Seattle war es Anfang der 90er Jahre und New York einmal mehr zu Beginn dieses Millenniums – der Nährboden und das Zuhause für aufstrebende Bands, welche die neuen Soundtracks für eine stets nach frischer Musik suchende Subkultur schufen. Und nun? Kanada. HOT HOT HEAT, BROKEN SOCIAL SCENE, THE DEARS, FEIST, DEATH FROM ABOVE 1979. Musikerkollektive, die man bereits kennt oder aber mit Sicherheit in absehbarer Zeit noch kennen lernen wird. Garantiert. Doch zuerst kommen die momentan vielerorts umjubelten ARCADE FIRE aus Montreal zu ihrem wohlverdienten Ruhm.
Zugegeben, wirklich neu ist der doch recht klassische Indie-Rock auf „Funeral“ nicht. Was die fünf Männer und zwei Frauen von ARCADE FIRE zwischen MODEST MOUSE und BROKEN SOCIAL SCENE, den PIXIES aber auch den altehrwürdigen BUILT TO SPILL auf die Beine stellen, trägt dennoch soviel Kraft, Leidenschaft und Erhabenheit in sich, dass hier von einem ganzen großen Wurf gesprochen werden darf, ja muss. Natürlich könnte man vorschnell das Ensemble in die Schublade der hippen und brandaktuellen Formationen des Genres stecken, doch damit würde dieser Gruppe unrecht getan. Denn hipp, durchgestylt oder gar kalkuliert ist mit Sicherheit keiner der ARCADE FIRE-Aktivisten. Im Gegenteil scheint es vielmehr so, als würde der ganze Rummel um die eigene Platte ein wenig beängstigen. Aber was soll man außer Lobeshymnen bei solch sinnesberauschenden Songs wie „Power Out“ oder „In the backseat“ bloß sagen, die eben einfach jedes Musikerherz 10.000-mal höher schlagen lassen. Das Geheimnis des formidablen Debüts ist schlichtweg die nahezu illusorische Mentalität, wie Frontmann Win Butler weiß: „Ich bin nicht Musiker geworden, um eines Tages davon leben zu können. Du darfst nicht von anderen Leuten abhängig sein, so was erstickt nun mal deine Kreativität. Das will ich auf gar keinen Fall. Lieber arbeite ich nebenbei in einer Frittenbude, anstatt irgendwann meine eigene Kunst hassen zu lernen.“
Um „Funeral“ ernsthaft zu verabscheuen, müsste man regelrecht gefühlstot sein. Und dies weniger wegen der Tatsache, dass während der Aufnahmen des Albums drei Todesfälle in Wins Familie eintraten. Die Stärke dieses außergewöhnlichen Werkes liegt nicht darin, musikalisch unerforschte Wege einzuschlagen, sondern kann vielmehr damit begründet werden, Emotionen offen, ehrlich und herzzerreißend nach Außen zu tragen. ARCADE FIRE leben, nein, sie brennen quasi vor Lyrismus. Mit einem Xylophon und Streichern geben die Kanadier alles. Jeder Milliliter Blut wird hier dem Hörer gespendet. Um mit so viel Überzeugung und Elan an ein Projekt heranzutreten zu können, muss das Herz einer Band nach einem Takt schlagen. Regine Chassagne dazu: „Wir mögen alle ganz verschiedene Dinge. Philosophisch betrachtet sind wir jedoch auf einer Wellenlänge. Was wollen wir durch eine Live-Show erreichen? Was wollen wir generell aussagen? Ich gehe zum Beispiel nicht besonders gerne auf Rockkonzerte. Es muss doch einen tieferen Grund dafür geben. Es muss auch einen Grund geben, eine Platte zu veröffentlichen. Man macht doch nicht einfach etwas, nur weil es von einem erwartet wird. Wir sehen das alle so. Diese Band will etwas kreieren, was es vorher noch nicht gab. Oder etwas Neues aussagen können, dass die Welt bis dato nicht gehört hat.“ Win und Regine (übrigens ein glückliches Ehepaar), Richard, Tim, Wins kleinem Bruder Will, Sarah und Jeremy ist das mit ihrem Erstwerk einwandfrei gelungen. Eigenständig, ohne affektiert zu wirken, poppig, ohne irgendwelchen Formeln zu folgen und wunderschön, ohne dabei jemals kitschig rüberzukommen. Danke!
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #60 Juni/Juli 2005 und Manuel Möglich
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #59 April/Mai 2005 und Manuel Möglich
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #62 Oktober/November 2005 und Kalle Stille