit „Loco Live“ von 1991, das gab’s gerade verbilligt. Wenn ich heute mal Bock auf die alten Songs von DIE ÄRZTE habe, krame ich ihre erste Live-Platte „Nach uns die Sintflut“ raus, damals auch ihr Abschiedsalbum. Und klar, Live-Platten machen auch Sinn, wenn der Rest der Diskografie ohnehin im Regal steht, wie in meinem Fall beispielsweise „I Heard They Suck Live“ von NOFX. Warum? Weil’s Spaß macht.

H.C. Roth

Konzerte sind eine körperliche Erfahrung von Musik. Wenn die Anlage dich die Musik spüren lässt, wie es noch nicht einmal die 3.000-Euro-Boxen deines reichen Bekannten können, die er dir mal voller Besitzerstolz vorgeführt hat. Die Enge, der Schweiß, die wellenartigen Bewegungen des Publikums, die dich mitreißen. Zunehmende Erschöpfungszustände, eine um sich greifende Euphorie und manchmal auch etwas Ekstase. Peergroup-Pflege, soziale Kontakte, Identitätsstiftung, Selbsterfahrung ... wir sind hier nicht im Uni-Seminar. Was davon bietet eine Live-Aufnahme? Nichts. Stattdessen nur der Verlust all dessen, was eine gute Band und Tontechniker im Studio zu leisten imstande sind. Steigerungsform davon: Live-Bootlegs. Sie klingen wie mit einem Walkman in der Hosentasche aufgenommen, gerne direkt vor den Boxen oder vorletzte Reihe. Was gibt es dafür ungebeten dazu? Wenig unterhaltsame Ansagen, die spätestens nach dem dritten Hören nur noch ermüdend sind und bei denen du im schlimmsten Fall feststellen kannst, dass der Sänger sie in gleicher Form auch zwei Tourneen später am anderen Ende der Welt immer noch bringt. Zwischenrufe von den Typen, die dir beim Konzert schon beinahe den Abend verdorben hätten, ein scheußlich mitsingendes Publikum und alle Spielfehler. Manchmal auch der sich oft im Gesang widerspiegelnde, zunehmende Grad der Alkoholisierung.

Möchte wer nun das Buzzword Authentizität reinrufen? Falsch. Live-Alben sind so authentisch, wie Sex es in „Second Life“ war. Aber jeder musste es mal machen. Griffiger Merksatz: Live-Alben sind Aufnahmen, auf denen alle potenziellen negativen Erscheinungen eines Konzerts voll zum Tragen kommen, während alle positiven Aspekte nicht reproduzierbar sind. Konzertmitschnitte sind was für Komplettisten, und die kaufen Alben eben auch nicht wegen der Musik, sondern weil sie den Sammeltrieb eines Eichhörnchens besitzen. Sei kein Nagetier, hör Studioalben und geh auf Konzerte.

Simon Brüggemann