Ich kenne Bryan Ray Turcotte flüchtig aus der gemeinsamen Zeit in San Jose. Das war kurz bevor er nach Los Angeles zog, wo er einiges in Bewegung setzte. Seither hat er viele verschiedene Sachen gemacht: Er tourte als Musiker, er ist Verleger, Kurator, Grafikdesigner, Produzent, Regisseur und Sammler unterschiedlichster Objekte. Seine bekanntesten Werke sind wohl die beiden bemerkenswerten Bücher über die Kunst der Punk-Flyer, sowohl „Fucked Up + Photocopied“ als auch „Punk Is Dead Punk Is Everything“ sind sehr erfolgreich und preisgekrönt. Turcotte setzt keine engen Grenzen, sondern lässt die Motive ohne große Einführung für sich selber sprechen. Die beiden Bücher setzen zu einem Zeitpunkt an, als viele junge Bands keine genaue Vorstellung davon hatten, was sie mit ihrer Art von Musik zur Gesellschaft oder auch zur Kunst beitragen können, obwohl es gewisse Regeln sicherlich gab. Die Flyer vermittelten eher das Bewusstsein und die vage Idee einer Bewegung, als dass sie zeigten, wohin ihr musikalisches und intellektuelles Abenteuer sie mit all ihren Träumen und Plänen hinführen würde. Flyer dienten als Katalysatoren, sie inspirierten die Musik und die Musik durchdrang im Gegenzug die Kunst. Bisweilen haben die Flyer vielleicht mehr über die jeweilige Band ausgesagt als deren Musik. Im Moment produziert Turcotte eine Dokumentarfilmreihe namens „The Art of Punk“, in der das Artwork von Bands wie BLACK FLAG, THE DEAD KENNEDYS, CRASS, THE SCREAMERS und THE MISFITS vorgestellt wird.
Als du angefangen hast, worum ging es dir da? Ich bin nicht ganz sicher, was zuerst kam, „Fucked Up + Photocopied“ oder der Verlag Kill Your Idols“?
Die Idee, „Fucked Up + Photocopied“ zu machen, wuchs in mir, als ich von San Jose nach Los Angeles umzog. Das war 1988/89. Ich hatte einen ganzen Stapel von Flyern, die ich von Laternenmasten und abgerissen hatte, und wollte immer ein Kunstbuch daraus machen. Ich tapezierte meine Wände zu Hause damals mit Flyern, daher kam es mir nur natürlich vor, sie als Kunst und nicht bloß als Werbung zu betrachten. Als ich 1991 anfing, bei Slash Records zu arbeiten, hatte ich Gelegenheit, im Archiv des Slash Magazines zu wühlen, und ich dachte: Hey, ich könnte ein komplettes USA-Coast-to-Coast-Buch machen, statt nur über Kalifornien. Der Erste, den wir, also mein Co-Autor Chris T. Miller und ich, fragten, war Henry Rollins. Er interessierte sich aber nicht sonderlich für das Buch. Das konnte uns natürlich nicht aufhalten, ich schätze sogar, das hat uns eher noch mehr motiviert. Wir starteten dann mit Joey Shithead von D.O.A. und kontaktierten so ungefähr 200 Menschen, um sie nach ihren Sammlungen und Geschichten zu fragen. Nachdem wir ein Jahr lang gesammelt hatten, war die Zeit reif für ein Treffen mit dem Verlag Gingko Press und sie waren gleich bereit, das Buch zu veröffentlichen. Ich denke, sie waren schlicht überwältigt von der riesigen Menge an Material, das wir zusammengetragen hatten. Ich erinnere mich, dass der Lektor meinte: „Ich habe keine Ahnung, was das alles bedeutet, aber es fühlt sich wichtig an.“ Wir waren also im Rennen. Wir haben dann das gesamte Buch mit ein wenig Hilfe von Freunden selbst gestaltet.
Was bedeutet der Name Kill Your Idols für dich? Irgendwie machst du ja genau das Gegenteil ...
Wir gründeten Kill Your Idols als Verlag mit „Fucked Up + Photocopied“ als erster Veröffentlichung. Wir handhabten unseren Verlags-Deal genauso wie ein unabhängiges Plattenlabel: KYI ist Verlag und Eigentümer, Gingko Press Produzent und Vertrieb. Es kostet uns zwar etwas, aber dafür liegen alle Rechte bei uns. KYI hat seitdem über zwanzig Bücher herausgebracht, sowohl komplett independent als auch zusammen mit anderen Vertrieben. Den Namen Kill Your Idols haben wir bei einem SONIC YOUTH-Song entlehnt. Er schien uns zu unserer Firmenphilosophie zu passen. Der Grundsatz war, sowohl die Kunst für sich genommen als auch den Geist des Punk zu feiern und zugleich jeder Form von von Heldenverehrung und Nostalgie eine Absage zu erteilen.
Es gibt Leute, die deine „Mission“ sehr zu schätzen wissen – was genau ist deine Mission?
Mein Wunsch ist es, all die kleinen, raren, verlorenen oder vergessenen Eintagsfliegen einzusammeln, aus allen Ecken der Erde, die die weltweite Punkrock-Szene repräsentieren. Ich will den echten Geist des D.I.Y.-Gedankens einfangen, nach dem Motto „Mach es einfach, frag nicht um Erlaubnis“. Schlussendlich will ich alles an einem Ort vereinen, wie in einer Bibliothek ... aber niemals hinter Glas. Immer verfügbar, um sie anzufassen, zu kopieren, zu stehlen.
Wie politisch bist du? Deine Bücher sind immer so essentiell, so ästhetisch überwältigend. Gibt es auch eine politische Komponente?
Ich würde mich als politische Person bezeichnen, obwohl ich es nie mochte, meine politischen Ansichten mit meiner Kunst zu verbinden. Ich bevorzuge eher menschliche Belange, wenn es darum geht, meine Überzeugungen in meiner Kunst oder Musik zu predigen.
Du begeisterst dich offensichtlich sehr für den grafischen Aspekt von Punk – in den verschiedensten Formen. Wie sieht es aus mit der inhaltlichen Komponente, also den Texten? Hast du jemals daran gedacht, in dieser Richtung etwas herauszubringen?
Ich freue mich sehr, wenn ich politischen Aktivisten eine Stimme geben kann. Falls ich mich mit politisch motivierten Gruppen identifizieren kann, wie den AdBusters oder Bands wie CRASS und CRUCIFIX, dann liebe ich es, sie so prominent zu platzieren, dass sie ihre Botschaft verbreiten können. Mir selbst liegt eine derartig kompromisslose Haltung nicht wirklich. Man könnte sagen, ich bin lieber Verleger als Journalist.
In deinen Büchern laufen zwei Linien an einem bestimmten Punkt zusammen, auf der einen Seite ist da das Bewusstsein der Straße und auf der anderen ... die Kunst. Mich würde interessieren, ob du diese beiden Bereiche als zwangsläufig miteinander verbunden betrachtest, oder willst du wirklich nur die ästhetische Seite präsentieren als etwas Unabhängiges und Eigenständiges?
Je mehr ich als Verleger tätig bin, desto wichtiger werden die Texte und Geschichten für mich. Ich denke, es könnte mir gefallen, von der Agitation mit grafischen Mitteln zum literarischen Angriff zu wechseln durch das Veröffentlichen von Romanen und Kurzgeschichten von Autoren, die aus unserer Szene stammen. Ich habe gerade erst versucht, ein Buch von Jesse Michaels von OPERATION IVY herauszubringen, und habe auch einen langen Artikel für ein französisches Magazin geschrieben über Raymond Pettibon. Ich will in dieser Richtung weitermachen. Meine erste offizielle Veröffentlichung wird ein Sammelband sein mit allen Geschichten aus „Fucked Up & Photocopied“ und „Punk Is Dead Punk Is Everything“ als Taschenbuch.
Wie möchtest du, dass die Leute Kill Your Idols sehen?
Ich hoffe, die Leute haben den Eindruck, es sei irgendwie gefährlich, dennoch ein Hort der Wahrheit, Leidenschaft und Hoffnung. Die meisten Dinge in meinem Leben sind eine Herzensangelegenheit. Ich möchte dieses Gefühl erzeugen, das du hast, wenn dir auf der Straße eine Horde Hells Angels entgegenkommt. Das spürst die Gefahr, andererseits denkst du aber auch: Wow! Furcht und Nervosität verbinden sich mit dem drängenden Bedürfnis, weiter hinsehen zu müssen – vielleicht sogar mit dem Verlangen, mehr darüber herausfinden zu wollen. Mir ging es so mit Punkrock. Ich kann nur hoffen, dass sich ein wenig davon vielleicht auf andere überträgt.
Wie definierst du Erfolg?
Glück und Zufriedenheit. Wenn du zur Ruhe kommen kannst, tief einatmen, ohne ein Gefühl von Reue zu haben. Ich war immer in der Lage, eine Zukunft für mich zu sehen. Wobei es immer darauf ankam, wie glücklich ich damit bin, was ich tue, und zwar ganz gleich, wie viel Geld ich damit verdiene. Es heißt ja: Mach, was du machst, und das Geld wird schon kommen. Darauf vertraue ich und es kam auch immer welches rein – solange ich nicht von meinem Weg abgewichen bin.
Gibt es irgendwas außerhalb der Musik, das dich inspiriert bei dem, was du mit Musik machst?
Ja, natürlich. Ich werde sehr durch negative Dinge motiviert, mit denen ich konfrontiert werde. Ich weiß, das klingt etwas komisch. Ich meine damit, dass wenn jemand zu mir sagt, ich könne dieses oder jenes nicht tun, oder irgendwelche Zweifel an mir äußert oder mir Steine in den Weg gelegt werden, dann treibt mich das an. Ich liebe Herausforderungen. Ich liebe es, Schlechtes in einen Kampf für das Gute zu verwandeln – auch in der Kunst. Kunst ist Leben, Leben ist Kunst, blabla. Als ich an „Punk Is Dead Punk Is Everything“ arbeitete, ging mein Computer kaputt. Zwei Jahre Arbeit an dem Buch waren mit einem Schlag verloren. Die absolute Katastrophe. Aber Wayne Kramer von MC5 erklärte mir, dass es ein Segen sei, diese Hürde zu nehmen und das Buch dadurch sogar noch besser zu machen. Ich bin jetzt sehr stolz auf das Ergebnis. Und meine Familie hielt mich sogar noch für einen Versager, als meine Band im Fernsehen zu sehen war, und war überzeugt, ich würde es nie zu irgendwas bringen. Das brachte mich dazu, es weiter zu bringen – das ist die Mission meines Lebens. Ich habe vor, so viele Kunstdisziplinen wie möglich in meinem Leben auszuprobieren. Bis jetzt habe ich viele studiert und einige praktiziert, mittlerweile werde ich in ein paar halbwegs gut. Alle künstlerischen Herausforderungen, die ich gerade erst angehe, sind genauso eine Inspiration wie die, mit denen ich mich seit Jahren beschäftige. Das Neue an etwas, diese Hoffnung und dann die Magie – das gibt es gewöhnlich nur am Anfang. Ich werde den Rest meines Lebens damit verbringen, dieser Magie hinterher zu jagen. Letztlich motiviert mich die Möglichkeit, mich kreativ auszudrücken, am meisten. Ich bin sehr glücklich, dass ich damit meinen Lebensunterhalt unter diesen Voraussetzungen bestreiten kann.
Als exponierter Vertreter der Punk-Kultur, wie definierst du Kultur?
Kultur ist direkt mit Leidenschaft verbunden. Launen und Trends betrachte ich nicht als Teil unserer wahren Kultur. Kultur braucht eine Geschichte und Zeit, um sich setzen zu können.
Wie steht es mit Musik? Was hörst du aktuell?
Ich mag DESTRUCTION UNIT, Ty Segall, THE FUZZ, X CULT, HOAX, C.R.A.S.H., SSLEEPER HOLD und THE SHRINE. Alles ganz unterschiedliches Zeug, ha!
Als du „Fucked Up & Photocopied“ und „Punk Is Dead Punk Is Everything“ gemacht hast, gab es da irgendwelche Widerstände von irgendeiner Seite?
Es gab ein wenig Schelte von der Presse, dass ich meiner eigenen Band,THE DRAB, sehr viel Platz eingeräumt habe. Aber das ist mir scheißegal! Hey, es ist nunmal meine Band und mein Buch! Ich kann da machen, was immer ich will. Ich vermute mal, einige Leute hätten stattdessen lieber mehr von LOS OLVIDADOS oder THE STIFFS im Buch gehabt. Das hat mich aber nie gejuckt. Mach dein eigenes Buch, wenn du alles so haben willst, wie es dir gefällt. Das Maximumrocknroll hat sich auch etwas aufgeregt wegen des Titels „Punk Is Dead ...“, sie haben mich sogar bei einer Signierstunde in Frisco zur Rede gestellt, ich meinte zu ihnen, sie sollen mal den ganzen Titel lesen: „Punk Is Everything“! 1980 ist lange vorbei, Punkrock ist aufgegangen in Crust-Punk, Peace-Punk, Skinhead, Skate-Punk, was auch immer. Das war schon verrückt. Aber guck dich doch mal um: Punk ist überall! Er ist um uns herum, in allen Teilen der Welt. Mir gefällt die Metapher vom Phoenix. Fackel das Ding ab, dann kann es aus der Asche wieder neu erstehen, schöner und stärker als je zuvor. Tja, und beim Punk Planet Mag hassten sie „Fucked Up & Photocopied“, weil ich nicht jeden Flyer exakt datiert und ihrer Meinung nach auch nicht genug historische Anmerkungen gemacht habe. Für sie hätte es besser wie eine Enzyklopädie aussehen sollen ... Ich glaube, sie waren nur sauer, dass ein dahergelaufener Kerl aus San Jose dieses Buch gemacht hat und nicht eine ihrer L.A.-Szene-Legenden. Was für ein Witz. Mich hat das höchstens angetrieben, noch mehr reinzuhauen und das Buch noch besser zu verkaufen. Es ist im permanenten Bestand der Library of Congress und jetzt in der 13. Auflage! Nett, oder?
Konntest du den Maximumrocknroll-Leuten deine Position klar machen?
Letztlich schon. Ich schätze, einige Leute beim MRR hatten „Punk ist tot“ erst zu wörtlich genommen und gemeint, ich wolle dem Punk im Jahr 2010 seine Existenzberechtigung absprechen. Dabei meinte ich das genaue Gegenteil, als Kompliment an Punk als Gegenkultur, die heute jeden Bereich durchdrungen hat, vielleicht bis hin zum Mainstream.
Worum handelt es sich bei Teenage Teardrops?
Das ist ein unabhängiges Plattenlabel, das Cali DeWitt und ich 2007 gegründet haben. Wir bringen LPs und Singles, Kassetten, Zines, Bücher, T-Shirts und Kunst heraus. Unter anderem NO AGE, LUCKY DRAGONS, John Wiese, Mark McCoy, CRAZY BRAND, DUNES, SUN FOOT und noch einige andere. Wir nähern uns dem fünfzigsten Release. Der kreative Part liegt ganz in den Händen von Cali. Ich kümmere mich darum, dass alles gut läuft und gebe meine Meinung ab, wenn sie gebraucht wird. Aber ich bin sehr stolz auf Teardrops. In Kürze erscheinen ein paar gute Platten von LUCKY DRAGONS, Brendan Fowler und die zweite „Blasting Voice“-Compilation.
Ist die Dokuserie „The Art of Punk“ dein erster Vorstoß in Richtung Film?
Es ist mein erster Versuch, Regie zu führen. Wir haben bisher Beiträge über BLACK FLAG, DEAD KENNEDYS und CRASS gemacht. Mittlerweile arbeiten wir an vier neuen Episoden und es gibt noch eine Haufen Ideen. Für mich ist das eine natürliche Entwicklung. Die nächsten Folgen werden von den SEX PISTOLS, MISFITS, SUICIDAL TENDENCIES und den SCREAMERS handeln.
Es ist großartig, dass du in der Position bist, Menschen auf das aufmerksam zu machen, was im Verborgenen blüht, und auf der anderen Seite die Leistung einzelner Musiker oder Bands zu archivieren, damit sie ihren Platz Musikgeschichte finden. Wobei einige jetzt sicher anmerken würden, dass damit auch große Verantwortung einhergeht. Aber welche anderen Bereiche der Medien, die von Punk beeinflusst wurden, würdest du gerne noch mehr erforschen?
Ich spüre eine große Verantwortung, die Fackel des Punkrock noch weiterzutragen, als ich es bisher getan habe. Ich will längere Dokumentationen anbieten, gescriptete Filme, mehr Bücher sowieso, Kunst- und Museumsausstellungen. Außerdem eine Art Punk-Bibliothek, wo all das, was ich gesammelt habe, für jedermann zugänglich ausgestellt wird. Abgesehen von den Songs – die großartig sind! –, waren im Punk auch die Kunst und der Look immer wieder neu und aktuell. Wie ein böses Gift, das in alles einsickert. Ich bin sehr glücklich, dass ich das alles gelebt habe.
Inwiefern hat dich die Arbeit verändert?
Irgendwie wird sie mich verändert haben, aber es fällt mir schwer zu sagen, wie genau. Das ist wie mit dem Huhn und dem Ei ... was kam zuerst? Ich glaube, ich bin ein besserer Mensch als der, der ich war, als ich jünger gewesen bin. Ich habe mehr zu geben, habe klarere Gedanken und agiere auch dementsprechend. Als ich 18 war, wollte ich professioneller Musiker werden und es bis zu meinem Lebensende bleiben. Ein paar Jahre später, als ich als Tourmusiker mit den BLACK MARKET FLOWERS unterwegs war, fing ich an, mich verstärkt für die geschäftliche Seite der Musikindustrie zu interessieren. Ich übernahm mehr die Kontrolle über Coverartwork, Tourpläne und Presseveröffentlichungen. Ich machte mir also die andere Seite der Medaille immer bewusster. Diese Seite und die künstlerische ... ich dachte, ich könnte beide bewältigen und dass nur ich wüsste, was aus der Künstlersicht Sinn ergibt und wie ich meine Ziele zeitgleich in geschäftlicher Hinsicht am erfolgreichsten umsetzen könne. Ich hatte nie den Gedanken, dass andere Leute etwas für die Band tun sollten und ich habe mich auch nie dafür interessiert, was irgendwelche Business-Menschen über unsere musikalische Ausrichtung gesagt haben. Ich bin immer noch derselbe in dieser Hinsicht, aber heute bin ich in der Lage, eine organisatorischen Rahmen zu schaffen, noch bevor der kreative Part beginnt. Mich interessiert die Kunst-versus-Kommerz-Frage grundsätzlich. Früher hätte ich das nicht gedacht. Ich hätte gesagt, traue niemandem über dreißig! Mittlerweile bin ich vierzig ... Also, um deine Frage zu beantworten: Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob ich mich durch meine Arbeit verändert habe, oder ob es die Kunst ist, die ich mache, wodurch der Arbeitsanteil noch erfolgreicher wird. Seele und solide künstlerische Integrität müssen zuerst vorhanden sein – andernfalls geht die Arbeit sowieso in die Hose. Aber es kostet dich heftiges Wegegeld, wenn du erst mal realisierst, wie viel Arbeit es ist, diesen Felsbrocken, der deine Kunst ist, solche hohe Hügel hochzubekommen. Vom Gefühl her bin ich immer noch derselbe, aber ich schätze schon, dass ich mich verändert habe. Hoffentlich zum Positiven, aber wer weiß?
Du hast auch Ruby Records wiederbelebt, oder?
Richtig. Auch wenn ich nicht die Rechte am Originalkatalog besitze, habe ich das Label neu gestartet, und mir gehört die original Slash Records/Ruby Records PO Box in LA: PO BOX 48888 LA 90048. Und ich habe dort weitermacht, wo die letzte Ruby-Katalognummer endete. Ruby war so krass! Ich habe das Faust-Logo überarbeitet. Da wo früher „RUBY“ auf die Finger tätowiert war, steht jetzt „PUNX“. Das ist nur eine kleine Veränderung, respektvoll, um Vergangenheit und Gegenwart anzuerkennen. THE DREAM SYNDICATE, THE GUN CLUB, MISFITS, SWEET BABY, BLURT, THE FLESH EATERS, Lydia Lunch und FIELD TRIP waren alle auf Ruby. Ich hoffe, das Label im Geist des Originals am Leben halten zu können. Bei Ruby/Slash zu arbeiten war ein sehr wichtiger Teil meines Lebens. Ich habe dort in der Poststelle angefangen und wurde irgendwann Geschäftsführer. Bevor das Label verkauft wurde, war ich bereits Slash-Geschäftsführer für die Westküste. Das war ein super Job, macht sich gut im Lebenslauf, haha! Mein Büro war da, wo früher Claude Besseys Office war. Slash blieb immer in denselben Räumlichkeiten, die ganze Zeit. Es ist nur einen Block von meinem Studio auf dem Beverly Boulevard entfernt. Auch das Magazin, das es vor dem Label gab, kam von dort. Die Arbeit hat mir gezeigt, das Kunst und Kommerz durchaus gut miteinander harmonieren können. Meine Musikfirma Beta Patrol und auch Kill Your Idols Books sind ziemlich nach dem Slash-Geschäftsmodell aufgezogen.
Wie genau sieht dieses Businessmodell aus?
Egal, um welche meiner Firmen es geht: Wir haben uns entschieden, all diese üblichen Fallen, die ein kreatives Geschäft behindern, zu umgehen. Es gibt keine Egos, keine Macht, keine straffe Unternehmensstruktur, keine Hierarchie. Es gibt keinen Dresscode, keine Stechuhren und solange der Job erledigt wird, wird er so erledigt, wie sich jeder damit wohl fühlt. Es geht nicht nur um das Wohlbefinden der Bosse. Wir sind sehr demokratisch, jeder in der Firma hat eine Stimme, wenn es um die Belange des Betriebs geht. Wir fördern lieber die eigenen Leute, als ausführende Kräfte von außerhalb anzuwerben. Außerdem fördern wir alle kreativen Bemühungen, die unsere Angestellten haben, egal, ob es eine Band, Schauspielerei oder was auch immer ist. Wir räumen jedem Zeit für Auftritte oder zum Touren ein. Wir teilen uns alle sowohl die größte als auch die kleinste Verantwortung. Mag sein, dass ich als Kreativchef wahrgenommen werde, aber ich mache auch den Abwasch und bringe den Müll raus. Beim heutigen Stand der Technik gibt es eigentlich keinen Grund mehr, warum man nicht von zu Hause aus arbeiten kann oder auch in einem anderen Land. Wir nehmen das Ego aus der Gleichung heraus und sprechen immer demjenigen Anerkennung und Verdienst aus, der etwas geleistet hat. Loyalität bedeutet, viel Freiheit und einen Sinn für Sicherheit und Vertrauen zu haben. All das lernte ich in meinen Jahren bei Slash.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #115 August/September 2014 und Jason Honea