CHARLES DE GOAL

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Moderne junge Männer

Wie macht man da weiter Musik? Dein bester Freund und Schlagzeuger deiner Band erleidet einen Schlaganfall, du bist dabei, als die Maschinen abgestellt werden. Ist Musik da noch wichtig? Patrick Blain, der Mastermind der 1979 in Paris gegründeten Formation CHARLES DE GOAL, entschied sich fürs Weitermachen und ein neues Album, das erste seit „Restructuration“ von 2008. „Mobilisation + Resistance“, auf dem kleinen Pariser Label Danger Records erschienen, steht musikalisch in direkter Nachfolge zum Überklassiker „Algorhythmes“ von 1980, mit dem sich CHARLES DE GOAL neben METAL URBAIN als wichtigster französischer Beitrag zum Post-Punk-Genre verewigten. Zehn Jahre nach dem ersten CDG-Interview, 2006 in Ox #67 als erstes überhaupt in einem deutschen Musikmagazin erschienen, folgt nun ein weiteres Interview mit Patrick.

Patrick, als ich eben unser Interview von vor zehn Jahren gelesen habe, habe ich gemerkt, dass wir nicht den Begriff „Cold Wave“ benutzt haben. Es scheint fast so, als ob jeder, der heutzutage über französischen Post-Punk/Wave aus den späten Siebzigern und frühen Achtzigern spricht/schreibt, diesen Begriff verwendet. Hast du damals auch den Begriff „Cold Wave“ benutzt, gab es überhaupt eine Szene?


Offen gesagt, glaube ich nicht, dass wir das damals so genannt haben. Ich denke, das wurde zuerst in England für SIOUXSIE & THE BANSHEES und „Seventeen Seconds“ von THE CURE verwendet. Aber in Frankreich sind wir direkt von „Punk“ zu „New Wave“ gegangen, man nannte uns bisweilen auch „The modern young men“. Und ich erinnere mich auch nicht an eine „Cold“-Szene. Man hätte für manche Bands diesen Begriff verwenden können, wie KAS PRODUCT, COMPLOT BRONSWICK oder MARQUIS DE SADE, aber es war nicht wirklich eine Szene. Der Terminus wurde viel später dafür benutzt, um einige französische Bands und auch mich zu beschreiben. Tatsächlich habe ich bis vor kurzem gar nicht verstanden, warum er für meine Musik gebraucht wurde. Ich habe gemerkt, dass da etwas dran war, als ich neuere Alben gehört habe. Nach außen hin ist es kalt, aber im Inneren brennt es.

Musikalisch knüpft dein neues Album „Mobilisation + Resistance“ direkt an deine Musik aus den frühen Achtzigern an, was mir gut gefällt. Was ist daran alt, was neu?

Obwohl es sich um ein Doppelalbum handelt, sehen wir „Mobilisation“ und „Resistance“ eigentlich als zwei getrennte Platten an. Wir haben für einen Moment überlegt, sie getrennt zu veröffentlichen, aber uns war bewusst, dass es für unsere Fans teurer sein würde, zwei Alben zu kaufen, also haben wir uns dazu entschieden, dass beide auf einem Album enthalten sind. Die CD-Version beinhaltet auch zwei CDs, obwohl es möglich gewesen wäre, alle Songs auf eine CD zu packen. Aber so können sich die Leute eine Pause gönnen, weil ich weiß, dass es nicht die Art Musik ist, die man länger als eine Stunde am Stück locker anhören kann. Also, was ist alt und was ist neu? Ich schätze, wir sind alt, besonders ich, haha. Du darfst entscheiden, was alt ist, lass uns über das Neue reden ... Der größte Unterschied zwischen diesen Alben und den vorherigen ist, dass wir die meisten Songs zuerst live gespielt haben. Manche dieser Songs performen wir schon seit sechs oder sieben Jahren auf der Bühne. Bis dahin hatte ich neue Songs immer im Studio geschrieben und sie irgendwann auf die Bühne gebracht. Dieses Mal war es genau andersrum, zuerst die Proben und die Bühne, dann wurde der Song mit ins Studio genommen und überlegt, was noch hinzugefügt werden kann. Neu und eine Folge dieses neuen Arbeitsprozesses ist außerdem, dass die meisten der grundlegenden Spuren live im Proberaum von FRUSTRATION aufgenommen wurden, und wir erst danach die Overdubs gemacht haben.

Welches technische Equipment habt ihr benutzt, wer war am Aufnahmeprozess beteiligt?

Wie schon gesagt, wir haben das Meiste zuerst live in einem Proberaum mit Nicus von FRUSTRATION aufgenommen und Vintage-Equipment benutzt, das vielleicht sogar aus den Sechzigern stammen könnte. Dann haben wir die Spuren auf Thierrys Computer, der mit Cubase arbeitet, übertragen und den Rest zu Hause aufgenommen. Dann sind für eine letzte Aufnahmesession in ein richtiges Studio gegangen, um alle Stimmen aufzunehmen und ein paar Effekte hinzuzufügen. Dann hat Thierry das Mixing wieder zu Hause gemacht. Er hat ganz alleine eine verdammt gute Arbeit geleistet. Außer Thierry und mir sind außerdem Jean-Philippe am Schlagzeug, Etienne am Bass, also das übliche alte Line-up, sowie Vinz, unser neuer Bassist bei manchen Tracks, und Omer Leray, Thierrys Sohn, dabei, der ein bisschen Gitarre gespielt und einen durchdringenden Schrei beigesteuert hat – er steht ziemlich auf Death Metal, Grindcore und so was ...

Ihr widmet das Album Jean-Philippe Brouant, der viele Jahre euer Schlagzeuger war. Was ist passiert?

Jean-Philippe ist 2014 ohne irgendwelche Warnzeichen an einem schweren Schlaganfall im Alter von 46 Jahren gestorben, beim Fahrradfahren. Er hinterlässt seine Frau, ein zwölfjähriges Kind und uns. Er war mein bester und engster Freund und ich habe seine Hand gehalten, als sie die Geräte abgeschaltet haben, die ihm geholfen haben zu atmen, obwohl er eigentlich schon längst tot war. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Zuerst war die Trauer so groß, dass ich zuerst gesagt habe, CHARLES DE GOAL seien nun endgültig Geschichte. Nach einiger Zeit fand ich aber, dass es nicht fair wäre, das zu beenden, wofür er all diese Jahre gearbeitet hat. Das Letzte, was wir für ihn tun konnten, war, die Alben zu beenden. Glücklicherweise hatten wir seine Drumspuren schon, so dass die Leute, die ihn geliebt haben, hören konnten, was er gemacht hat – und er hat viel für CDG getan. Das ist der Hauptgrund, warum diese neuen Alben existieren und wir weiterhin live spielen. Wir wollen, dass die Leute hören, was er zusammen mit uns geschaffen hat. Ich vermisse ihn so sehr. Es gibt nicht einen einzigen Tag, an dem ich nicht in irgendeiner Weise an ihn denken muss.

17 Songs, 72 Minuten – es scheint nicht, als ob du an einer Schreibblockade gelitten hättest ...

Wenn man bedenkt, dass das letzte Album vor acht Jahren rauskam, würde ich nicht sagen, dass 17 Songs in acht Jahren besonders viel sind ... Ich bin manchmal eine ganze Weile blockiert. Normalerweise betrifft es eher die textliche Seite – über was soll ich schreiben? – als die musikalische. Thierry ist für einen Großteil der Musik verantwortlich und das hilft. Jetzt, da wir durch unseren neuen Drummer Mathieu, ein sehr netter und talentierter Typ, eine fast komplett neue Band haben, treten wir in eine neue Phase ein und müssen wieder neue Songs schreiben. Ich frage mich, wie sie wohl klingen werden.

Das neue Album erscheint via Danger Records. Wer ist daran beteiligt?

Danger Records ist eine Plattenfirma, die ich vor drei Jahren mit Jeremy und Iwan gegründet habe. Beide haben im Born Bad gearbeitet, einem bekannten Plattenladen in Paris, und beide hatten den Wunsch, ein neues Label zu haben, das sich obskurem Punk und Post-Punk verschreibt. Sie haben mich gefragt, ob ich mich ihnen anschließen wolle, und ich habe zugesagt. Wir veröffentlichen nicht nur verlorene Schätze wie THE PAGANS, PLASTIX oder THE KIDS, sondern auch neue Künstler, an die wir glauben, wie SNEAKS, SEX CRIME oder LE CHEMIN DE LA HONTE. Wir veröffentlichen nur auf Vinyl. Es macht wirklich eine Menge Spaß. Und natürlich erlaubt es mir, meine alten Alben, „Algorythmes“ oder das mit C.O.M.A., und auch die neuen zu veröffentlichen.

„Mobilisation + Resistance“ klingt wie ein sehr politischer Titel. Wogegen sollten sich die Menschen mobilisieren und Widerstand leisten?

Ich habe diese Titel natürlich nicht ohne Absicht ausgewählt. Obwohl ich immer versuche, ein Wortspiel mit Bezug auf den französischen Präsidenten Charles de Gaulle zu benutzen – er rief zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zu Mobilisierung und Widerstand auf –, gibt es auch immer eine nicht ganz so verborgene Bedeutung. Wir leben in einer Welt, die mich traurig und ängstlich macht, obwohl ich eigentlich eher ein optimistischer Typ bin. Es gab in Frankreich mal eine Zeit, die „das Jahrhundert des Lichts“ genannt wurde. Ich habe Angst, dass wir jetzt in eine neue Ära der Dunkelheit eintreten. Es scheint, als ob überall alle möglichen Arten des Extremismus zunehmen: dieser rechtsorientierte, nur leicht verhüllte Faschismus, in Frankreich vertreten durch den Front National, religiöse Fanatiker, „Familienretter“ wie die Anti-Gay-Bewegung, und all diese Leute, für die nur das Geld zählt, während die Menschlichkeit in den Hintergrund rückt. Ich denke, dass wir uns alle mobilisieren und Widerstand leisten müssen gegen das, was ich eine Rückkehr zum Obskurantismus nennen würde. Der Song „7x“ handelt von unterdrückten Menschen, die dazu bereit sind, zu den Waffen zu greifen, nur um leben zu können. Ein Jahr, nachdem ich den Song geschrieben hatte, begann der Arabische Frühling. Ich rufe nicht dazu auf, zu Waffen zu greifen, aber ich denke, es könnte überall plötzlich losgehen. Wir müssen wachsam sein, und uns natürlich auch mobilisieren und Widerstand leisten.

Ein weiterer Song heißt ist „Obsolescence programmée“. „Geplante Obsoleszenz“ ist ein sehr interessantes Phänomen. Die deutsche Regierung hat kürzlich eine Studie dazu veröffentlicht und die beteiligten Wissenschaftler sagen, dass sie keinen Beleg für eine absichtlich kurze Lebensspanne bei Unterhaltungselektronik finden konnten. Da du ja auch Programmierer bist, kannst du mir bestimmt etwas darüber erzählen ...

Tatsächlich geht es in diesem Song nicht wirklich um geplante Obsoleszenz. Ich wollte einen Song für Jean-Philippe schreiben, aber dabei nicht zu dramatisch sein. Also habe ich die These aufgestellt, dass Menschen im Grunde genommen doch Maschinen sind und manche von ihnen weniger sorgfältig als andere hergestellt wurden. Ich habe es nur mit dem verknüpft, was wirklich in meinem Leben in den letzten drei Monaten passiert ist. „In April, my TV broke down, I replaced it. In May, my washing machine broke down, I replaced it. In June, my friend, you broke down, this time I couldn’t do anything, such a friendship you can’t buy.“

„Blackpool“ ist einer der wenigen englischen Titel auf dem neuen Album. Handelt er von dem Badeort in der Nähe von Liverpool, wo jeden Sommer das Rebellion Festival stattfindet, oder gibt es eine andere Geschichte?

Da liegst du richtig, er handelt von Blackpool in England. Wir haben dort vor ein paar Jahren ein Konzert gespielt und fanden die Stadt wirklich toll. Es ist ein Ort, den die Leute nur für eine Sache aufsuchen: Party! Wir haben den Zug von Liverpool nach Blackpool genommen und haben einen Mann in Frauenklamotten gesehen, der ein hässliches Make-up und Fake-Brüste über seinem Kleid trug! Zuerst dachten wir, es wäre ein schlechter Scherz, aber wenn man erst mal nach Einbruch der Nacht in der Stadt unterwegs ist, stößt man auf sehr seltsame Leute: Mädchen in Bienenkostümen, andere mit vorne am Körper befestigten männlichen Sexpuppen, oder Typen im römischen Senatorkostüm, und so weiter. Es herrscht bei den betrunken Leuten, die in die Clubs gehen, eine echt merkwürdige Stimmung, irgendwo zwischen Party und Dekadenz. Von einem soziologischen Blickpunkt aus gesehen ist das sehr interessant.

Ihr covert „Insight“ von JOY DIVISION. Warum JOY DIVISION, und warum gerade dieser Song?

Wir haben diesen Song für eine Compilation aufgenommen, auf der Bands JOY DIVISION covern, um Ian Curtis’ Todestag zu begehen. Wir wurden gebeten, uns einen Song auszusuchen, und wir haben uns für „Insight“ entschieden, weil er immer schon einer unserer Lieblingssongs von JOY DIVISION gewesen ist. Es ist ein sehr paranoider Song, aber mit einer Prise Hoffnung, und ich hatte das Gefühl, dass das Thema in enger Beziehung zu einem Song steht, den ich zuvor geschrieben hatte, „Fermez la porte“, und darüber hinaus ist die Melodie einfach brillant. Als die Platte rauskam, waren wir von dem Resultat ziemlich enttäuscht. Der Song wurde durch ein schlechtes Mastering zerstört. Und da ich glaube, dass es wahrscheinlich das beste Cover ist, das ich je gemacht habe, wollte ich gerne, dass es jetzt noch mal genau so erscheint, wie wir uns das vorgestellt haben. Ich habe JOY DIVISION damals in London live gesehen – das Privileg des Alters –, und obwohl ich von der Musik nicht wirklich begeistert war, war es unglaublich, Ian Curtis auf der Bühne zu sehen. Er hat die Blicke fast wie ein Magnet auf sich gezogen, man konnte nirgendwo anders hinschauen. Es war, als ob er auf der Bühne um sein Leben gekämpft hat, es war regelrecht schockierend.

Paris wurde im November 2015 von dem schrecklichen Anschlag auf das Bataclan getroffen. Wie wurde die Underground-Szene in Paris davon beeinflusst, empfinden die Menschen die Attentante als Angriff auf ihre Art zu leben?

Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es keine Auswirkung auf die Musikszene in Paris gegeben hat. Ich wohne 250 Meter von einem der Anschlagsorte entfernt, einem Café, in dem 19 Menschen starben, und für einen Moment stand das öffentliche Leben still. Fast niemand ging mehr in Cafés und Restaurants. Großartig ist allerdings, dass es wahrscheinlich die Underground-Musikszene war, die dem Ganzen am stärksten standhielt. Manche Konzerte wurden abgesagt, andere wurden wiederum an andere Orte verlegt und die Leute gingen dorthin, vielleicht nur, um zu sagen: „Fuck you, wir haben keine Angst und ihr werdet unsere Art zu leben nicht verändern.“ Wir haben am 6. Dezember ein Konzert gespielt und waren wirklich besorgt, dass keiner kommen würde. Tatsächlich war der Club mit mehr als 500 Leuten brechend voll und es haben sogar nicht mal alle reingepasst, die die Show sehen wollten. Man könnte also sagen, dass wir uns wieder erholen, uns mobilisieren und Widerstand leisten.

Sind dieses Jahr irgendwelche Shows in Deutschland geplant?

Wir haben vor zwei Monaten eine Show in Aachen gespielt. In Bochum steht bald auch wieder eine an. Wir hoffen, dass uns die neuen Alben wieder nach Deutschland bringen werden, da es in unseren Herzen so was wie unser zweites Heimatland ist. Es ist immer ein Vergnügen, vor einem deutschen Publikum zu spielen, und wir vermissen das auch sehr. Wir hoffen also, dass wir euch alle bald vor der Bühne wiedersehen werden.