ANTILOPEN GANG / K.I.Z. / IRIE RÉVOLTÉS / ZUGEZOGEN MASKULIN

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„Deutschrap muss sterben, damit wir leben können!“

Ein Special zu deutschsprachigem Rap im Ox? Das hört sich zunächst seltsam an, schließlich widmet sich dieses Heft aus Überzeugung Punkrock, Hardcore und Rock’n’Roll. Und ebenso aus Überzeugung und mit tiefer Abneigung gilt HipHop vielen Punks traditionell als der musikalische „Klassenfeind“, in dessen Umfeld es vor allem um Prollgehabe, Sexismus und Plastikbeats aus der Synthesizerkonserve geht.

Aber wer Augen hat zum Schauen und Ohren zum Hören, dem wird nicht entgangen sein, dass die Grenzen heutzutage an vielen Stellen immer mehr verschwimmen. Dass da plötzlich Rapper über Bühnen hüpfen, die eben nicht stumpfe Statements in die Mikros singsprechen, sondern Texte, die Hand und Fuß haben und die jene Dinge, die heutzutage die Gesellschaft bedrohen, beim Namen nennen: Rassismus, Turbokapitalismus, Betonkopfpolitik. Und die damit von mehr Menschen wahrgenommen werden als viele ebenso politische Punkbands. Im Folgenden deshalb eine Bestandsaufnahme mit Blick über den eigenen musikalischen Tellerrand hinaus.

Er ist der Ober- und Vorzeigepunk des Landes. Campino hat den Soundtrack der Revolte Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger Jahre als einer der Ersten gehört. Damals, rund um den legendären Ratinger Hof in seiner Heimatstadt Düsseldorf. Und, als halber Engländer, in London natürlich, wo die Punk-Keimzelle Europas lag. Später hat Campino den Soundtrack sogar mitgeschrieben, erst mit seiner Band ZK, dann mit DIE TOTEN HOSEN – einer Band, die den Punk in Deutschland endgültig voranbrachte. Noch nicht im Stadion damals, noch nicht als Mega-Rock-Monster mit radiotauglichem Sound. Sondern in den miefigen Clubs und kleinen Hallen, in den Jugendzentren und Bürgerhäusern der Republik, wo der Boden voller Bier war und unter den Sohlen klebte. Eben dort, wo sich die Stadt- oder Dorfjugend traf, um den Kampf mit ihren größten Feinden auszufechten: mit der Perspektivlosigkeit der jungen Jahre. Und mit der bösen Umwelt der Angepassten und Gesellschaftszerstörer. An jeder Ecke lauerten Spießertum, rechte Betonkopfpolitik, aufgezwungene Autorität und Unterdrückung. Campino sang vom Kalten Krieg, der vor der Türe der „Disko in Moskau“ ausgebrochen und über den Rest der Welt geschwappt war und forderte: „Komm’ mit uns, verschwende deine Zeit“. Denn: „Irgendwo geh’n wir schon hin. Überall sind wir im Weg!“

400 Kilometer weiter nördlich kreissägten sich SLIME mit ihren Gitarren durch Hamburg, hissten die Punkfahne und verschwendeten ihre Zeit nach Art der Hosen in besetzen Häusern, in denen sie noch radikalere Parolen brüllten als die Düsseldorfer Kollegen in den hässlich-quietschbunten Klamotten: „All cops are bastards“, „Polizei SA/SS“, „Bullenschweine“, „Deutschland muss sterben“. Außerdem mit am Start: FEHLFARBEN, die vom „Grauschleier“ sangen, der über der Stadt hing und der das als Metapher für alles Schlechte tat: für latent bis offen rechtes Gedankengut, in die Köpfe der Menschen gepflanzt von den großen und alles vereinnahmenden Volksparteien. Für Arbeitslosigkeit. Für Atomwaffen und Pershing-Raketen. No Fun. No Future. Keine Freude. Keine Zukunft. Für alle. Beziehungsweise: für keinen. Nur die Musik bot den Ausweg. Nur der Punk war die Lösung. Weil er radikaler war als alles, was es bis dahin gegeben hatte, und die Welt nicht zuballerte mit Liebesliedern und Lügen von der schönen, neuen Welt, sondern weil er die Scheiße aufstöberte, darauf zeigte und dann auch noch kräftig drauftrat, damit es ordentlich spritze. Auch Campino tat das. Drauftreten. Bis heute wurzelt das Selbstverständnis des Hosen-Frontmannes und seiner Bandfreunde tief im Punk. Das hört man aus fast jedem Interview mit der Band heraus. Das werden sie niemals müde zu betonen – auch nicht mit über fünfzig Jahren auf dem Buckel und als gesetzte Familienväter. Das zeigen sie – ob man sie nun mag oder nicht – noch immer bei jedem Konzert, wenn sie alle Seile, die sie mit dem Rationalen und der Vernunft verbinden, konsequent kappen und eine Revolte für zweieinhalb Stunden anzetteln.

Aber dann sitzt Campino am Tisch im Büro des Hosen-Labels JKP in Düsseldorf-Flingern und sagt plötzlich diese Sätze: „Viele Leute würden sich wundern, wenn sie wüssten, wie viel HipHop ich höre. Das ist die aufregendste Szene derzeit in Deutschland. Da spielt sich am meisten ab. Auch von den Aussagen her. Da sind mittlerweile so gute Jungs und Mädels am Start. Das ist definitiv das Genre, das aktuell am meisten Substanz liefert und die tollsten Ideen hervorbringt.“ HipHop und Punk. Sprechgesang und Gebrüll. Elektronische Beats und verzerrte Gitarren. Bling-Bling und ranzige Lederjacken. Hier passt nichts. Im Gegenteil: Ist HipHop nicht die am meisten geächtete Jugendkultur in Punkrock-Kreisen? Eine Jugendkultur, in der sich alles um Geprotze, Rumgeprolle, blanke Brüste und das Dissen des Gegenübers dreht, während es dem Punk um Inhalte geht, um Selbstreflexion, um die radikale Abkehr von allen Statussymbolen, die Abkehr vom Sexismus, die Abkehr vom Überhöhen des eigenen Ichs, die Abkehr vom Unterdrücken des anderen? Eigentlich schon. Und es war jahrzehntelang fast ausschließlich der Punk, der den Leuten genau dieses lieferte. Den Soundtrack zur Gesellschaftskritik. Den Soundtrack für ein besseres Miteinander. Die Musik des Lebens für jenen Teil der Jugend und der jung gebliebenen Erwachsenen, der sich Gedanken macht über das, was dort draußen vor sich geht. Der grübelt im Sinne von: „Ich kann auch handeln und selber aktiv werden.“ Wer so dachte und so handeln wollte, der hörte Punk. Nichts anderes. Denn alles andere war nur belanglose Musik. Sprich: Musik als bloße Aneinanderreihung von Tönen. Oder es war reine Show: NDW. Wave. Grunge. Britpop. Der Nu-Metal-Zirkus. Der völlig inhaltsleere Techno mit seiner Pilleneinwerf-und-alles-vergessen-Mentalität. Der im eigenen Kutten-Sud vor sich hin köchelnde Metal. Der Gangsta-Rap. Kein Genre lieferte eine Alternative zum Punk. Bis heute. Bis man plötzlich merkt: Campino könnte recht haben. Ist HipHop respektive Rap – denn mit HipHop wird ja eigentlich die ganze Subkultur mit Sprechgesang, Breakdance und Graffiti bezeichnet – der neue Punk?

Punk ist zwar nach wie vor das Genre, das mit Begriffen wie „Gesellschaftskritik“, „politische Musik“ und – gerade in der Welt von heute – „antirassistisch“ verbunden wird. Aber der Rap hat mittlerweile gleichgezogen. Wobei das so noch untertrieben ist. Er hat den Punk nämlich in einer Sache überholt: er erreicht mehr Menschen und wird stärker wahrgenommen. Wer heute 15, 16 ist, hört eher Rap als Punk. HipHop-Bands und HipHop-Künstler mit einer Affinität zu Punk oder zumindest dessen klassischen Werten und Aussagen sind erfolgreich wie nie und tummeln sich derzeit in den Charts, stehen auf den großen Festivalbühnen und füllen die Hallen: K.I.Z., DEICHKIND, Marteria/Marsimoto, ANTILOPEN GANG, Casper, Haftbefehl, ZUGEZOGEN MASKULIN sind dabei nur die erste Reihe von vielen. Natürlich: Es gibt sicherlich nicht weniger Punkbands als früher. Aber die, die es gibt, bewegen sich – so ist der Eindruck – vor allem in ihrer Szene. Der Rap dagegen produziert dieselben Parolen vor größerem Publikum und hat damit offensichtlich so überhaupt kein Problem, was gerade im mitunter elitären, oft stark von einer „Szenepolizei“-Mentalität geprägten Punk ja gerne auch mal anders ist.

ZUGEZOGEN MASKULIN sind vielleicht das Paradebeispiel für diesen „neuen HipHop“ respektive „neuen Rap“: Schon im ersten Song ihres aktuellen Albums „Alles brennt“ spielen sie mit den Punk-Bezügen und läuten in wenigen Sätzen eine neue Zeitrechnung ein: die des Rap als das aktuelle Maß aller Dinge in Sachen Subversivität. „Ihr wollt HipHop so wie früher? Früher gab es Hitler. Früher war es schlecht. ZM – wir sind eine Grauzonenband. Weil wir uns nicht distanzieren von unseren autonomen Fans.“ Zwei Songs weiter in „Plattenbau O.S.T.“ bedienen sich die Sänger Grim140 und Testo sogar explizit und ganz unverblümt am Oeuvre ihrer Vorgänger von der anderen Musikseite, DIE TOTEN HOSEN: „Keiner kann uns kleine Pisser mehr versteh’n. Doch irgendwo geh’n wir schon hin, überall sind wir im Weg. Verschwende deine Zeit.“ „Oranienplatz“ wiederum ist eines der intelligentesten, weil sarkastischsten Lieder, die zuletzt geschrieben wurden gegen Fremdenfeindlichkeit und die von Medien und rechtem Mob geschürte Panik vor der Überfremdung des Landes durch Flüchtlinge: „Kaufe ich Schuhe von Nike oder Adidas? Solche Fragen quälen mich, während du ’ne schöne Bootsfahrt machst. Dies ist ein goldenes Land. Mach’ hier nichts schmutzig, fass’ hier nichts an! Man sollte weltweit alle Hände amputieren. Wir haben viel zu viel, um euch was abzugeben.“ Diese Radikalität, dieses unverblümte Benennen dessen, was falsch läuft, diesen ätzenden Sarkasmus kannte man bislang eigentlich nur von Punkbands. Rap war dagegen in den vergangenen Jahren in den Augen der Öffentlichkeit reduziert auf Bushido, Kay One und Co. – also auf die Garde der erbärmlichen Luftpumpen, die vom harten Leben auf der Straße erzählen, wo an jeder Ecke die feindliche Gang lauert und sich prügeln will. Wo man den anderen am liebsten um die Ecke bringt, wenn er mal wieder die eigene Mutter beleidigt hat. Und wo es als Ausbund von Coolness gilt, wenn man Drogen einwirft, Leute abzieht, dem Gegenüber die Fresse einschlägt, mit vulgären, sexistischen und mitunter rassistischen Schimpfwörtern um sich schmeißt und eine „Hure“ oder „Nutte“ nach der anderen durchzieht.

K.I.Z. gehen im Gegensatz zu ZUGEZOGEN MASKULIN einen anderen Weg, der aber zum gleichen Ziel führt: Sie schocken mit Nazi-Anspielungen, schlimm-schrägem Humor und derben Worten, verkaufen das aber als Absage an die Gesellschaft und die Politik dieser durch und durch verkorksten Welt. Sie fordern. „Selbstjustiz“. Sie berichten vom „Urlaub fürs Gehirn“. Sie wissen: „Doitschland schafft sich ab“. Und sie prophezeien voller Begeisterung: „Hurra, die Welt geht unter“. All das brachte ihnen zwar schonmal eine Verbannung vom Riesenfestival Rock am Ring ein, wo K.I.Z. bei einer Aftershowparty spielen sollten, bis sich einer der Sponsoren querstellte. Aber das kümmerte die Band, die schon mehrfach im Vorprogramm von DIE TOTEN HOSEN auftrat, die Songs mit Bela B. aufnahm und die allein durch ihren Produzenten Archi Alert (TERRORGRUPPE) exzellente Verbindungen zur Punk-Szene besitzt, nicht weiter. Im Gegenteil: Nach der Abfuhr traten K.I.Z. einfach inkognito auf dem Zeltplatz am Nürburgring auf und zeigten mit einem privaten Guerilla-Konzert dem Establishment den Mittelfinger. So wie man es Punks zutrauen würde. So wie es die Hosen beispielsweise schon häufiger machten am gleichen Ort. Und K.I.Z. sorgten für einen mittelschweren Polizeieinsatz, als sie vor dem Berliner U-Bahnhof Schlesisches Tor in Kreuzberg einen Spontangig unter dem Motto „Reclaim Your U-Bahn“ – „Holt euch eure U-Bahn zurück!“ – veranstalteten: Über tausend Leute kamen. Die Polizei rückte Augenzeugenberichten zufolge mit Mannschaftswagen und in Kampfausrüstung an. Die Veranstaltung endete im Chaos. Erinnerungen an die guten, alten Chaostage in Hannover wurden wach. Und das war ja nun die Punk-Sause per excellence. K.I.Z.-Rapper Maxim sagt im Interview mit dem Online-Musikmagazin Laut denn auch selber: „Bei unseren Konzerten sind immer sehr viele Punker. Den HipHop-Anteil im Publikum schätze ich so auf 30 bis 40% ein.“ Soll heißen: Wenn im Punk die Alternativen rar werden, dann schaut eben nicht nur Campino, sondern auch manch anderer offensichtlich liebend gerne einmal über den Szene-Tellerand hinaus und geht fremd. Geht zum HipHop und rappt fleißig mit.

Diesen Weg hinter sich haben auch die K.I.Z.-Szenekollegen Casper sowie Koljah, Danger Dan und Panik Panzer von der ANTILOPEN GANG. Casper, der seinen mit Indiepop-Elementen versetzten Rap mittlerweile schon vor 10.000 und mehr Menschen präsentiert, erwähnt immer wieder liebend gerne und mit nicht wenig Stolz seine Hardcore- und Punk-Vergangenheit, die er lange vor seinem Einstieg in den HipHop hatte und die ihm schon den mehr oder minder schmeichelhaften Ruf eines „Emo-Rappers“ einbrachte. Die drei von der ANTILOPEN GANG wiederum sind die perfekte Symbiose aus beiden Genres: Sie machen Rap. Und sie stehen beim DIE TOTEN HOSEN- und BROILERS-Label JKP unter Vertrag, wo sie von Menschen umgeben sind, die sich immer wieder auf ihre Oldschool-Punk-Vergangenheit berufen. Koljah trägt in der Öffentlichkeit fast immer eine SEX PISTOLS-Mütze sowie entsprechende T-Shirts. Auf manchen steht „Deutschrap muss sterben, damit wir leben können“ – eine Abfuhr an die elende Bushido-Fraktion und eine Forderung, es besser und intelligenter zu machen. Bei ihren Konzerten covern die Antilopen Teile aus „Bullenschweine“ von SLIME. Danger Dan gründete früher mit Panik Panzer sogar mal eine eigene Punkband: „Die hieß BIERSCHISS. Die hatte sich aber schnell erledigt, da wir unser erstes Konzert in den Sand setzten, weil ich zu viel getrunken hatte“, erinnert er sich und betont: „Ich höre gerne Punk. Ich bin dabei vor allem auf all die Bands von Claus Lüer konzentriert, also: KNOCHENFABRIK oder CHEFDENKER.“ Und das Trio erteilte allen rechten Vollidioten eine Abfuhr, als es vor zwei Jahren das Lied „Beate Zschäpe hört U2“ veröffentlichte – ein hochpolitisches Stück, das nicht nur die zur rechten Mörderbande des Nationalsozialistischen Untergrunds NSU zählende, vor Gericht stehende Zschäpe verhöhnt. Sondern das damals bereits das vorausnahm, was heutzutage überall zu beobachten ist auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken des Landes: den latenten Rechtsruck, der nun nicht mehr latent, sondern verfestigt ist. Der begann mit Stereotypen wie „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber ...“ oder „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen ...“ – und der sich heutzutage durch auf Ausländerheime fliegende Brandbomben und PEGIDA-Demonstrationen äußert. Dass die ANTILOPEN GANG bei JKP – und damit einem im Punk verwurzelten Label – landete, hat sie übrigens dessen Geschäftsführer Patrick Orth zu verdanken, der ins gleiche Horn stößt wie Campino: „Es stimmt: HipHop ist die Aufreger-Musik: Wenn du deine Eltern ärgern willst, dann spielst du ihnen heutzutage keinen Punk mehr vor, sondern HipHop. Denn HipHop ist extrem sprachgesteuert. Das kommt daher, dass HipHop eine Musik ist, die extrem am Puls der Zeit ist.“

Für Pablo „Mal Élevé“ Charlemoine vom stark in der linken Politik verwurzelten HipHop-Reggae-Punk-Kollektiv IRIE RÉVOLTÉS ist all das schlichtweg ein Phänomen des Zeitgeistes: „Punk wird eben nicht mehr so viel gehört wie früher. Die jungen Leute heutzutage hören HipHop und wollen HipHop machen, wenn sie sich zusammentun. Aber das hat eben damit zu tun, dass diese Musik derzeit angesagt ist: mehr Beats, weniger Gitarren. In ein paar Jahren sind Gitarren vielleicht wieder geiler.“ Wichtig sei: „Die Jugend ist immer am Start und sucht etwas, um damit anzuecken.“ Vielleicht, so vermutet Pablo, sei im HipHop die Diversivität größer. „Es spielen mehr Einflüsse mit rein.“ Das mache diese Musik interessanter. „Was aber nicht heißt, dass sie besser ist als Punk.“ Wie dem auch sei, IRIE RÉVOLTÉS sind ebenfalls eine von jenen Bands, bei denen das Publikum im Konzertsaal aus verschiedenen Szenen stammt. Sie liefern somit den nächsten Beweis, dass Punk und HipHop heutzutage oftmals auf einer Stufe agieren und mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede besitzen: „Bei uns auf den Konzerten sind auch viele Punks. Es hat sich gemischt. Es ist nicht mehr so festgefahren“, sagt Pablos Bruder und Bandkollege Carlos „Carlito“, der nach eigenen Worten selber „musikalisch im Punk sozialisiert“ wurde. „Wenn du damals Rap gehört hast, durftest du nicht Punk hören – und umgekehrt war es genauso. Du durftest das keinem erzählen. Das war ein absolutes No-Go. Heute aber geht es eben auch zuallererst um die Inhalte. Und wenn die Inhalte zu dieser antirassistischen oder entsprechend politischen Einstellung passen, dann ist die Musikrichtung egal.“ Dann seien Punk und HipHop wie zwei Brüder im Geiste. IRIE RÉVOLTÉS sind dafür das beste Beispiel: Die Band, bestehend aus fast einem Dutzend Musikern, ist politisch extrem engagiert. Dieses Engagement reicht vom Projekt „Respekt!“, das sich gegen Vorurteile, Rassismus, Homophobie und Sexismus richtet, über die Mitgliedschaft im Verein Viva con Agua, der sich für sauberes Trinkwasser in den Armutsländern einsetzt, bis hin zur Beteiligungen an der Initiative „Kein Platz für Rassismus“.

Bands wie IRIE RÉVOLTÉS, ANTILOPEN GANG oder ZUGEZOGEN MASKULIN wandeln mit ihrer politischen Einstellung letztlich auf den Spuren ihrer Vorgänger BLUMENTOPF, MICROPHONE MAFIA oder – mehr noch – ANARCHIST ACADEMY, die bereits in den Neunziger Jahren explizit linken und damit quasi „punkigen“ HipHop respektive Rap machten, die damit allerdings nicht einmal annähernd so viel Aufmerksamkeit erlangen konnten, wie ihre Nachfolger von heute. ANARCHIST ACADEMY wurden gar als „SLIME des Rap“ bezeichnet und publizierten das musikpolitische Fanzine Anarchist To The Front. Und die Band ADVANCED CHEMISTRY war wiederum der Zwilling dieser „anarchistischen Akademie“: Deren Musiker Tony L, Linguist und Torch veröffentlichten 1992 die Single „Fremd im eigenen Land“, die stark geprägt war vom FEHLFARBEN-Song „Militürk“. „Fremd im eigenen Land“ gilt noch heute als einer der ersten, klassischen Protestsongs des Wiedervereinigungsjahrzehnts.

Aber was denken nun diejenigen über das Phänomen „HipHop ist der neue Punk“, die über HipHop schreiben und somit Experten des Genres sind? Das bekannteste HipHop-Magazin hierzulande ist das Juice. Und dessen Autor Daniel Schieferdecker kennt das Phänomen der Nähe von Punk und HipHop sehr gut. Er selber sei ein gutes Beispiel dafür: „Ich selbst war zwar kein Punk, habe früher aber in einer Death-Metal-Band gespielt. Und als solche traten wir häufig zusammen mit Hardcore- und Punk-Bands wie TERRORGRUPPE auf.“ Er sei zudem „durchaus interessiert“ an Punk und besitze neben Rap-Alben auch zig Platten von ABWÄRTS, HANS-A-PLAST, SLIME, DIE ÄRZTE, DIE TOTEN HOSEN, DAF, MALARIA, FEHLFARBEN, EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, RAMONES, THE CLASH, SEX PISTOLS und Co. Und: „Ich habe sowohl die Bücher ,Please Kill Me‘ als auch ,Verschwende deine Jugend‘ gelesen.“ Beide gelten als Prototypen einer musikhistorischen Abhandlung über Punk in Deutschland und in den USA. Seiner Meinung nach, da ist Daniel Schieferdecker überzeugt, habe schon in den Anfängen des Deutschraps zu Beginn der Neunziger Jahre eine Verbindung von HipHop und Punk existiert: „Generell sind viele HipHop-Bands, die damals angefangen haben, häufig mit Punkbands aufgetreten, weil diese eben auch in irgendwelchen autonomen Jugendzentren gespielt haben.“ Zwei Szenen, die sich am gleichen Ort tummelten und sich zwangsläufig miteinander auseinandersetzen und arrangieren mussten – und die dabei mitunter eben auch Gemeinsamkeiten entdeckten. Ein weiterer Grund für dieses Miteinander: „Generell hatten – über die Punkbands hinaus – eben auch fast alle frühen HipHop-Acts Songs gegen Nazis im Repertoire, schließlich waren Ereignisse wie die Ausschreitungen in Hoyerswerda und anderswo damals sehr präsent.“ Und dann habe es auch noch Künstler wie F.A.B., bei denen Ferris MC (heute bei DEICHKIND) eine starke Punk-Sozialisierung hatte, SAPRIZE oder SUCH A SURGE gegeben, die einen Crossover aus Rap und Punk spielten.

Dass gerade der Rap heutzutage als die politische Musik überhaupt – eben ein bisschen als der neue Punk – gelte, wagt Daniel Schieferdecker zwar nicht endgültig zu postulieren. Aber er sagt: „Aufgrund des Umstands, dass Rap die mit Abstand wortreichste Musikrichtung ist, bietet sie sich natürlich für Statements jeglicher Art an – auch zu politischen Themen.“ Überhaupt sei Rap sicherlich eine der politischsten Musikrichtungen. „Das war er spätestens seit PUBLIC ENEMY.“ Das liege in der gemeinsamen Anlage begründet: „Beides sind Subkulturen, die aus dem Umstand entstanden sind, dass ihre Protagonisten nicht viel brauchten, um sich ihr zu widmen. Musste man beim Punk lediglich ein paar schrammelige Akkorde auf der Gitarre spielen können, brauchte man zum Rappen lediglich einen Beat. Es sind klassische Do-It-Yourself-Kulturen: In beiden Musikrichtungen geht es darum, dass ihre Protagonisten etwas zu sagen haben, was sie anderweitig oft nicht loswerden. Weder im Rap noch im Punk scheren sich die Protagonisten darum, was andere über sie denken.“

Geht man einmal vom Rap in Deutschland weg und betrachtet die Sache mit der Nähe zum Punk einmal kurz aus internationaler Sicht, dann landet man natürlich schnell beim Ur-Punk-Label Epitaph in den USA: Dort steht seit einiger Zeit mit ATMOSPHERE ein lupenreiner HipHop-Act unter Vertrag. Und dann landet man sogar schnell bei der Mainstream-HipHopperin Neneh Cherry, die tatsächlich beide Seiten kennt: Cherry war als 16-Jährige Mitglied der feministischen Punkband THE SLITS, ehe sie zum Rap-Superstar wurde. Und sie sagte jüngst erst in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel: „Bei Punk ging es um Wut und darum, deinem Ärger Luft zu machen, was eine sehr gute Sache war. Für mich stand diese Punk-Mentalität aber nie für Tod und Zerstörung, sondern für die Idee, dass absolut alles möglich ist. Es geht darum, Risiken einzugehen und militant zu sein. Dieser militante Aspekt mag mittlerweile in den Hintergrund getreten zu sein, aber Autarkie und D.I.Y. sind immer noch wichtig. HipHop hat diese Haltung übernommen. Und möglicherweise ist HipHop daher auch der neue Punk.“ Für Campino ist er zumindest immer schon ein Seelenverwandter gewesen: „Das hat schon viel miteinander zu tun. Vor allem, wenn man sich vor Augen führt, wo HipHop herkommt.“ Das sei Musik gewesen für die Underdogs aus den Ghettos in den USA. Punk und Rap – beide seien also „zu 100%“ zu vergleichen. „Ich glaube sogar“, sagt Campino, „Eminem ist für die USA auf seine Art so wichtig wie die SEX PISTOLS zu ihrer Zeit für England.“ Nicht zu vergessen: Platten wie „It Needs A Nation Of Millions To Hold Us Back“ oder „Fear Of A Black Planet“ von PUBLIC ENEMY, „Straight Outta Compton“ von N.W.A. (Niggaz With Attitude) und nicht zuletzt auch „Licensed To Ill” von den BEASTIE BOYS mit seinen ganz offenen Anspielungen an Punk in musikalischer Hinsicht waren schon immer genau das: Punk im anderen Gewand. Eine Ohrfeige für den Status quo. Und eine Ohrfeige für all jene, die diesen Status quo erhalten wollten, um ihre eigene Macht zu sichern. Rap subversiv. Rap revoluzzerhaft.

Stellt sich die Frage, ob Rap dem Punk tatsächlich langfristig den Rang ablaufen kann als die ultimative subversive, politische Musik. Es ist Patrick Orth von JKP, der diesbezüglich eine klare Aussage macht: Und die lautet: „Nein.“ Denn: „Die meisten HipHop-Platten sind anfangs erfolgreich, aber nach kurzer Zeit landen sie auf dem Wühltisch und kaum einer interessiert sich mehr dafür.“ Das habe er in seiner Zeit vor JKP, beim Label Virgin, mehrfach erlebt. „Ich höre ja selber viele HipHop-Platten. Aber ich höre sie nach fünf, sechs Jahren eben nicht mehr. Punk-Platten dagegen, Platten von MOTÖRHEAD oder auch ein Album wie ,Appetite For Destruction‘ von GUNS N’ ROSES, das ja auch irgendwie mit Punk spielt, hole ich immer noch und immer wieder mal raus.“ HipHop sei eben eine Musik, die gerade aufgrund ihres Status „am Puls der Zeit“ schnell auch wieder unzeitgemäß sei. „Dieses ganze Gangsta- und Aggro-Berlin-Ding ist ja das beste Beispiel dafür.“ Und: „So groß wie Punkrock war HipHop auch nie. Weder hierzulande noch in England!“ Ihm habe sich jedenfalls kein HipHop-Konzert je so ins Hirn gebrannt wie es mit Punk-Konzerten der Fall gewesen sei. „Und ich habe in den Achtzigern jede Menge Rapper live gesehen, darunter RUN DMC, LL Cool J und PUBLIC ENEMY.“

Letztendlich muss man wohl abwarten und sehen, was passiert. Beobachten, wie sich beide Genres in den kommenden Jahren entwickeln. Und dabei vier Dinge nicht vergessen. Erstens: Ein Blick auf Rap – und mit ihm auf die gesamte HipHop-Kultur – lohnt sich jederzeit. Auch für die Hardliner und Szenepolizisten des Punk, die Rap vielleicht noch immer als unvereinbar mit ihrer Sache ansehen. Zweitens: Dieser Blick lohnt auch dann, wenn es plötzlich um den verpönten Erfolg im großen Stil geht, wie ihn heutzutage so einige HipHop-Acts haben. Drittens: Abschreiben muss man den Punk ob dieses Phänomens noch lange nicht. Denn natürlich lebt auch diese Szene nach wie vor in einem Ausmaß, das sich kaum greifen lässt und das alle Beteiligten – Künstler, Hörer, Fanzinemacher – Jahr für Jahr, Monat für Monat, Woche für Woche und Tag für Tag vor das Problem des Platzfindens, Aussortierens und Prioritätensetzens stellt. Und viertens: Was ist schon Punk? Die verzerrte Gitarre mit Geschrei? Der Drei-Akkorde-Song? Der Iro auf dem Kopf? Die Lederjacke mit Nieten? Oder vielleicht doch zuallererst die Einstellung, die Aussage, die Botschaft – vollkommen egal, in welches musikalische Korsett all das verpackt ist? Punks sollten mehr Rap hören. HipHopper sollten mehr Punk hören. Schaden kann es nicht. Die Zeiten geben es her und machen es erforderlich, den Mund aufzureißen und Stellung zu beziehen. Gebrüllt, gesungen oder gerappt.

 


AUCH WENN ES ...

... dem einen oder anderen schwer fallen sollte: Eine Beschäftigung mit HipHop als Jugendkultur generell und deren Musik, dem Rap, speziell lohnt sich auch für die Hardliner unter den Punk- und Rock’n’Roll-Verfechtern. Warum? Weil die Intention beider Genres gar nicht so selten gar nicht so weit voneinander entfernt ist.

Ergänzend zu unserem aktuellen Hip-Hop-Special gibt es im Folgenden eine Liste von zehn nationalen und internationalen Alben, die der Autor – der sich selber ausdrücklich nicht als Hip-Hop-Experten sieht, der aber ein musikalischer „Über den Tellerand schauen“-Verfechter ist – halb subjektiv, halb objektiv zusammengestellt hat.

Auf der Liste stehen diese Platten, weil sie entweder musikalisch Rap und Punk verbinden. Oder weil sie textlich und inhaltlich auf Punk-Gebiet wandeln. Relevant sind sie jedenfalls allesamt. Und: Diese Liste ist natürlich nicht einmal annähernd vollständig. Wer will, kann ja auch mal bei Eminem reinhören. Oder bei RUN DMC. Oder bei Lauryn Hill. Oder bei MEGALOH. Oder bei DEICHKIND. Oder bei F.A.B. Oder bei SUCH A SURGE. Oder, oder, oder…

BEASTIE BOYS „Licensed To Ill” (1986, Def Jam)

PUBLIC ENEMY „It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back“ (1988, Def Jam/Columbia)

ADVANCED CHEMISTRY

„Fremd im eigenen Land” (1992, MZEE)

ANARCHIST ACADEMY

„Anarchophobia” (1994, Tribehouse)

K.I.Z. „Sexismus gegen Rechts“

(2009, Royal Bunker)

IRIE RÉVOLTÉS „Mouvement Mondial“

(2010, Ferryhouse)

Casper „Hinterland“ (2013, Four Music)

ANTILOPEN GANG „Aversion“ (2014, JKP)

Marsimoto/Marteria „Ring der Nebelungen“

(2015, Four Music)

ZUGEZOGEN MASKULIN „Alles brennt“

(2015, Buback)