BLACK FLAG

Foto

Stevie Chick und sein Buch über die legendäre Band

Wollte man sich bislang in Buchform mit BLACK FLAG beschäftigen, blieb nur Michael Azzerads „Our Band Could Be Your Life“, das die 1976 in Hermosa Beach gegründete Band um SST-Labelboss Greg Ginn im Kontext von Freunden und Zeitgenossen wie MINUTEMEN, HÜSKER DÜ, MINOR THREAT, DINOSAUR JR und SONIC YOUTH abhandelt, sowie „American Hardcore“. Der Musikjournalist Stevie Chick, der zu jung ist, um die 1986 aufgelöste Band aktiv begleitet zu haben, hat sich nach seiner SONIC YOUTH-Biografie „Psychic Confusion“ in den Jahren 2008 und 2009 ausgiebig mit dem Phänomen BLACK FLAG auseinandergesetzt und aus seinen Recherchen und Interviews ein über 400 Seiten dickes Monstrum mit dem Titel „Spray Paint The Walls“ geschaffen. Chicks konnte dabei in vielen Fällen auf eigene Interviews zurückgreifen, oft zitiert er aber auch aus Interviews anderer, da wohl nicht jeder der damals Beteiligten übermäßig auskunftsfreudig war. Chicks Verdienst ist es, einerseits BLACK FLAG in ihrer Rolle als Pioniere und Stilikonen zu würdigen, andererseits aber auch Konflikte und Widersprüche aufzuzeigen. Da Henry Rollins in Interviews nicht mehr über jene Zeit redet und Greg Ginn auch alles andere als gesprächsbereit ist, bot es sich an, mit Stevie Chick über das spannende Thema BLACK FLAG zu reden.

Stevie, bitte stell dich vor.

Ich bin 34, arbeite die meiste Zeit als freier Musikjournalist und bin nebenher auch noch Dozent. Mein Lieblingshaustier ist mein alter Kater Mr. Chang, und meine erste Punk-Platte war „Nevermind“ von NIRVANA. Falls das nicht zählen sollte, war es „Land Speed Record“ von HÜSKER DÜ – die habe ich kurz danach gekauft, nachdem Krist Novoselic sie als wichtigen Einfluss genannt hat. Und was meine Interessen außerhalb der Musik anbelangt, so sind die nicht der Rede wert.

Wie kommt man auf die Idee, ein Buch über BLACK FLAG zu schreiben?

Die Idee dazu ergab sich in einem Gespräch mit meinem Verleger von Omnibus Press, und irgendwie machte sie absolut Sinn. Ich liebe BLACK FLAG, seit ich sie in meinen Teenagerjahren entdeckt habe und nicht nur ihren D.I.Y.-Ethos bewunderte, sondern auch die direkte, unglaublich Wildheit ihrer Musik – was ja immer wieder erwähnt wird –, sondern auch ihre Weiterentwicklung im Laufe ihrer Karriere. Ich fand, dass gerade letzterem Aspekt bislang nicht genug auf den Grund gegangen wurde. Mir war klar, dass die Geschichte dieser Band eine richtig gute Story abgibt, denn ich hatte schon in einem Alter, in dem man noch sehr beeinflussbar ist, Henry Rollins’ Tourtagebuch „Get In The Van“ gelesen, aber ich wusste auch, dass da auch noch sehr viel ist, was ich von der Band nicht weiß, dass da Aspekte sind, die bislang niemand ergründet hat, Geschichten über die Anfangsphase und die Geheimnisse ihre regelmäßigen Umbesetzungen betreffend. Und ich fragte mich, wie diese Musiker, die unter so extremem Druck standen und so gut wie kein Geld hatten, nicht nur die mit wichtigste und kraftvollste Musik der Hardcore-Szene hervorbringen konnten, sondern es auch noch schafften, mit SST ein Plattenlabel zu gründen und am Laufen zu halten, das zu einem guten Teil die Underground-Szene der Achtziger prägte. Mir war klar: Wenn ich darauf neugierig bin, das alles zu ergründen, dann sind es meine potenziellen Leser da draußen auch.

Wie geht man an so ein umfangreiches Projekt heran? Wo fängt man an, mit wem redet man, und wie bringt man die Leute zum Reden?

Ich wollte niemanden zum Reden bringen müssen, und in der Praxis musste ich das auch nicht. Die Recherchen für das Buch bedeuteten, mit möglichst vielen Leuten Kontakt aufzunehmen, die jemals irgendwas mit der Band zu tun hatten, doch dank des wundervollen Werkzeuges Internet war das zu bewältigen. Natürlich gab es Leute, die unauffindbar blieben, und andere konnte ich zwar aufstöbern, aber sie antworteten nicht, und andere antworteten zwar, meldeten sich aber nicht mehr, als ich dann das Interview führen wollte. Das überraschte mich aber nicht, denn ich hatte schnell gemerkt, wie traumatisch die BLACK FLAG-Jahre für viele der Beteiligten gewesen waren. Die aber, die antworteten, taten das, weil sie ihre Geschichten mit jemandem teilen wollten. Denen war wichtig, dass diese Geschichten nicht verloren gehen, und sie teilten meine Überzeugung, dass das damals eine sehr prägende Zeit für die Musik und Jugendkultur war, die es einerseits zu untersuchen wie auch zu feiern gilt. Und jene, die mit mir redeten, verschafften mir Zugang zu anderen Zeitzeugen, die auch reden wollten, und ab da hatte das einen Lawineneffekt. Ich muss aber auch sagen, dass ich nicht mit jedem sprechen konnte, den ich sprechen wollte, und andererseits redeten Leute, von denen ich das nicht erwartet hätte: Ex-Frontmann Ron Reyes etwa, der lange nicht über seine Zeit bei BLACK FLAG geredet hatte und jetzt überglücklich war, da ein paar Dinge klarstellen zu können und seine Erinnerungen mit anderen zu teilen.

Was war dein erster Kontakt mit der Musik von BLACK FLAG?

Das war das „Damaged“-Album, das ich mir kurz nach NIRVANAs „Nevermind“ kaufte. Damals, Anfang der Neunziger, offenbarte sich der ganze prähistorische US-Punkrock einer ganz neuen Generation, die diesen Sound für sich entdeckte. Diese Musik war düsterer, heavier, beängstigender und kraftvoller als alles, was ich bislang gehört hatte. Als Nächstes kaufte ich dann die „Wasted ... Again“-Compilation, und ich weiß noch genau, wie entsetzt meine Großmutter war, als sie den Text von „Wasted“ aufschnappte.

Was aber macht BLACK FLAG zu einer so besonderen Band, dass du bereit warst, der Arbeit an einem Buch über sie anderthalb Jahre deines Lebens zu widmen?

Vor allem natürlich ihre Musik, die ich für großartig halte. Und dann ihre Geschichte – ein fantastisches Märchen, das zu erzählen sehr spannend war. Dass ich bereit war, dieser Sache 18 Monate meines Lebens zu widmen, ergab sich aus meiner Erkenntnis, wie wichtig die Geschichte dieser Band war und wie leidenschaftlich die Erinnerungen der damals Beteiligten bis heute sind. Es war für mich wirklich eine Ehre, mit jemandem wie Chuck Dukowski über seine Zeit in der Band sprechen zu können. Ich empfand es als Privileg, dieses Buch schreiben zu dürfen, und so wollte ich das bestmögliche Ergebnis erzielen und versuchen, allen Geschichten, die man mir erzählte, gerecht zu werden. Ich hoffe, das ist mir gelungen.

Du bist Engländer und Mitte 30. Empfandest du es als Nachteil, aus einem anderen Land, einer anderen Szene und Generation zu stammen als jemand, der heute Mitte 40 ist, in L.A. aufwuchs und all die Bands, um die es in dem Buch neben BLACK FLAG noch geht, selbst live gesehen hat? Oder verschaffte dir das erst eine Distanz, die auch hilfreich sein kann?

Ein Autor, der damals selbst mit dabei war, hat sicher einen anderen Blick, das ist klar. Als „Außenseiter“ hatte ich aber auch die nötige Distanz, um die Geschichte mit der angemessenen Objektivität zu erzählen. Das halte ich für wichtig, denn BLACK FLAG ist ein Thema, bei dem es sehr viele unklare Punkte und vage Vermutungen gab und gibt. Außerdem hatte ich das Gefühl, das Schreiben des Buches könne zu einer interessanten „Entdeckungsreise“ werden – das kann es nur sein für jemanden, der damals nicht dabei war – und dass das wiederum die Chance bietet, Erkenntnisse zu gewinnen, die man nicht gewinnt, wenn man selbst dabei war und sich entsprechend weniger als „Entdecker“ betätigen muss.

Welches Bild von der Band und ihren Hauptcharakteren Greg Ginn und Henry Rollins hattest du vor diesem Projekt?

Ich war schon lange ein Fan von Henrys verschiedenen Projekten, seinen Büchern, seinen Spoken-Word-Auftritten, seiner Musik, war also sehr vertraut mit seiner Arbeit und seiner Persönlichkeit, wie er sie in der Öffentlichkeit darstellte, sowie seinem Hintergrund, so weit er den mit seinem Publikum teilte. Bei Ginn war das anders, seine Person stand immer mehr im Hintergrund – ein brillanter Kerl, keine Frage, aber für einen Fan war es schwer, ein klares Bild von ihm zu gewinnen.

Und wie hat sich dein Bild nach der Arbeit an dem Buch verändert?

Ich bin natürlich immer noch ein großer Fan. Ich bewundere Henry, heute mehr denn je, denn ich weiß, wo er herkommt, was er durchgemacht hat, welche Kämpfe er vor und während BLACK FLAG ausfechten musste, und seine eiserne Entschlossenheit, an sich zu arbeiten. An Greg Ginn fasziniert mich sein familiärer Hintergrund. Er ist ein brillanter kreativer Kopf, mit aller Komplexität, die man mit so einer Persönlichkeit assoziiert. In der Geschichte, die ich mit meinem Buch erzähle, gibt es immer wieder Situationen, in denen weder Henry noch Greg im besten Licht dastehen, aber das wird, so hoffe ich, ausgeglichen durch die Vermittlung eines Gefühls dafür, dass ohne ihre große Anstrengung und Kreativität – vor allem die von Greg, wie Henry immer wieder bescheiden betont – BLACK FLAG nicht den Status erreicht hätten, den sie heute noch haben. Ohne diese Leistung würde uns heute mehr fehlen als nur die Musik dieser Band.

Nun werden BLACK FLAG bis heute extrem verehrt und glorifiziert. Würdest du nach deinen Recherchen sagen, dass das gerechtfertigt ist, dass sie wirklich etwas Neues und Einzigartiges geschaffen haben, oder dass sie unterm Strich mit all ihren bandinternen Intrigen doch nur eine ganz gewöhnliche Rockband waren?

BLACK FLAG sind wirklich eine unfassbar wichtig Band für die gesamte Szene und diese Generation, und natürlich vor allem für jene, die ihnen nachfolgten. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Mike Watt, in dem ich diesen wirklich wundervollen Interviewpartner aus der Fassung brachte, indem ich ihn fragte, was er wohl heute machen würde, hätte er nicht BLACK FLAG getroffen, hätten die nicht MINUTEMEN und all diese anderen großartigen Bands unterstützt: Er wusste keine Antwort. Eine gewöhnliche Rockband waren BLACK FLAG nie, denn sie fingen aus ganz anderen Gründen an, es ging ihnen nie um Kokain und Blow-Jobs. Und jenseits ihrer großartigen Musik waren sie ein Anschauungsbeispiel dafür, wie Rockmusik als Akt der Rebellion funktioniert, und auch eines für bürgerlichen Ungehorsam. Außerdem waren sie es, die für unzählige Bands eine Tourtrasse quer durch die USA schlugen, die bis heute genutzt wird. All das taten sie bildlich gesprochen mit bloßen Händen, unter ständigen Angriffen der Obrigkeit, der Polizei – und ihrer eigenen Fans. Als sie sich dann nach acht Jahren auflösten, fragte keiner „Warum?“, sondern es hieß: „Wie habt ihr es eigentlich geschafft, so lange durchzuhalten?“

Meine Frage von wegen „gewöhnliche Rockband“ zielte eigentlich darauf ab, dass man nach dem Lesen des Buchs überrascht ist von Greg Ginns starkem Ego und seiner Dominanz in der Band, aus der resultierte, dass er sogar alte Freunde wie Chuck Dukowski quasi aus der Band mobbte. So sehr Ginn also ein musikalisches Genie und verdienstvoller Punklabel-Pionier ist, so muss es doch sehr anstrengend gewesen sein, mit ihm im Alltag klarzukommen. Im Buch äußerst du dich dazu recht ausgewogen, doch wie lautet dein Urteil über Ginn rückblickend?

Ich hatte nicht die Gelegenheit, Greg für das Buch selbst zu interviewen, so dass ich irgendwie den Druck verspürte, auch mal seine Position zum Ausdruck zu bringen, indem ich aus Interviews zitierte, die er anderswo mal gegeben hat. Ich wollte ihn nicht als Bösewicht dastehen lassen, denn damit wäre man ihm nicht gerecht geworden, und ich hatte auch nicht vor, irgendwen in dem Buch als Karikatur erscheinen zu lassen. Mir ging es darum, ein exaktes, facettenreiches Porträt zu zeichnen. Ein paar der von mir interviewten Leute äußerten wirklich sehr negative Gefühle gegenüber Greg, andere waren in ihrer Meinung zwiegespalten, und wieder andere bewunderten und lobten ihn. Und an genau der Stelle war mein Vorteil, dass ich ein Außenstehender war und so all diese Aspekte dem Leser darlegen konnte, so dass nun jeder selbst entscheiden kann, was er über Greg und die anderen Beteiligten denkt. Übrigens sagten viele der Interviewten, dass sie bis heute das Gefühl haben, Greg eigentlich nicht zu kennen. Er scheint für viele Menschen eine Person zu sein, zu der man nur schwer Zugang bekommt. Unterm Strich muss man aber sagen, dass er wirklich Bewundernswertes geleistet hat. Und vielleicht ist eine Person, die so eine ikonenhafte Band formierte, so ein wichtiges Label gründete, so einen stolzen Anti-Establishment-D.I.Y.-Ethos etablierte, im alltäglichen Umgang nicht der einfachste Mensch. Und man muss sich vielleicht auch mal vor Augen führen, dass einer, der ein Stück wie „Nervous breakdown“ schrieb, nicht unbedingt immer ein dauerlächelnder Sonnenschein ist. Aber solche Dissonanzen machen es ja spannend, über diese Leute zu schreiben, ihre Stärken und Schwächen zu verstehen. Ich habe aber Wert darauf gelegt, dass weder das eine noch das andere in den Hintergrund tritt.

Du sagtest gerade, dass du mit Ginn nicht selbst gesprochen hast. Mit wem hast du denn gesprochen? Im Buch finden sich dazu zwar viele Fußnoten, aber auf Dauer verliert man da etwas den Überblick.

Greg versuchte ich mehrfach zu erreichen, versuchte es immer wieder telefonisch in seinem Büro, bekam aber nur einen Mitarbeiter zu sprechen und hörte nie wieder was von ihm. Auch Henry konnte ich nicht sprechen – der redet über diese Zeit damals einfach nicht mehr. Ich glaube, er will damit abschließen und sich auf die Gegenwart konzentrieren. Mit vielen anderen allerdings konnte ich sprechen, etwa mit Keith Morris, Ron Reyes, Chuck Dukowski, Kira Roessler, Mugger, Joe Nolte, Brendan Mullen, Glen E. Friedman, Mike Watt, Tim Kerr, Dave Markey und vielen anderen. Und die redeten bereitwillig und offen über ihre Erfahrungen.

SST war ein fantastisches Label, sowohl in musikalischer wie konzeptioneller Hinsicht, ist es doch Vorbild für viele andere von Bands oder Musikern selbst gegründete Labels. Und SST war auch – man erinnere sich an deren Slogan „Corporate Rock still sucks!“ – ein klares Statement in Sachen Independent-Label gegen Musikindustrie. Trotzdem war es in den letzten Jahren schwer, nicht auf Bands zu stoßen, die mal bei SST waren, aber heute enttäuscht sind, weil sie das Gefühl haben, von SST nicht das zu bekommen, was ihnen zusteht. Grant Hart von HÜSKER DÜ etwa sagte jüngst im Ox, er betrachte die HÜSKER DÜ-Releases auf SST als Bootlegs. Wie siehst du das nach all deinen Recherchen?

Angesichts der Komplexität der rechtlichen Seite des ganzen Themas habe ich das Gefühl, dass viele nicht vor dem Mikrofon über ihre negativen Erfahrungen mit SST reden wollen. Ich hatte im Rahmen meiner Arbeit als Musikjournalist auch früher schon mit Leuten von einstigen SST-Bands gesprochen, doch als ich sie dann konkret für dieses Buch und zu diesem Thema sprechen wollte, verweigerten sie das Gespräch und deuteten an, darüber nicht reden zu können, ohne möglicherweise rechtliche Probleme deswegen zu bekommen. Ich konnte über diesen Aspekt nicht schreiben, ohne die eine oder andere Seite zu belasten oder auch ihr Unrecht zu tun. Was nun Grant Hart anbelangt: Wenn ihm der HÜSKER DÜ-Backkatalog wirklich so wichtig ist, sollte er das tun, was andere Bands wie MEAT PUPPETS oder DINOSAUR JR auch getan haben – nämlich ihn zurückfordern. Das würde aber auch bedeuten, dass er sich mit Bob Mould und Greg Norton auf eine vernünftige Arbeitsbeziehung einlassen müsste, um diese Sache wirklich durchzuziehen. Aber nach all den Interviews mit Grant, die ich gelesen habe, wird das wohl nie passieren. Ich würde mir allerdings wirklich eine Überarbeitung des HÜSKER DÜ-Backkatalogs wünschen, denn der könnte ein „Upgrade“ vertragen. Und angesichts der ganzen Bootlegs von HÜSKER DÜ und anderen einstigen SST-Bands scheint es an möglichem Bonusmaterial nicht zu mangeln.

Du erwähnst auch die alte Diskussion unter elitären BLACK FLAG-Fans darüber, wer letztlich der einzig wahre und beste BLACK FLAG-Sänger war, die immer in der Aussage kulminiert „Als Henry Garfield Sänger wurde, fingen BLACK FLAG an, scheiße zu werden.“ Dein abschließender Kommentar dazu?

Es ist ja so einfach zu behaupten, BLACK FLAG seien ab dem Moment, da Henry einstieg, immer schlechter geworden. Aus rein künstlerischer Hinsicht und ganz subjektiv stimme ich dem überhaupt nicht zu. „Damaged“ ist der beste und wichtigste Release, und da singt Henry. Damit will ich nicht sagen, dass das, was davor und danach war, schlecht war. Ich finde, hinter dieser Henry-Diskussion steckt so ein gewisser Snobismus aus gewissen Fankreisen, der mit Henrys späterer Karriere zu tun hat. Seine Spoken-Word-Auftritte, seine Schauspielerei, sein Aufstieg zu einer Art von Gegenkultur-Celebrity machen ihn in den Augen dieser Leute zu einem „Sellout“. Und das ist Bullshit. Zu behaupten, dass mit Henry BLACK FLAG schlecht wurden, das ist ein archetypisches Beispiel für echt lahmen „Hipsterismus“, dieses Geschwätz von wegen „Oh yeah, the group was much cooler before they got big“. Sobald jemand so was mir gegenüber äußerst, werde ich misstrauisch. Aber für manche Leute ist irgendwas eben immer nur so lange cool, wie es die Masse nicht für sich entdeckt hat, und für diese Leute war der Punkt bei BLACK FLAG eben mit Henrys Einstieg erreicht.Ich bin der Meinung, dass BLACK FLAG vier verschiedene fantastische Sänger hatten im Laufe ihrer Karriere, und jeder war einzigartig. Ich denke nicht, dass Henry jemals Keiths Songs so gut sang wie Keith selbst, aber der hätte sicher auch nicht Henrys „My war“ so gut hinbekommen wie der. Und Keith selbst gibt zu, dass, auch wenn er der erste Sänger der Band war, es erst Henry gewesen sei, der die ganze Schinderei auf Tour in die Musik einbrachte und damit BLACK FLAG zu dem machte, wofür sie zur Legende wurden. Ich habe übrigens festgestellt, dass die vier Flag-Frontmänner sich gegenseitig wirklich schätzen und respektieren, was ich wirklich cool finde. Deshalb: Wer behauptet, mit Henry hätten BLACK FLAG begonnen, scheiße zu sein, der ist so was wie das Punkrock-Äquivalent des Comicladen-Typens aus den„Simpsons“.

Danke, das war deutlich. Aber lass uns zum Schluss über die Gegenwart reden. Du bist Musikjournalist und hast 2009 noch für das von Everett True gegründete englische Magazin Plan B gearbeitet, das allerdings Mitte 2009 eingestellt wurde. Wie ist es um die englische Musikpresse bestellt, wo siehst du die Zukunft des professionellen, qualitätsbewussten Musikjournalismus?

Ziemlich düster ... Die kränkelnde Musikindustrie kämpft darum, noch irgendwie Geld aufzubringen für Anzeigen in ebenfalls kränkelnden Musikmagazinen, während die Leserschaft sich lieber umsonst im Internet bedient. Das ist ein Teufelskreis, denn so was wie BLACK FLAG und SST waren nur möglich, weil zumindest ein paar Leute bereit waren, für die Platten zu bezahlen. Die Situation ist also auf ganzer Breite richtig mies, und Plan B, ein richtig gutes Heft, gemacht von netten Leuten, kaputtgehen zu sehen, das brach mir beinahe das Herz. Aber wir arbeiten ja alle noch an irgendwas, es gibt also noch Hoffnung. Und so lange die Leute bereit sind, richtig guten Musikjournalismus auch zu schätzen und erkennen, dass man gute Arbeit auch honorieren muss und so was nicht einfach nur etwas ist, das jemand als Hobby betreibt, besteht noch Hoffnung.

Und was sind deine nächsten Projekte?

Ich beende gerade die Arbeit an einem Buch über das Londoner Underground-Electronic/HipHop-Label Ninja Tunes, das im Herbst 2010 erscheinen wird. Außerdem schreibe ich noch für Mojo und The Guardian, und ich hoffe, ich finde auch noch mal Zeit für eine neue Ausgabe meines Fanzines Loose Lips Sink Ships.

 


Würde man nach dem fehlenden Glied zwischen Punk und Hardcore suchen, bei den 1976 in Hermosa Beach, Kalifornien von Greg Ginn und Chuck Dukowski gegründeten BLACK FLAG (anfangs hieß man noch PANIC, aber die gab es dummerweise schon) könnte man durchaus fündig werden. Denn sie waren es, die in prototypischer Form den DIY-Gedanken in die damalige Underground-Kultur einbrachten, angefangen bei den zahlreichen von Greg Ginns Bruder Raymond Pettibon gestalteten provokanten Flyern und Covern (ebenso wie das bekannte, gerne tätowierte Logo der Band, eine aus vier schwarzen Balken bestehende, stilisierte Anarchisten-Fahne), mit denen man unter anderem extensiv die eigenen Gigs bewarb, bis hin zum von Ginn und Dukowski in dieser Zeit ebenfalls gegründeten, einflussreichen Label SST, auf dem man das eigene Material veröffentlichte, aber auch jede Menge anderer großartiger Platten. BLACK FLAG waren eine Band, die ständigen personellen wie stilistischen Veränderungen unterworfen war und deren einziges ständiges Mitglied bis zur Auflösung 1986 Ginn war. Als man 1981 den ersten Longplayer „Damaged“ aufnahm, hatte man bereits drei Sänger verschlissen. Zuerst Keith Morris, der die Band 1979 aufgrund kreativer Differenzen mit Ginn verließ und die CIRCLE JERKS gründete. Dann Ron Reyes, mit dem man die EP „Jealous Again“ aufnahm, und der 1980 aufgrund der grassierenden Gewalt während eines Gigs im Redondo Beach das Weite suchte und von der Band deswegen später als „Chavo Pederast“ diffamiert wurde. Dem folgte Dez Cadena, dem allerdings schnell das ausgiebige Touren die Stimme ruinierte und der deshalb an die Gitarre wechselte. An Bord kam dafür Henry Rollins (geboren als Henry Garfield), der bisher in Washington D.C. gelebt hatte und dort Sänger von S.O.A. war. In der Besetzung Henry Rollins (lead vocals), Greg Ginn (lead guitar, backing vocals), Dez Cadena (rhythm guitar, backing vocals), Charles Dukowski (bass, backing vocals) und Robo (drums, backing vocals) wurde dann „Damaged“ eingespielt, vom späteren SST-Hausproduzenten Spot technisch überwacht und versehen mit dem Artwork von Ed Colver, ein Photo von Rollins, der gerade einen Spiegel zertrümmert. Veröffentlicht werden sollte die Platte allerdings noch von Unicorn Records, einem Ableger von MCA, denn auch in den Staaten versprach man sich offenbar von den neuen Punkbands eine viel versprechende Einnahmequelle. Dummerweise waren Unicorn zu diesem Zeitpunkt schwer verschuldet und weigerten sich die Platte wegen bestimmter angeblicher inhaltlicher Tendenzen („anti-parent“) zu vertreiben, was zu einem längeren Rechtsstreit führte, der bis fast 1984 andauerte, als Unicorn endgültig pleite waren. In dieser Zeit war es der Band aber untersagt, als BLACK FLAG aufzutreten oder Platten aufzunehmen, weshalb das Album „Everything Went Black“ ursprünglich nur unter dem Namen der Beteiligten veröffentlicht wurde, und auf dem sich Material der Pre-Rollins-Ära finden lässt, darunter auch alternative Versionen der Songs von „Damaged“. 1984 entstand dann endlich das zweite Album „My War“ mit einem der schönsten Cover von Pettibon, auf dem eine fies grinsende Handpuppe mit Messer zu sehen ist. Ein Album, auf das sich die meisten Leute stilistisch noch einigen können, das aber auf der B-Seite bereits drei irritierend lange wie langsame Nummern enthielt, die mehr nach BLACK SABBATH als Punk klangen und gerne als Einfluss für späteren „Grunge-Rock“ genannt werden.

Auch das Line-up hatte sich bis auf Rollins und Ginn dramatisch verändert: ein gewisser Dale Nixon spielte Bass (ein Pseudonym, hinter dem sich Ginn verbarg, da man noch niemand für diese Position gefunden hatte) und Bill Stevenson (von den DESCENDENTS, die gerade eine Pause machten, da es für deren Sänger Milo „goes to college“ hieß) spielte Schlagzeug. Cadena hatte derweil DC3 gegründet und Dukowski hatte ebenfalls das Handtuch geworfen, zwei Songs auf „My War“ stammen aber dennoch von ihm, und als Tourmanager war er ebenfalls noch für BLACK FLAG aktiv. Mit dem Einstieg von Kira Roessler am Bass (zwischen 1987 und 1994 mit Mike Watt verheiratet und Schwester von Paul Roessler, der in unzähligen L.A.-Bands gespielt hat wie 45 GRAVE und Gründungsmitglied der legendären THE SCREAMERS war) begann dann die fruchtbarste Phase der Band, die 1984 gleich vier Platten veröffentlichte. Das Live-Album „Live ’84“ (zuerst nur auf Audiokassette erschienen), „Family Man“ (zur einen Hälfte aus Spoken Word-Stücken, zur anderen aus Instrumentals bestehend), „Slip It In“ und „Loose Nut“. Alben, die BLACK FLAG immer weiter von ihrem bisherigen Punk-Publikum entfremdeten, die Instrumentalstücke in Jamsession-Nähe und mit starken Jazzrock-, Noise- und Metal-Einflüssen in epischer Länge überhaupt nicht mochten (siehe auch die 1985er EP „The Process Of Weeding Out“), aber die Band zu einer der innovativsten in der damaligen Punk-Szene machten. Man könnte fast von einer Art Progressive-Hardcore sprechen. Diese Entwicklung war sicherlich den ungewöhnlichen, über Punk weit hinausgehenden musikalischen Interessen von Rollins und Ginn geschuldet, und, wie Rollins irgendwann mal anmerkte, auch dem übermäßigen Marihuana-Konsum von Ginn. 1985 erschien das letzte Album „In My Head“, das noch mal unter Beweis stellte, dass BLACK FLAG keinerlei Interesse hatten, sich zu wiederholen, wohl der Hauptgrund für ihren bescheidenden kommerziellen Erfolg. Als letzten Streich gab es dann 1986 das zweite Live-Album „Who’s Got the 10 1/2?“ mit Kira am Bass, die allerdings schon nicht mehr in der Band war, und Anthony Martinez am Schlagzeug, das in intensiver Form deren besondere Charakteristika einfing.

BLACK FLAG waren Geschichte, aber der Großteil der Beteiligten innerhalb das weit verzweigten SST-Kosmos und auch darüber hinaus weiter aktiv (vor allem Rollins), aber das muss man an anderer Stelle nachlesen. 2003 standen Dez Cadena, Greg Ginn, Robo und C’el Revuelta dann noch mal als BLACK FLAG für drei Shows auf einer Bühne, aber man darf bezweifeln, ob inzwischen noch irgendjemand aus alten SST-Zeiten zusammen mit Ginn in der Öffentlichkeit gesehen werden möchte. Unbestreitbar bleibt der Einfluss von BLACK FLAG auf Generationen späterer Bands, die sich in textlicher wie musikalischer Hinsicht nie in eine enge Schublade wie Punk pressen ließen.