ARRESTED DENIAL

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Auf Tour in China

Die erste Frage, wenn wir von unserer Chinatour mit neun Konzerten in 15 Tagen von Peking über Shanghai bis Hongkong erzählen, lautet eigentlich immer: „Krass, wie zur Hölle seid ihr denn da rangekommen?“ Die Antwort darauf ist ziemlich einfach: Zhong, der chinesische Bassist von unseren österreichischen Kumpels 2ND CLASS SUBSTITUTES und von THE SINO HEARTS, ist letztes Jahr nach acht Jahren in Wien wieder zurück nach Peking gezogen. Bei der Verabschiedung meinte er unvorsichtigerweise, wenn wir mal in China spielen wollen, sollten wir uns einfach melden. Und das haben wir dann getan ... Deutlich schwieriger wird es, wenn Joachim vom Ox einem die Frage stellt: „Wie frei oder unfrei hat sich das denn angefühlt, in China zu touren?“ Es ist aber natürlich eine gute Frage, deswegen versuchen wir uns hier an einer Antwort.

Ein paar Dinge können wir gleich zu Beginn abhaken: Nein, wir wurden nirgendwo ins Gefängnis gesteckt. Der Zoll hat uns auch nicht auseinandergenommen, obwohl vier „Touristen“ ohne Gepäck, dafür aber mit Instrumentenkoffern durchaus Anlass zu Nachfragen hätten geben können. Die einzige etwas intensivere Begegnung mit einem chinesischen Polizisten (zumindest gehen wir davon aus, dass es einer war) hatten wir auf unserer ersten Station in Tianjin, eine dieser vielen für uns vorher namen- und gesichtslosen chinesischen Städte, die trotzdem grob geschätzt viermal mehr Einwohner als Berlin haben. Der rundliche Uniformierte winkte unseren Bassisten Timo zu sich heran, um dann breit grinsend dessen zahlreiche Tattoos vom Knöchel bis zur Glatze zu mustern, sie wortreich zu kommentieren (natürlich ohne dass wir auch nur eine Silbe davon verstanden hätten) und uns anschließend wieder freundlich mit einem Klaps auf die Schulter von dannen zu schicken.

China ist ein widersprüchliches Land, genauso unterschiedlich und uneinheitlich sind auch die Eindrücke, die wir auf unserer Reise zum Thema Freiheit in China gesammelt haben. Wir als westliche Besucher konnten uns im Land frei und unbehelligt bewegen, staatliche Überwachung oder Repression war für uns zu keinem Zeitpunkt erkennbar. Und das ist es vielleicht: Es sind keine spektakulären Ereignisse oder Geschichten, die das Thema definieren Es sind vielmehr kleine, alltägliche Wahrnehmungen und vor allem die Rahmenbedingungen, die man akzeptiert, um überhaupt in China touren zu können.

Punk-Konzerte finden in China in einer Art halb-legalem Rahmen statt. Die Punk-Szene ist überschaubar und nur sehr wenige Leute lassen sich ihre musikalischen Vorlieben auch optisch anmerken. Von den Läden, in denen wir gespielt haben, würde wohl nur die School Bar in Peking als echter Punkrockclub durchgehen, ansonsten waren es größere Kneipen, teilweise mit Bartischen und Stühlen bis direkt vor die Bühne, und öfter auch so genannte Live Houses – für uns komplett überdimensionierte Clubs, in denen 300 bis 400 Zuschauer Platz gehabt hätten. Bei unseren Konzerten war entsprechend alles etwas luftiger, die Anwesenden nutzten den vorhandenen Platz dafür aber meist recht enthusiastisch zum Pogotanzen, Feiern und Stagediven.

Theoretisch braucht jede Band eine Auftrittsgenehmigung, um in China Konzerte spielen zu dürfen. Es ist wohl ein enorm aufwändiger Prozess, eine solche Erlaubnis zu bekommen. Es müssen weit im Vorfeld die genauen Daten und die Songtexte der Band zur Prüfung eingereicht werden. Mit unseren Texten hätten wir wohl kaum eine Chance gehabt. „Das ist alles viel zu kritisch und zu negativ“, meinte ein deutscher Konzertbesucher in Tianjin. Wie alle anderen Bands, die Zhong bisher als Tourmanager begleitet hatte, reisten wir deswegen mit einem einfachen Touristenvisum ein. Bei der Beantragung des Visums hatten wir eine fiktive Reiseroute mit Hotelbuchungen von Peking über Shanghai nach Hongkong vorgelegt und mit keinem Wort erwähnt, dass wir Konzerte in China spielen wollen. Sobald der Stempel in unseren Pässen war, wurden die Hotels umgehend storniert – auch das ist laut Zhong das übliche Vorgehen im Umgang mit dem chinesischen Visumsystem.

Mit solchen Tricks kann man die eine oder andere Hürde umschiffen, ganz dem Einfluss des chinesischen Staates kann man sich dennoch nicht entziehen: Ein paar Wochen vor der Abreise meldete sich Zhong bei uns. Wir hatten uns als Start für die Tour einen denkbar ungünstigen Termin ausgesucht: Unser erstes Konzert sollte am Wochenende des 4. Juni stattfinden, dem Jahrestag des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens, bei dem 1989 das chinesische Militär eine im Kern von Studenten angeführte Demokratiebewegung gewaltsam niedergeschlagen hatte. „An dem Wochenende können wir auf keinen Fall in Peking spielen, das ist zu gefährlich. Wir müssen woanders starten.“ Die nächste unerfreuliche Botschaft dieser Art ereilte uns einen Tag vor Abflug: Zwei Konzerte in der Provinz Sichuan waren in letzter Minute gecancelt worden, darunter das Chongqing Punk Fest, ein in der Szene äußerst beliebtes Festival, das unser größter Auftritt auf der ganzen Reise hätte werden sollen.

„Leider hat einer der Veranstalter etwas zu viel Werbung gemacht und da ihr keine Auftrittsgenehmigung habt, hat die Provinzregierung eure beiden Konzerte abgesagt“, erklärte uns unsere Veranstalterin in Shanghai, als wir uns mit ihr über den Vorfall unterhielten. Zhong erzählte uns später, dass „etwas zu viel Promo“ in diesem Fall wohl hieß, dass Embleme der Kommunistischen Partei überklebt worden waren. „Wir anderen haben uns alle ein bisschen zurückgehalten mit Werbung, es darf eben alles nicht zu auffällig sein, dann drücken die Behörden eigentlich immer ein bis zwei Augen zu“, erzählte die Besitzerin der Rockkneipe Inferno in Shanghai weiter. „Auch bei mir hier gestern hatte nur die chinesische Band am Anfang eine Genehmigung, die anderen drei nicht. Aber die Leute von den Behörden sind viel zu faul, um sich alle Bands anzuschauen. Da hat einer bei der ersten Band Fotos gemacht, damit hatte er seinen Beleg, dass eine Band mit Genehmigung gespielt hat, das Thema war für ihn erledigt und er konnte schnell nach Hause ins Bett.“ Die Schilderung passt ganz gut zur Einschätzung eines guten Freundes zur Situation in China. Er war selber schon als Tourmanager im Reich der Mitte unterwegs. Als Daniel ihm von der bevorstehenden Tour erzählte, meinte er strahlend: „Das wird super. China ist inzwischen eines meiner absoluten Lieblingsländer. Für mich das freieste Land, das ich kenne.“ Auf Daniels verdutzten Blick hin ergänzte er: „Ja, da gibt es zwar unfassbar viele Regeln und alles ist mega reguliert. Aber das interessiert eigentlich keine Sau. Die Menschen machen einfach, was sie wollen. Es muss nur pro forma ein Stempel an der richtigen Stellen im richtigen Formular sein, dann fragt danach niemand mehr irgendwas.“

Ohne den Visumstempel in unserem Reisepass wären wir definitiv keinen Schritt vorwärtsgekommen in China. Wir mussten die Pässe auf der Reise so oft vorzeigen wie wahrscheinlich noch nie zuvor auf allen Reisen aller Beteiligten zusammen. Beim Ticketkauf am Bahnhof, beim Security-Scan am Eingang jeder U-Bahn, beim Betreten jedes Bahnsteigs in den fast schon einschüchternd monumentalen Fernbahnhöfen für die Schnellzüge, mit denen wir auf schnurgeraden Gleisen mit 310 km/h die teilweise enormen Entfernungen zwischen unseren Auftrittsorten überbrückten, und natürlich an der Rezeption jedes einzelnen Hotels auf der Tour. Doch genau so viele Regeln, wie durch unzählige Schilder und plärrende Lautsprecherdurchsagen an allen Ecken und Enden aufgestellt werden, genau so viele Regeln werden von den Chinesen auch gerne mit Nichtbeachtung gestraft.

An einer Stelle endet die Freiheit für uns Westler in China allerdings genauso wie für alle Inländer: Bei der Nutzung der gewohnten sozialen Netzwerke greift der Staat massiv ein: Facebook, Twitter, Instagram, YouTube sind komplett gesperrt. Allerdings ist es auch hier wieder kein Problem, sich mit kostenlosen VPN-Apps wie zum Beispiel Betternet den Weg zu Facebook freizuräumen. Die App verschleiert bei der Nutzung des Internets den eigenen Standort und tut so, als wäre man nicht in China. Bei unserer gesamten Kommunikation mit Zhong vor der Tour über Facebook war der ständig im VPN-Modus und wir haben selten jemanden schneller auf Facebook-Nachrichten antworten sehen als ihn ... Pech hat allerdings, wer sich die VPN-App seiner Wahl nicht schon in Europa heruntergeladen hat – der Google Play Store oder iTunes sind von China aus ebenfalls nicht zu erreichen.

Eine weitaus größere Rolle als Facebook spielt in China die App WeChat. Dreiviertel der chinesischen Internetnutzer haben die App in Betrieb, weltweit hat sie laut neuesten Zahlen 963 Millionen monatliche Nutzer und ist damit ein uns vorher völlig unbekannter Social-Media-Riese. Zunächst scheint WeChat vor allem das Messenger-Pendant zum in Europa allgegenwärtigen WhatsApp zu sein. Das Programm kann aber noch bedeutend mehr und ist in China inzwischen eigentlich die zentrale Allround-App für alles. Eine entscheidende Bedeutung hat dabei die Bezahlfunktion WeChat Pay, die sich bereits nahezu flächendeckend im Alltag durchgesetzt hat. Im kleinsten, schäbigsten Kiosk um die Ecke ist es möglich, durch das Scannen eines QR-Codes mit WeChat sein Bier zu bezahlen. An der Kasse zu unseren Konzerten kam die Zahlfunktion ebenso zum Einsatz wie an unserer Merchtheke, wo dank Zhongs Account das eine oder andere Shirt auch bargeldlos den Besitzer wechselte. Dass die verzweifelte Suche nach passendem Wechselgeld am Merchstand entfiel, fühlte sich schon fast wie ein kleines Stück Freiheit an. Dieses tiefe Eindringen der App ins tägliche Leben hat aber natürlich auch seine Kehrseite: Wo es Facebook mit dem lästigen Datenschutz schon nicht so genau nimmt, steht WeChat noch sehr viel stärker unter Verdacht, nicht zuletzt ein Spionage- und Zensurtool des chinesischen Staates zu sein. Forscher der Universität Toronto hatten in einer Testreihe Mitteilungen mit politisch kritischen Schlüsselwörtern, etwa zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens, über den Messenger verschickt. Viele davon kamen nicht an ...

In Hongkong, der letzten Station unserer Reise, hat uns dann die große, weite Welt der unendlichen Social-Media-Freiheit wieder: Facebook, YouTube, Instagram – alles wieder ohne VPN erreichbar. Dafür bekommen wir hier zum ersten Mal massive Kritik am chinesischen Staat zu hören. Valentin nennt es auf der Bühne in einem Cosplay-Clubheim im 17. Stock einer ehemaligen Fabrik unsere „letzte Show in China“, wofür wir uns später den wütenden Hinweis einhandeln, dass Hongkong mit China nichts, aber auch gar nichts zu tun habe.

Zwei Wochen nach unserer Rückkehr nach Deutschland spricht der Pekinger Außenamtssprecher Lu Kang am 1. Juli bei der Feier zum 20. Jahrestag der Rückgabe Hongkongs davon, die damals getroffene Vereinbarung mit den Briten sei „heute nicht mehr relevant“ und habe „keine bindende Kraft für Chinas Zentralregierung“. Keine gute Aussichten für die Demokratie in Hongkong. Einige Chinesen, mit denen wir gesprochen haben, kommen jedoch im Gegensatz zu den – momentan noch mit deutlich größeren politischen Freiheiten ausgestatteten – Einwohnern Hongkongs erstaunlich gut klar mit dem politischen System im Reich der Mitte und seinen sehr begrenzten demokratischen Rechten. So waren mitunter auch Äußerungen zu hören wie: „Ein Land dieser Größe kannst du gar nicht wie eine europäische Demokratie führen, das würde niemals funktionieren. Das wäre reines Chaos. Schaut euch doch mal Indien an, das ist doch scheiße.“

Eine Freiheit ist im kommunistischen China auf jeden Fall mindestens genau so ausgeprägt wie bei uns zu Hause: Die Konsumfreiheit steht in voller Blüte, von McDonald’s bis H&M sind die üblichen Verdächtigen in den von uns bereisten Städten so präsent wie in den Einkaufsmeilen Europas und es wird keine Fläche ausgelassen, um mit Plakaten oder LED-Anzeigen für die wunderschöne Welt des Shoppings zu werben. Selbst in den U-Bahn-Tunneln der Großstädte werden während der Fahrt noch flirrende Videoanzeigen an die Tunnelwände projiziert. Trotz der Dauerpräsenz löst das McDonald’s-Plakat mit den knusprigen Hühnerfüßen am Spieß keinen allzu großen Kaufimpuls bei uns aus. Bei den weit verbreiteten und teils schon skurril anmutenden chinesischen Neuinterpretationen bekannter Marken kann man hingegen schon einmal ins Wanken kommen. Wer würde nicht gerne mit ein paar waschechten Sneakern von „New Bunren“ oder „Adisco“ durch Peking flanieren?

An einer Stelle ist die „Meinungsfreiheit“ dann sogar etwas größer als in Deutschland. Eine Stunde vor dem Soundcheck in der Roof Bar, die leider inzwischen den Bauarbeiten an der U-Bahn zum Opfer gefallen ist, sitzen wir vor unserem Hotel in Luoyang und beobachten den fast schon klischeehaft chaotischen Feierabendverkehr mit dauerhupenden Autos und Schlangenlinien fahrenden Rollern direkt vor unserer Nase. Einer der Roller ist vorne mit einem riesigen Hakenkreuz verziert. Das könnte in diesem Kulturkreis theoretisch sogar noch als religiöses Symbol durchgehen, es findet sich auch ein paar Tage später in einem Tempel in Form einer Heckenpflanzung in Hakenkreuzform wieder. Das zusätzliche Eiserne Kreuz auf der Seite des Rollers und die Aufschrift „This time we won’t regret it“ lassen beim Vorbeifahren dann allerdings doch relativ wenig Raum für Interpretationen. Manchmal sind wir auch froh, dass es hierzulande gewisse „Freiheiten“ nicht gibt.