Was uns wohl erwartet auf unserer ersten Brasilientour? „Just go with the flow“ hatte man uns geraten. Dass alle Erwartungen bei weitem übertroffen wurden, damit hatte niemand gerechnet. Einziger Wehrmutstropfen: D-Sailors Drummer Marco konnte aufgrund einer Erkrankung nicht an der Tour teilnehmen und wurde ersetzt von W$K-Trommler Caddy. Eine ausführliche Version des Tagebuchs und tonnenweise Bilder inkl. Video vom TV-Auftritt findet ihr unter www.d-sailors.de.
9.8.2002 São Paulo - Sesi, Avenida Paulista
6 Uhr morgens Landung, 10 Uhr Soundcheck, 12.30 Uhr erste Show. Das ist doch mal ein Tourauftakt nach 15 Stunden Anreise. Am Flughafen ist die Wiedersehensfreude auf beiden Seiten riesig, als die D-SAILORS die NITROMINDS wieder in die Arme schließen können. Ab ins Auto und zum ersten Konzert. Auf dem Weg kriegen wir einen Eindruck von São Paulo. Die Stadt hat ca. 17-27 Millionen Einwohner und verbreitet mit ihrem Smog, Verkehr, Palmen, Nutten, Favelas und grünen Verkehrsschildern eine Atmosphäre aus Kalifornien, Mexiko und der Bronx. Verkehr & Smog sind der Hammer: 25% aller brasilianischen Autos fahren hier. Wir spielen mitten auf der Avenida Paulista, eine der bedeutendsten Straßen von Lateinamerika im teuersten Viertel von São Paulo. Mindestens vier Security-Typen (hochamtlich mit schwarzem Anzug oder wahlweise schusssicherer Weste) bewachen die bereits aufgebaute Backline. Beim Soundcheck finden sich 40-50 Kiddies ein, die gebannt zuschauen. Bei der Show ist der Platz vor, hinter und neben der Bühne gerammelt voll. 500 Leute hören wir später. Es stehen Mädels in der ersten Reihe, die alle Texte können. Nach dem Auftritt stürmen die Leute den Merchandise-Stand. Wir müssen alles signieren, was man sich vorstellen kann. Wir können das alles noch gar nicht glauben. Anschließend direkt das erste Interview mit Vladimir von Zona Punk. Dann relaxen, sonnen und Whiskey Cola. Abends Party at the NITROMINDS’ favorite bar Marco’s. Der beste Caipirinha der Welt kostet ungefähr 1 Euro und bricht einem das Genick.
10.8.2002 São Paulo - Expo Mart (Feira Mix Festival)
Wir haben gestern schon diverse Leute von anderen Bands getroffen, mit denen wir auf der Tour spielen werden. Um 14.30 Uhr holt uns der Bus ab, und wir geben ein Interview für das Rock Radio. Ein ganz kleines Studio im Hinterhof mit Radiomoderator und Übersetzerin. Wir erzählen ein bisschen über hässliche Deutsche, den daheim gebliebenen Marco, die WM und spielen Songs der SAILORS, TERRORGRUPPE und LIVING END. Das Feira Mix Festival ist so was wie die Vans Warped Tour. Ein riesiges Indoor-Event, überall Ramps, Tattoo-Studios, Merch, Fress- und Saufbuden. Nur das Equipment inklusive Soundsystem erscheinen äußerst fragwürdig. Ein LKW als Bühne und MB muss auf dem Dach mischen. Der Gig ist unglaublich! Ein riesiges Meer aus Menschen, das abgeht wie die Luzie. Schon beim Soundcheck haben mehr Leute gepogt, als in Deutschland je zu unseren Konzerten kommen. Wahnsinn! Uli Bs bereits gelernte Brocken Portugiesisch kommen gut beim Publikum an, da ohnehin kaum einer Englisch versteht. Nach uns spielen DEAD FISH, die übrigens sehr geilen portugiesischen Punkrock machen und von 8.000 Leuten wie die SCORPIONS abgefeiert werden. Teilweise ist die PA für das Mitgegröle zu leise. Nach dem Event fahren wir glücklich zu einem arabischen Restaurant und essen und trinken uns kugelrund. Was für ein Tag!
11.8.2002 Caçapava - Posso Skate Bar
Caçapava ist ganz anders als São Paulo. Weniger Einwohner und viel weniger Verkehr wirken sich wohltuend auf die Mentalität der Leute aus. Es geht alles ein wenig lässiger zu. Der Laden ist wirklich eine Skate-Bar und im Biergarten steht eine gut frequentierte Ramp. Soundcheck soll um 16 Uhr sein. Aufgrund lädiertem Equipment müssen wir jede Menge Improvisationstalent beweisen. Das Posso ist klein und deswegen hoffnungslos überfüllt. Vor die Bühne passen etwa 100 Mann, erschienen sind allerdings dreimal so viele. Heute spielen wir mit den NITROMINDS, die uns für die komplette Tour ihre Crew geliehen haben: Viola Guitar (Merch), ein Rock’n’Roll-Urschwein, der auch genauso gut Angestellter bei MOTÖRHEAD sein könnte. Man ist dann nur immer ein bisschen überrascht, wenn er einen in den Arm nimmt und schmusen will. Dann Punkinho, ein kleiner, schlecht tätowierter Kerl, der Mafia-Flair versprüht und für die Backline zuständig ist. Als letztes der eiskalte Profi Juarez, der von sämtlichen Grölereien völlig unbeeindruckt schweigend seinen Bus ans Ziel bringt. Frei nach DIO nennen wir ihn ab heute „Holy driver“. Vor uns spielen noch zwei Bands, die mit schlechtem Deutschpunk (auf portugiesisch) und ganz grauseligen Coverversionen von BAD RELIGION, SATANIC SURFERS und NOFX „glänzen“. Beim unserem Konzert herrschen Raumtemperaturen von etwa 50 Grad Celsius. Das Wasser fließt von den Wänden. Die völlig austickenden Mädels reißen Ingmar das Handtuch und die Klamotten vom Leib und überall kiekst es: „I wanna kiss!“. Nach dem Gig Interviews, Autogramme, Fotos. Dann endlich die NITROMINDS. Was für eine Powerband!
13.8. São Paulo - Musikaos TV-Show
Bis 4 Uhr nachmittags verbringen wir die Zeit damit, die heiße Wintersonne zu genießen. Spätestens jetzt bekommen wir ein bisschen Muffensausen vor unserer ersten TV Show in den Sesci Pompeii Studios. Der Laden ist wie ein Hörsaal aufgebaut, mit schräg nach oben verlaufenden Sitzreihen und unten einer großen Fläche, auf der schon das Konzert-Equipment aufgebaut ist. Zwei andere Kapellen spielen ebenfalls: WRY (Weichei-Rock in der Art von Placebo) und BLIND PIGS (guter portugiesischer Hardcore-Punk à la RASTAKNAST). Endlich der Startschuss, und wir spielen unseren ersten Song im Fernsehen: „Dedicated to the soapstars“. Das klappt auch ganz gut. Als zweites kommt „The devil stole the drummerboy“, danach ab von der Bühne. Wir sind zwar etwas skeptisch, aber doch ganz zufrieden. Wir verlassen das Studio, um in einer nahe gelegenen Kneipe für zwei Stündchen den Abend ausklingen zu lassen.
15.8.2002 Londrina - Muzikhall
16.30 Uhr aufstehen. Der Laden ist nicht weit vom Hotel und superamtlich. 500er Kapazität und direkt an einem See. Soundcheck bis 20 Uhr, Showtime ist 23.30 Uhr. Als Vorband spielen ME SECOND & THE JIMMIE JONES, eine ME FIRST & THE GIMME GIMMES-Coverband, also Coverband hoch zwei. Dann kommen die NITROMINDS. Als wir auf die Bühne gehen, ist es schon 2.00 Uhr, und das an einem Donnerstag. Die 350 Leute feiern uns so ab, als wären wir schon 10-mal hier gewesen. Die Brasilianer sind echt ein super Konzertpublikum, weil sie total dankbar und tanzgeil sind. Es ist ein Fernsehteam da, und Uli B. gibt zusammen mit Nitro-Andre sein zweites Fernsehinterview. Andres Promotionmaschinerie ist ganz großes Tennis.
16.8.2002 Curitiba - 92°
Nach Frühstück und kurzem Abhängen am Pool verlassen wir gegen 12.00 Uhr Londrina. Die Fahrt nach Curitiba dauert den ganzen Tag. Der Laden ist total unscheinbar, Curfew 23.00 Uhr, 4 Bands. NO BREAK, geiler portugiesischer Melodycore, die zweite Band geht so. Mittlerweile sind mehr als 200 Kids da. Als die NITROMINDS auf die Bühne gehen, fließt das Wasser von den Wänden. Stagediving ohne Ende. Im Backstage-Bereich, der direkt neben der Bühne aus Brettern und Stoff gebaut ist, fällt alles um, als ein Typ direkt von der Holzwand in die Menge springt. Das ist eine verdammte Rock’n’Roll-Show hier. Nach der Show trinken wir noch ein paar Bierchen und betrachten die Szenerie des Ladens, der vom Schweiß der Leute nur so trieft. Nicht viel von der Stadt gesehen, aber ein geiler Gig!
17.8. Florianopolis - Fashion TV Cafe
Nach der landschaftlich schönsten Fahrt erreichen wir Florianopolis, das halb auf dem Festland und halb auf einer Insel liegt, die man über eine Mini-Golden-Gate-Brücke erreicht. Angeblich die schönste Stadt Südbrasiliens. Es haut uns tatsächlich aus den Schuhen, als wir zum TV-Studio fahren, welches auf einem der die Stadt umgebenden Hügeln liegt. Bei Sonnenuntergang, wenn die Lichter der Stadt und der Brücke zu sehen sind, will man anfangen zu heulen, im Lotto gewinnen und sich hier ein Haus kaufen. Die Stadt hat 42 Strände und an einem davon soll unser Hotel liegen. Wir dürfen auf dem Sofa der brasilianischen Kristiane Backer Platz nehmen und die Fragen kommen vom Teleprompter (haha!). Nach dem Interview geht’s zum Club, der Fashion TV Cafe heißt und einen ziemlich coolen Eindruck macht. Der Techniker vom Laden ist überzeugt davon, dass die Boxen besser hinter dem Publikum stehen und spielt vollkommen unangebrachten Rave zum Soundcheck. Heute nur NITROMINDS und D-SAILORS. Der Raum ist totally packed. 300 Mann, die die NITROMINDS begeistert abfeiern. Wir wissen ja nie, was uns blüht, aber mal wieder rasten alle komplett aus. Bis auf die Leute in der ersten Reihe, die entweder apathisch auf die Backline starren, oder Uli B. anzügliche Zeichen geben, was ja auch wieder witzig ist. Florianopolis haben wir auf unserer Seite. Kurz vor Morgengrauen schleppen wir uns mit letzter Kraft über Privatgrundstücke (Warnung vor dem Hund) und Zäune von unserem Hotel Richtung Strand und setzen uns in die Brandung.
18.8.2002 Criciuma - Ponderosa Ranch
Nach drei Stunden Naturbestaunen im Bus kommen wir am „Laden“ an. Das Ding sieht aus wie eine im Bau befindliche Ranch mit Open Air Catering und einem Konzert-/Backstagekomplex, der voll Resident Evil-mäßig daherkommt. Heute wird’s gefährlich: Das Pult ist nicht geerdet, und deshalb bekommt man von den Mikros immer gut eine gesemmelt. Zum Glück haben die nur 110 Volt, tut aber trotzdem weh, und MB schwitzt eine ganze Menge, bis das Problem behoben ist. 400 Leute, die völlig abgehen. Geiler Gig! Direkt danach heißt es Sitzfleisch beweisen. Vor uns liegen 1.200 Kilometer nach São Paulo in einem Ritt. Fahrer Juarez, The Holy Driver, macht seinem Kampfnamen alle Ehre und sitzt die 13 Stunden Fahrt geistesgegenwärtig ab.
21.8.2002 Rio Claro - Kenoma Bar
Um 4 Uhr soll eigentlich Juarez mit dem Bus kommen, damit wir zur Show fahren können, die angeblich nicht so weit weg ist. Irgendwie kommen alle zu spät, und als es um 5 Uhr endlich los geht, landen wir mitten in der Rushhour von São Paulo. Die Fahrt dauert ungefähr dreieinhalb Stunden, und wir sind viel zu spät. Hektisch laden wir aus, Soundcheck ist heute nicht und wir kommen erst zur Ruhe, als wir erfahren, wer heute Abend unsere Vorband ist: Die RAMONES! Natürlich nur eine Coverband, aber eine richtig geile! Der Sänger ist super, spricht zwar kein Wort Englisch, aber imitiert jede Loco Live-Ansage. Wir amüsieren uns prächtig. Nach einer endlos langen Fotosession und Verabschiedungsszene mit den RAMONES („Joey, don’t die again!“) treten wir gegen 2.30 Uhr den Heimweg an.
25.8. 2002 Santo Andre - Marktplatz
Caddys letzter Tag. Nach 13.00 Uhr machen wir uns auf den Weg zur Show, die von Vania Cavalera veranstaltet wird. Das ist die Mutter von Max (SOULFLY) und Igor (SEPULTURA), und sie gibt uns Küsschen und ihre Telefonnummer. Was für eine Location! Auf dem Marktplatz ist eine amphitheaterähnliche Vertiefung mit Bühne, Pit und Rängen. Alles voller Leute! Bei Caddy ist es jetzt soweit, dass er kapiert, dass auch die schönste Zeit einmal vorbei geht, und er heult Rotz und Wasser. Dann geht’s auf die Bühne, und es ist der Hammer. Bei strahlender Sonne stehen da geschätzte 2.000 Mann auf dem Marktplatz von Santo Andre und feiern die SAILORS, als wären es BON JOVI. Nach dem letzten Song „Maybe“ haben wir alle Tränen in den Augen und müssen uns noch auf der Bühne in die Arme fallen. Es bleibt keine Viertelstunde im Backstage und dann heißt es für Caddy Abschied nehmen. Das drückt auf die Tränendrüse. Danach zu Lalo, wo noch eine große Barbecue-Party ansteht. Mitten im Winter grillen! Dazu eisgekühltes Bier oder Maracuja-Caipirinha. Alle sind da, und es wird ein rauschendes Fest. Am Ende gibt es eine tränenreiche Verabschiedungszeremonie und alle liegen sich in den Armen. Nach einer kurzen Nacht geht’s dann auch für den Rest Richtung Flughafen, man verabschiedet sich von Lalo und Andre, den besten Gastgebern der Welt und ist sich einig, dass diese Tour etwas war, was man später im Altersheim noch seinen Enkeln erzählen kann...
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #77 April/Mai 2008 und Katrin Schneider
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #24 III 1996 und Thomas Hähnel
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #56 September/Oktober/November 2004 und Randy Flame