BRENDAN KELLY

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Ein schräger Wandervogel

Ganz unbekannt ist der smarte Herr Kelly aus Chicago nicht. Unter anderem stellt er zusammen mit LAWRENCE ARMS einen der interessantesten Acts des Fat-Wreck-Imperiums, ist nebenbei mit befreundeten Musikern aktiv (zum Beispiel THE FALCON) und äußert sich auf seinem Weblog „Bad Sandwich Chronicles“ in der gleichen bissigen Art, wie man es von LAWRENCE ARMS und seinem Soloprojekt WANDERING BIRDS kennt. Als Solokünstler debütierte Kelly zwar bereits 2010 („Wasted Potential“), sein aktueller Tonträger, „I’d Rather Die Than Live Forever“ besitzt im Gegensatz zur Mehrzahl ähnlicher Projekte aber vor allem eines: Charakter. Anstatt Laut gegen Leise einzutauschen und im Schatten von Dylan und Co. zu verblassen, besinnt sich Kelly lieber auf die Grundwerte von Punk und Rock’n’Roll: „Alles ist möglich!“ und „Lass doch die anderen denken, was sie wollen. Ich mache mein Ding!“ Zusammen mit einer bunten Truppe an Kreativen, Künstlern und Musikern wildert er dabei unverschämt in sämtlichen Genreschubladen, ohne Kurzweil und Eingängigkeit zu vergessen. Das sticht heraus und gefällt. Und weil es immer auch anders geht, war Kelly zusammen mit seinem Kumpel Dan Adriano (ALKALINE TRIO) kürzlich auf Europatour – mit dem Zug! „Entweder wird es ein großes Abenteuer oder ein komplettes Desaster“, meinte Brendan im Vorfeld dazu und gab mir damit gleich die Steilvorlage für das längst überfällige Interview.

Wie war er nun, dein Europa-Trip? Das erwartete Abenteuer, gab es verrückte oder besondere Situationen?


Hey, der war super! Dan und ich sind schon ewig dicke Freunde, also lief das wunderbar entspannt mit uns. Wir nahmen jeden Zug, den wir bekommen konnten, haha. Ein Trip war aber wirklich besonders: Die Fahrt von Berlin nach Wien. Die Fahrt sollte eigentlich maximal zehn Stunden dauern und wir wollten noch vor Öffnung des Clubs eintreffen. Nun, es kam anders, denn irgendwer sprang direkt vor den Zug, um sich das Leben zu nehmen! Also saßen wir über vier Stunden in der Pampa fest, die Klimaanlage fiel aus, der Speisewagen hatte nichts mehr im Angebot und wir konnten nichts anderes machen, als da zu sitzen und uns zu betrinken. Als wir dann irgendwann ankamen, viel zu spät, waren Dan und ich total besoffen und das Publikum musste über zwei Stunden warten, bis überhaupt irgendetwas passierte. Wir waren da nämlich die einzigen Musiker des Abends. Wir gingen also rein in den Club und ich lief direkt vom Eingang zur Bühne, steckte die Kabel rein und legte los. Glücklicherweise wurde es eine wirklich coole Show, aber es war auch einer der längsten Tage, die ich jemals erlebt habe. Auf meinem Blog habe ich übrigens jeden einzelnen Tag der Tour ausführlich beschrieben. Also, schaut mal rein.

Das klingt nach einer Wiederholung. Oder das nächste Mal doch eher mit kompletter Band?

Hm, ich war so oft mit „kompletten“ Bands unterwegs, ich mache das jetzt fast 20 Jahre. Ich war aber immer nur als Teil einer Band auf Tour, nie als Brendan Kelly, daher die Entscheidung für den Trip mit Dan, der wirklich super und intensiv war. Ich war bis dahin nie solo auf Tour und habe jetzt das Gefühl, dass ich wohl in Zukunft noch mehr auf diese Art machen werde. Ich hatte eine so großartige Zeit, da will man mehr, klar. Und Dan ist der perfekte Partner für solche Abenteuer.

Brendan, warum der Name WANDERING BIRDS und warum auch noch Lady Gaga?

THE WANDERING BIRDS ist meine zeitgemäße und persönliche Referenz an die einstigen Wandervögel. Und Lady Gaga ist schlicht großartig. Darum!

Mrs. Gaga ist schon ein schriller Vogel. Ich finde trotzdem, dass „unsere“ Nina Hagen eigentlich schon alles zum Thema „being gaga“ gesagt und getan hat. Du kennst sie, oder?

Yeah, selbstverständlich, wer nicht? Sie ist wirklich cool, absolut! Das ändert aber nichts daran, dass ich Lady Gaga mindestens genauso mag. Sie ist halt „aktueller“, und spätestens seit ihrem Auftritt im „Meat Suite“ genauso verrückt und kontrovers. Das gefällt mir!

Aus der Vielzahl von Soloprojekten altersmilder Punkrocker sticht deines zweifelsohne heraus. War dir beim Komponieren und Aufnehmen ein bewusstes Abheben von anderen wichtig, oder ist die musikalische Vielfalt schlicht das Ergebnis, des Projektcharakters der Birds?

Nun, ich wollte etwas machen, das sich komplett von den Dingen unterscheidet, die ich bisher gemacht habe. Und ich wollte das Album generell so unberechenbar und unvorhersehbar, wie irgend möglich haben. Es ist dann auch herrlich schräg geworden, worüber ich absolut glücklich bin.

Die WANDERING BIRDS – auf Deutsch „Wandervögel“ – sind ja schon vom Namen her wenig statisch. Umgemünzt auf die personelle Zusammensetzung der Band gehe ich davon aus, dass die Band auf kommenden Veröffentlichungen sicher eine andere ist, richtig?

Ja, das ist eine absolut elegante und richtige Vermutung. Ich werde in jedem Fall weiter mit Nick Martin zusammenarbeiten, der neben mir den größten songwriterischen Anteil am aktuellen Album hatte. Aber darüber hinaus wird sich die Band wohl nahezu bei jedem neuen Song anders zusammensetzen. Das ist für mich eine nicht zu unterschätzende Verlockung an der „eigenen“ Band, denn so kann ich mir zu jedem Song genau die Leute suchen, die meine Vorstellungen musikalisch am besten umsetzen können. Ich bin absolut begeistert über die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben! Aus diesem Grund heraus ist das Projekt ja auch erst entstanden, ich wollte es einfach mal anders und abwechslungsreicher machen.

Das Punk-Korsett hast du jedenfalls mit „I’d Rather Die Than Live Forever“ unverkrampft abgelegt. Neben der erwähnten Lady dankst du unter anderem auch Billy Ocean und Axl Rose. Kurzum: Was läuft bei dir zu Hause, wessen Musik begeistert dich? Punkrock läuft nicht so oft, oder?

Nicht ganz, ich höre immer noch jede Menge Punkrock zu Hause. Ich mag zum Beispiel die neue Scheibe von TURBONEGRO und diese neue Band aus Chicago namens RATASUCIA. Meine Lieblingsband ist übrigens immer noch PROPAGANDHI. Hank Williams und CHEAP TRICK mag ich auch sehr, und überhaupt alle, die sich nicht scheuen, etwas potenziell Verrücktes und Abgefahrenes auf die Beine zu stellen. SIDEKICKS und MENZINGERS sind zwei gute Punkrock-Bands, die ihr euch merken solltet.

Zu deinen Texten, was sagt dein persönliches Umfeld so dazu? Etwas freakig geht es da ja schon zu.

Die Reaktionen der meisten Leute gehen so etwa in die Richtung: „Wow, verdammt abgefahrene Texte, eh!“ Meine Texte sind meist so „over the top“, dass eigentlich keine Zweifel darüber aufkommen sollten, dass eine gewisse Übertreibung immer im Spiel ist. Wenn ich zum Beispiel darüber singe, eine Frau einfach direkt ins Gesicht zu schlagen, wenn sie sich künstlich aufspielt und denkt, sie wäre etwas Besseres, dann ist das natürlich wesentlich offensiver und verstörender, als wenn ich darüber singen würde, high zu sein, Kinder zu zerstückeln und ihre Überreste in der Sonne liegen zu lassen, um dort vor sich hinzurotten. Das können andere machen, haha. Gut, du merkst, man sollte nicht immer alles so ernst nehmen, wie es scheint. Wir Menschen sind schon irgendwie seltsam.

Freiheit scheint für dich einen besonderen Stellenwert zu besitzen.

Oh, ja, ich denke schon! Freiheit ist eines der größten Geschenke. Nicht mehr in Freiheit leben zu können, ist eines der schlimmsten vorstellbaren Schicksale für mich. Um es etwas krasser zu formulieren: Stell dir vor, dir soll, aus welchem Grund auch immer, eine Hand abgetrennt werden. Einfach so, um deine Freiheit einzuschränken, ohne Gewissen, ohne Reue, weil sich jemand über dich stellt. Ein unerträglicher Gedanke. Es ist für mich persönlich eine große Sache, dass ich wohl schon immer ein regelrechter Verfechter von Freiheit war, ohne mir darüber bewusst zu sein. Aber es fühlt sich richtig an. Es gibt mir das Gefühl, dass ich jemand bin, der einen „korrekten“ Kopf auf seinen Schultern trägt. Und es ist eine Art „anti-murder“. Dafür stehe ich absolut ein und empfinde das als für mich den richtigen – und einzigen – Weg im Leben. Ich verschwende aber nicht allzu viel Zeit darauf, wie ich mich nach außen definieren soll. Peace!

Die Definition von Freiheit, im Zusammenhang mit politischen Systemen, bekommt derzeit ja durch PUSSY RIOT eine neue Dimension. Deine Sicht?

Ja, die ganze Situation um PUSSY RIOT ist absolut beschissen! Was soll ich sonst dazu sagen? Wenn Kunst politische Dissonanzen hervorruft und diese dich geradewegs ins Gefängnis führen, dann läuft wirklich etwas verkehrt. Die globale Unterstützung für die Mädels ist aber indes unglaublich und das ist dann doch irgendwie gut an der ganzen Sache. Trotzdem hilft es den dreien, die ihr Leben wohl für drei Jahre in winzigen Räumen fristen müssen, recht wenig. Sicher wird diese lächerliche Geschichte viele Leute wach rütteln und letztlich die Opposition stärken. Das hoffe ich jedenfalls. Klar, du willst Freiheit. Irgendwann wirst du sie auch bekommen. Ich denke, gerade solche Geschehnisse wie jetzt in Russland machen uns den Wert von Freiheit erst richtig bewusst.

Lass uns zum Abschluss noch wissen, wohin deine musikalische Reise gehen wird.

Ich weiß nicht, ich schwanke ein wenig. Ich möchte wirklich mal wieder ein neues Album mit THE LAWRENCE ARMS und auch mit THE FALCON machen. Ich habe schon eine Menge Songs, die sich dafür eignen würden, haha. Aber ich tendiere eher dazu, lieber noch eine Weile zu warten und die Dinge entspannt zu sehen. Ich will gute, hörenswerte Stücke aufnehmen und niemandem etwas aufzwingen, nur weil es vielleicht mal wieder an der Zeit für ein neues Album wäre.