Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ja irgendwie das Mutterland des Hardcore. Von der ganzen Gründerzeitgeschichte abgesehen sind es auch im Jahr 2015 vor allem Hardcore-Bands aus den USA, die in Deutschland große Clubs füllen. Auch im D.I.Y.-Bereich sind eigentlich fast permanent US-Bands auf Tour. Deutlich seltener schaffen es hingegen deutsche Bands auf die andere Seite des Atlantiks. Wir hatten im Sommer 2015 das große Vergnügen, mit unseren Split-EP-Freunden SANGHARSHA neun Konzerte an der nordamerikanischen Ostküste zu spielen.
23.07.2015
Nach guten sechs Monaten Vorlauf mit beträchtlichem organisatorischen Aufwand stehen wir an einem sonnigen Donnerstagabend endlich am Flughafen Düsseldorf. Die Stimmung ist gut, man ist gespannt. Der Flug mit kurzem Zwischenstopp in London verläuft ereignislos. Nach der Landung steht die erste große Hürde an: die Einreisekontrolle. Wenn du nach elf Stunden Flug zweieinhalb Stunden Schlange stehst, dann endlich fast dran bist, der Typ am Schalter einfach kommentarlos aufsteht und weggeht, nachdem er die Person vor dir abgefertigt hat, und du erst nach zehn Minuten ratlosen Herumstehens an einen anderen Schalter verwiesen wirst, dann bist du in den USA angekommen. Glücklicherweise sind die Einheimischen deutlich gastfreundlicher als die US-Behörden: Kshitiz und Dipesh von SANGHARSHA nehmen uns am Flughafen herzlich in Empfang, nach kurzem Essensstopp mit Willkommensbier geht es dann auch direkt ins Bett, denn am nächsten Tag steht so einiges an.
24.07.2015
Nach zu wenig Schlaf muss nun erst einmal die Tourbackline gecheckt werden, denn aufgrund der strikten Einreisebestimmungen benutzen wir fast das komplette Equipment von SANGHARSHA. Nachdem wir wider Erwarten doch den kompletten Vormittag inklusive diverser Abstecher in Instrumenten- und Elektroläden brauchen, um tourfertig zu werden, sind wir am frühen Nachmittag endlich auf dem Highway in Richtung Portland, Maine. Bei der Fahrt aus New York City fühlt man sich direkt an das Touren in der Heimat erinnert: Stau! So werden aus sechs Stunden Fahrt auch gerne mal neun und als wir am Club ankommen, ist die zweite Band gerade mit ihrem Set durch. Ankommen, Aufbauen, Spielen, mit wenig Schlaf und großem Hunger. Dieser relativ harte Einstand gelingt erstaunlicherweise dank eines unfassbar dankbaren und enthusiastischen Publikums im ordentlich gefüllten Geno’s Rock Club richtig gut!
25.07.2015
Nach Abbau des Schlafdefizits auf der Baustelle eines Proberaumkomplexes trifft es die meisten von uns erst am Morgen des dritten Tages so richtig: Wir touren in den USA! Fuck! Ein ruhiger Mittag am Meer in der idyllischen Landschaft Maines bringt etwas Entspannung, bevor wir zum nächsten Konzert nach New Hampshire aufbrechen. Stau gibt es hier keinen, denn wir bewegen uns immer tiefer ins Hinterland Neuenglands. Das Konzert findet im Nebenraum einer Pizzeria auf einer Stripmall mitten im Wald statt. Einige der vier lokalen Bands karren ihre Backline stilecht auf der offenen Ladefläche ihrer Pick-ups an. Perfekte Umstände für uns als Dorf-Metal-Band! Die in Europa gängigen Schlafplätze für Bands sind in den USA übrigens keinesfalls selbstverständlich. Entsprechend steht nach dem Konzert noch eine Fahrt nach Boston an, wo wir für die nächsten drei Tage in der Wohnung eines Freundes von SANGHARSHA unterkommen.
26.07.2015
Nach Rumhängen in Boston mit Abstechern ins vegane Restaurant Veggie Galaxy und den Armageddon-Plattenladen steht am Abend ein Konzert im nahegelegenen Providence an. Das Aurora ist der schickste Club der ganzen Tour. Am meisten Punk ist die fehlende Toilettentür, ansonsten findet hier wohl eher elektronische Musik statt. Entsprechend gesalzen sind auch die Getränkepreise, was durchaus von Bedeutung ist, denn das in Europa übliche Bandbier findet man in den USA ziemlich selten. Dank des gleichermaßen kompetenten wie gechillten Mischers haben beide Bands auf und vor der Bühne den besten Sound der Tour. Besonders SANGHARSHA sind richtig mächtig! Kuriosität des Abends: Crustie mit riesigem BURZUM-Backpatch auf seiner Kutte. Weitere Aufnäher: WARCOLLAPSE, ASSÜCK, REVERSAL OF MAN, I WANT TO BELIEVE (aus „Akte X“) ... noch Fragen?
27.07.2015
Den Tag verbringen wir ganz entspannt mit BBQ im Hinterhof des neuen SANGHARSHA-Bassisten Kunjan. Abends geht es dann ins nahgelegene Worcester zu unserer ersten Houseshow. Punk-Konzerte in Wohnhäusern sind wohl ein typisches US-Ding, und entsprechend gespannt sind wir auf diese neue Erfahrung. Im Endeffekt ist das Distant Castle aber ein Punkerhaus wie bei uns, in dem man sich direkt heimisch fühlt. Es gab sogar den obligatorischen Riesentopf mit veganem Nudelgericht! Bevor man sich im Suff (BYOB steht übrigens für „bring your own beer“, was die Frage nach den Bandgetränken beantwortet) aus Gewohnheit einen Platz für die Isomatte im Zimmer des Mitbewohners, der gerade nicht da ist, suchen kann, geht die Reise wieder zurück nach Boston. Die nächtliche Fahrt wird wie alle Strecken der Tour souverän von Mountaingod Dipesh gemeistert, der nebenbei auch noch jeden Abend für SANGHARSHA wie ein Irrer auf sein Schlagzeug eindrischt, und das bei über 30 °C mehrere Tage am Stück im selben T-Shirt, ohne dabei zu stinken!
28.07.2015
Heute steht mal wieder eine längere Fahrt an, weswegen wir nach dem Mittagessen in Boston auch pünktlich nach New Jersey aufbrechen. Das Meatlocker in Montclair ist ein wundervoll verranzter Punk-Keller, den man unterhalb einer schicken Restaurantzeile mit französischem Bistro im Leben nicht vermutet hätte. Passenderweise steht auch nach zwei Minuten Einladen auch schon ein Bullen-SUV auf der Matte, der uns anweist, unseren Van schleunigst in Bewegung zu setzen. Eines haben das Fricassee und sein unterirdischer Gegenpart jedoch gemeinsam: man zahlt mit Plastik! Shirt oder Platten mit Kreditkarte zu zahlen ist in den USA auch auf Punk-Konzerten völlig üblich, alle Bands haben die entsprechenden Aufsätze für ihre Smartphones am Start – verbuchen wir das mal unter „kulturelle Unterschiede“. Das eigentliche Konzert ist wegen der unerträglichen Hitze im Keller eine echte Herausforderung! Umso kaputter fallen wir später im SANGHARSHA-Haus in Queens auf die Matratzen.
29.07.2015
Da das heutige Konzert im benachbarten Brooklyn in der legendären Saint Vitus Bar stattfindet, nutzen wir den Tag zum Sightseeing und Einkaufen in New York City. Für SANGHARSHA ist der heutige Abend ein Heimspiel und außerdem die Release-Party unserer gemeinsamen Split-LP. Entsprechend sind etliche Freunde und Familienmitglieder der Nepalesen anwesend. Sänger Yogens Mama löst später mit ihrer Bitte um ein Erinnerungsfoto sogar einen epischen Crewshot aus. Für uns ist das in Brooklyn musikalisch das beste Konzert der Tour, welches Thorsten vom Blog (((unartig))) glücklicherweise in voller Länge auf Video dokumentiert und auch auf YouTube stellt. Einen großen Anteil daran hat auch Soundmensch Nick! Dieser ist übrigens auch Bassist bei MUTOID MAN und lädt uns direkt ein, bei dem Kölner Konzert ihrer Europatour im Oktober mitzuspielen. Ein perfekter Abend also! Es gibt sogar zwei Freigetränke pro Person, was für amerikanische Verhältnisse richtig großzügig ist ... besonders, wenn ein Glas der Billigplörre vom Fass sechs Dollar kostet.
30.07.2015
Am nächsten Mittag brechen wir bester Laune zum südlichen Teil der Tour auf. Nach dem grünen, liberalen Neuengland mit Bioläden und Backsteinhäusern und dem urbanen, multikulturellen New York, wo man auch um drei Uhr nachts noch ohne Probleme Streetfood unterschiedlichster Herkunft bekommt, führt unsere Reise nun nach Virginia. Ein höchst cholesterinhaltiges Mittagessen in einem klassischen Autobahnraststätten-Diner darf da natürlich nicht fehlen. Das Konzert in Harrisonburg findet im Keller eines Restaurants statt und ist in jeglicher Hinsicht ein voller Erfolg! Publikum toll, Sound toll, außerdem gibt es erstmals gleichzeitig Bandessen, Bandbier und Pennplätze bei Veranstalter Praveen. Letztere nehmen wir dank der heftigen Aftershowparty eher spät in Anspruch.
31.07.2015
Da wir heute nur eine sehr kurze Fahrt vor uns haben, verbringen wir den Tag in Harrisonburg. Nach großartigem Frühstück im Haus von Parveens Freundin entspannen wir beim Schwimmen in einem kleinen Fluss im nahegelegenen Wald. Erst am späten Nachmittag geht es weiter nach Annandale, einen Vorort von Washington DC, wo wieder eine Houseshow ansteht. Der Name Cellar Door bezieht sich auf die Metallluke, durch die wir unsere Instrumente in den Keller eines ganz normalen Einfamilienhauses in durchaus netter Nachbarschaft schleppen. Der Konzertraum ist gute zehn Quadratmeter groß und circa zehn Zentimeter niedriger als unser Bassist Daniel groß. Anfängliche Zweifel, wie denn hier überhaupt noch jemand außer uns reinpassen soll, werden komplett zerstreut, denn wir spielen eine der persönlichsten und coolsten Shows der ganzen Tour vor einem kleinen, aber sehr enthusiastischen Publikum. Allerdings war das wohl auch das letzte Konzert im Cellar Door, denn die Veranstalter Jay und Ingrid ziehen bald gezwungenermaßen aus.
01.08.2015
Glücklicherweise haben wir auch heute keine weite Strecke vor uns und können uns somit Zeit nehmen, in Washington, D.C. diverse Monumente und Plattenläden zu besichtigen. Am Abend spielen wir in Baltimore in der legendären Sidebar. Vom Image Baltimores als Kriminalitätshochburg merkt man hier wenig, zumal die Bar auch mitten im Stadtzentrum, direkt neben dem Rathaus, gelegen ist. Die letzte Show der Tour ist eine sehr sentimentale Angelegenheit, denn man ist einander in den vergangenen Tagen wirklich ans Herz gewachsen. Entsprechend spielen SANGHARSHA in BLANK-Shirts und wir in SANGHARSHA-Shirts. Im Anschluss wird im Haus des Barbesitzers der Abschied gefeiert, in einigen Fällen sogar bis zum Umfallen.
02.08.2015
Noch fertig vom Vorabend macht man sich am nächsten Morgen viel zu früh auf den Rückweg nach New York. Nach dem üblichen Stau muss noch die Backline in den Proberaum geladen werden, dann geht es auch schon mit gepackten Koffern zum Flughafen. Der Abschied von SANGHARSHA ist wirklich herzlich! Die vier Nepalesen und ihre Freunde haben uns mit einer unglaublichen Gastfreundschaft empfangen und elf Tage lang rundum versorgt. Wir hoffen wirklich sehr, dass wir uns irgendwann einmal auf europäischem Boden dafür revanchieren können! Dem Großteil unserer Reisegruppe wird der Rückflug noch durch eine Verspätung, einen verpassten Anschlussflug und sieben Stunden Aufenthalt in London versüßt, aber ein Pub und eine Bank zum Dösen vor dem Buckingham Palace finden sich immer.
Flo Blank
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #103 August/September 2012 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #85 August/September 2009 und Stephan Zahni Müller
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© by Ox-Fanzine - Ausgabe #139 August/September 2018 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #115 August/September 2014 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #112 Februar/März 2014 und Joachim Hiller