Die britische Punk-Szene der späten Siebziger und frühen Achtziger zu durchblicken, ist kaum möglich, unzählige Bands tummelten sich damals auf diesem Feld und in den umliegenden Genres. Eine weitere, sonst wohl völlig in Vergessenheit geratene Band hat Damaged Goods Records aus London ausgegraben: CASE aus Croydon im Süden von London. In den paar Jahren von 1979 bis 1985 spielten sie zwar einige Konzerte in London und anderswo, brachten es auf zwei BBC-Radiosessions und ein paar Tracks auf Compilations, doch als „richtige“ Platte haben sie nur die „Wheat From The Chaff“-7“ vorzuweisen – eine recht magere Ausbeute. Zum Glück sind von der Band, deren Kern all die Jahre aus Sänger Matthew Newman, Gitarrist Robert Brook und Bassist Marc Adams bestand, aber einige Demo-Aufnahmen in sehr guter Qualität erhalten geblieben, und so gibt es nun die 19 Stücke umfassende Werkschau „Ain’t Gonna Dance! Recordings 1980-1985“ – und live aktiv sind CASE auch wieder (für Ende April ist sogar ein Konzert in Hamburg angekündigt), deren markantes Merkmal einst der oftmalige Saxophon/Bläser-Einsatz war, auch dem Spiel mit Ska-Elementen war man nicht abgeneigt. Und eine neue Platte soll dieses Jahr auch noch kommen.
Ohne euch zu nahe treten zu wollen: Bis zu dieser aktuellen Veröffentlichung hatte ich noch nie etwas von euch gehört. Und es erstaunt mich immer wieder, wie viele Bands es seinerzeit in England gab. Was war das für eine Zeit, in der ihr damals aktiv wart?
Robert: Kein Wunder, dass du uns bislang nicht kanntest, wir hatten damals ja auch nur eine 7“ veröffentlicht. 1979 war ich gerade mit der Schule fertig, die Reste der ersten Punk-Welle waren noch vorhanden, und es war eine coole Zeit, um in einer Band zu spielen. Unser Plan war, überall und für jeden zu spielen, an so vielen verschiedenen Orten für so viele verschiedene Menschen wie möglich. 1980 spielten wir dann regelmäßig im The Star Public House in West Croydon, wo einst in den Sechzigern auch Jimi Hendrix gespielt hatte. Dort existierte eine kleine, lebendige Szene, in der jeder selbst in einer Band zu spielen schien.
Matthew: Wie so viele junge Menschen kamen wir uns damals gar nicht so jung vor. Im Nachhinein ist es aber natürlich praktisch, unser jugendliches Alter für unser Tun verantwortlich machen zu können, haha. Damals lösten sich gerade viele Bands von ihrer Punk-Vergangenheit, wir dagegen sahen uns nicht als Teil einer Szene, sahen CASE nicht als Punkband, auch wenn andere das taten. Das hatte damit was zu tun, dass man als Band damals, wenn man sich emporarbeiten wollte, in wirklich jedem Pub und Club spielen musste. Wir aber waren eine Band, die gerne mal etwas mehr Action machte auf der Bühne und lauter war als andere, und das traf auch auf unser Publikum zu, und das passte den Pub- und Club-Besitzern oft nicht. Gut an der Zeit damals war aber, dass es so viele Bands gab, scheinbar spielte jeder in einer Band. Es gab unzählige Orte, um Konzerte zu spielen, und nie einen Mangel an Menschen, die neue, gute Bands sehen wollten. Die Tatsache, dass es auch viele schlechte neue Bands gab, schien niemanden abzuschrecken. Einen Gig in einem coolen Club zu bekommen, war dennoch schwierig, und wir machten es uns nicht gerade leicht damit, dass wir in vielen Läden Hausverbot hatten, haha. Beinahe als Ehre empfinde ich es heute, dass wir im The Marquee damals die erste Band seit den ROLLING STONES waren, die Hausverbot bekam – weil wir eine nicht abgesprochene Zugabe gespielt hatten. Damals freilich war das ganz schön doof ...
Martin: Rob und ich waren Schulfreunde, und Punk war für mich das Größte in meinem Leben. Ich war mit Dee Generate von EATER zur Schule gegangen, stand auf Bands wie JOHNNY MOPED und THE DAMNED, die aus unserer Gegend kamen. Damals vermittelten dir die Punkbands das Gefühl, jeder könne eine Band gründen, sein eigenes Ding machen und damit in die Welt hinausziehen.
Ian von Damaged Goods ist ein echter Bluthund, was das Aufspüren alter, beinahe vergessener Bands betrifft. Wie fand er euch – und wie kam es dazu, dass ihr jetzt sogar wieder Konzerte spielt?
Matthew: Ich könnte dir jetzt natürlich eine Geschichte auftischen, wie Ian jahrelang nach uns gesucht hat und uns dann bat, unsere Keller und Dachböden nach den alten Tapes zu durchsuchen. Die Wahrheit ist simpler: Martin hatte einfach keine Lust mehr auf die ewigen Anfragen von alten Fans, ob es denn nicht irgendwelche alten Sachen von uns zu kaufen gibt.
Robert: Ein Freund hatte gesehen, dass jemand bei YouTube unseren Song „Oh“ und noch andere gepostet hatte, und es gab immer wieder mal Compilations mit unseren Songs, die ohne unsere Zustimmung veröffentlicht wurden. Und so kamen wir zum Entschluss, dass es doch eine gute Sache wäre, eine Zusammenstellung unserer besten Aufnahmen zu veröffentlichen. Wir hätten das auch selbst gemacht, aber als Ian davon hörte, bot er uns an, das auf Damaged Goods zu veröffentlichen. Wir mochten ihn und seine Arbeitsweise, er ist eben nicht so ein „Musikbusinesswichser“, wie wir sie über all die Jahre immer wieder getroffen hatten. Während wir die Platte zusammenstellten, hatten Martin und ich begonnen, neue Songs aufzunehmen, und dann kam auch noch Matthew und nahm seinen Gesang auf – es war das erste Mal seit 27 Jahren, dass wir wieder was zusammen machten. Und da war klar, dass wir doch auch wieder ein paar Konzerte spielen könnten.
Was hattet ihr in diesen 27 Jahren gemacht? Komplett vergessen, dass Musik mal so wichtig war in eurem Leben?
Matthew: Nein, Rob und Martin hatten die Musik nicht vergessen, die haben die ganze Zeit in lauten Bands gespielt, mit der Folge, dass sie heute Tinnitus haben, haha.
Martin: Ich war nach dem Ende von CASE in einer sogenannten „positive punk goth band“ namens BLOOD AND ROSES und nahm mit der 1985 das Album „Enough Is Never Enough“ auf, das mittlerweile auf Cherry Red als Teil der „Same As It Never Was“-Zusammenstellung veröffentlicht wurde. 2006 gründeten Rob und ich DIRTY LOVE und veröffentlichten ein Album namens „Trashed“. Im gleichen Jahr spielte ich auch bei LOS PARALITICOS, wir tourten als Support von THE TUBES durch Europa. Ebenfalls 2006 nahm ich mit AGE OF CHAOS das Album „Portobello Knuckle Fighter“ auf.
Robert: Ich spielte seit den Neunzigern bei JOHNNY MOPED und habe mit Lisa von BLOOD AND ROSES über viele Jahre in den verschiedensten Bands gespielt, darunter war auch SHINE, wo Martin mitspielte. Mit SLABMATIC habe ich auch was aufgenommen, was auf „Same As It Never Was“ zu hören ist. Und 2006 hat mich Martin dann mit DIRTY LOVE aus dem „Vorruhestand“ geholt.
Ihr kommt aus Croydon im Süden Londons, einem Stadtteil, in dem das Leben noch nie einfach war. Früher mal gründeten junge Menschen deshalb Bands, brüllten sich die Wut aus dem Leib ... Heute hingegen, zuletzt im Sommer 2011, kam es in Croydon zu massiven Gewaltausbrüchen und Plünderungen, ich sehe aber nicht, dass diese Wut irgendwie in musikalischer Hinsicht zum Ausdruck gebracht wird. Die Zeiten haben sich geändert, oder?
Matthew: Der CASE-Song „I’ll be your fool“ wurde 1981 geschrieben, zu Zeiten der Riots in Brixton, London und Toxteth, Liverpool. In dem Lied geht es unter anderem darum, in welchem Umfang die Riots wohl ein Versuch waren, auch eine politische Aussage zu machen, so heißt es da „breaking the shops and factories to vent their despair“. Aber wir hatten auch damals schon den Eindruck, dass, wie 2011 auch, die „Gewalt“ größtenteils wenig mit der „Wut“ der Jugendlichen zu tun hatte. Durch einen seltsamen Zufall war ich während der Riots 1981 in Brixton, und im August 2011, als die Riots losbrachen, war meine Tochter in Ealing unterwegs. In der Nacht probten wir in Croydon, wir schafften es wegen der Straßensperren kaum nach Hause. Ich hatte ehrlich gesagt den Eindruck, dass es bei all dem weniger darum ging, seine Wut zum Ausdruck zu bringen als Sachen kaputtzuhauen oder abzuzocken, nur so zum Spaß. Es mag sinnig erscheinen, die Ereignisse politisch zu deuten, aber mir scheint das alles etwas aufgesetzt. Davon abgesehen haben aber natürlich eine Menge Leute im Lande die Schnauze voll von der Regierung und der Wirtschaft, und man müsste schon ein Idiot sein, zu glauben, die gesellschaftliche Situation habe sowohl 1981 wie 2011 nichts mit den gewalttätigen Ereignissen zu tun. Was nun die Verbindung zwischen Wut einerseits und Musik und Texten andererseits betrifft, halte ich es für nicht fair, zu sagen, dass sich die Ereignisse nicht darin widerspiegelten. Ich denke, das hängt davon ab, was für Musik man hört. Mag schon sein, dass die frühen Achtziger so was wie ein „Goldenes Zeitalter“ für wütende Lieder waren, aber damals fand sich genauso viel lahmer Mist in den Charts wie heute. Und es gibt sicher eine Menge Bands, die sich textlich vor allem mit weiblichen Körperteilen beschäftigen, aber nicht alle jungen Bands singen nur über die Anzahl ihrer Freundinnen und so weiter. Äh, und ich weiß zwar nicht, ob das jetzt zählt, aber mit CASE haben wir gerade ein paar neue Sachen aufgenommen, und ich finde, die sind viel wütender als das, was wir aufgenommen habe, als wir jünger waren. Das mögen Menschen, die uns damals live gesehen haben, anders gesehen haben, aber ich finde nicht, dass wir besonders wütende junge Männer gewesen sind. Wir sind jetzt jedenfalls „wütendere ältere Männer“. Und wie viele Menschen, die viel lächeln, bin ich ein ganz besonders miesepetriger alter Sack, haha. Älter zu sein heißt doch auch, einfach mehr Zeit gehabt zu haben, sich über irgendwas aufzuregen. Man muss schon ein besonders egozentrisches Arschloch sein, wenn man nur über seine schlechte Laune singt, haha.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #101 April/Mai 2012 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #99 Dezember 2011/Januar 2012 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #104 Oktober/November 2012 und Joachim Hiller