Anarchie für Allah

Foto

Punk und Hardcore in der Türkei

Als ich vor zirka einem Jahr in Istanbul bei Tayfun von De Form Musik ein Buch über Punk und Hardcore in der Türkei gegen meines über den Schweizer Punk und Wave tauschte, war ich von der Größe und Vielfalt von „An Interrupted History of Punk and Underground Resources in Turkey 1978-1999“ überrascht. Wie ihr euch gut vorstellen könnt, ist es natürlich das erste Buch in dieser Form über den türkischen Punk. Auf 570 Seiten (auf Türkisch und Englisch) gibt es unzählige Interviews, die der bekannte albanischstämmige Soziologe und Autor Sezgin Boynik und Tolga Güldalli, der selbst Teil der türkischen Punk-Szene ist, mit den Protagonisten der Zeit geführt haben.

Doch zuerst mal eine kurze Einführung zum besseren Verständnis: Mitte der 70er Jahre entstand Punk in Europa und den USA als Ausdruck von Wut und Frustration bei Teilen der Jugendlichen gegenüber ihren Eltern und der vorhergehenden Hippie-Generation. Zur gleichen Zeit beschäftigte sich die Türkei mit Straßenschlachten, Streiks und radikalpolitischen Strömungen, was schließlich am 12. September 1980 zu einem Staatsstreich der Armee führte. Auf diesen „Coup d’état“ folgte für viele Andersdenkende Folter, Gefängnis, Hinrichtungen, Exil, Verbote und Zensur. Die Opposition, vor allem die Linke, wurde ausgeschaltet oder ruhig gestellt. Hinterlassen wurde ein Vermächtnis der systematischen Entpolitisierung der Bevölkerung und genereller Entmenschlichung, wobei es der politischen Führung gelang, dies in allen Segmenten der Gesellschaft durchzusetzen, einschließlich der Universitäten und künstlerischen Gruppierungen. Danach kamen das Zeitalter von „Onkel Özal“, des Schnell-reich-Werdens, der Videokassetten und der Musikrichtung Arabesk.

Ab Mitte der 80er gab es aber trotzdem einen Raum für Jugendliche, die sich „anders“ fühlten und sich dieser staatlichen Bevormundung entziehen wollten. Es handelte sich um Heavy Metal. In Istanbul und Ankara gab es Treffpunkte, an denen Kassettenkopien von ausländischen Alben gemacht und Heavy-Metal-Magazine aus dem Ausland gelesen werden konnten. Für viele war diese Einführung in die Welt des Heavy Metal der direkte Weg zum Punkrock und somit auch Ausgangspunkt für die damit verbundene Attitüde und den einhergehenden Stil. Zu dieser Zeit existierten im Bereich Punk ja schon viele verschiedene Facetten, die erforscht werden konnten, falls man an die Informationen gelangte.

Zunächst manifestierte sich Punkrock in der Türkei äußerlich in Form von langen Haaren, Piercings und zerrissenen Jeans und war somit der Ausdruck der eigenen Individualität. Abgesehen von dieser persönlichen Ebene versäumte es die Punk-Szene allerdings, einen kulturellen oder politischen Raum für sich zu beanspruchen. Zur Verteidigung muss jedoch gesagt werden, dass die türkische Jugend sich noch nie ein Mitspracherecht bei gesellschaftsbezogenen Themen irgendeiner Art hat erkämpfen können. Aus wirtschaftlichen und auch sozialen Gründen ist die Zugehörigkeit zu einer Subkultur meist auf eine kurze Phase im Leben von nur wenigen Jugendlichen begrenzt, bis schließlich die Schule zu Ende ist und der Wehrdienst beginnt. Obendrein funktioniert die türkische Gesellschaft noch immer nach traditionellen, sehr religiösen und konservativen Werten. Diesem Druck, der konstant auf den Jugendlichen lastet, ist schwer zu entkommen, es sei denn, man geht ins Ausland, was auch viele machen, wird ihnen die Chance geboten. In der Türkei wird, wie ja in vielen anderen Ländern auch, Punk oft gleichgesetzt mit Perversion und Anarchismus (und beides könnte stimmen), was natürlich umgehend mit wenig zimperlichen Methoden beantwortet wurde.

1978

Wie man aus dem Titel des Buches vermuten kann, soll der Punk in der Türkei 1978 losgelegt haben. Dies wird hier aber eher wie ein Witz behandelt. Die „Rock“-Band TUNAY AKDENIZ VE GRUP ÇIGRISIM druckte in großer Schrift auf das Cover ihrer LP das Wort „Punkrock“. Sie glaubte, damit mehr Platten verkaufen zu können, da dieser Ausdruck ja gerade ganz neu war und zwar nicht nur in der Türkei. Komischerweise muss man aber auch einen Song dieser Gruppe auf der zum Buch beigelegten CD über sich ergehen lassen.

1987

Als erste türkische Punkband, die live gespielt hat, werden die HEADBANGERS aus Istanbul angegeben, welche sich zuvor noch LSD nannten. Der französische Punk-Weltreisende Luk Haas veröffentlichte 1994 auf seinem Label Tian An Men den türkischen Punk-Sampler „Sevdasiz Hayat Ölümdür“. Darauf sind Live-Aufnahmen von ihnen aus dem Jahr 1989 zu hören. Außerdem befinden sich darunter auch Songs der ersten Frauenband, den SPINNERS aus Ankara. Diesen beiden Bands wird viel Platz im Buch eingeräumt und die dazugehörenden Interviews gehören für mich zu den interessantesten. Da sie wie, übrigens genau wie ich, Oldschool sind, gibt es auch keine MySpace-Seite von ihnen. Des Weiteren erwähnenswert wären die Hardcore-Band S.A.D, die in der Hardcore-Szene als Erste türkisch sangen, was damals anscheinend ein Tabu war, und sich später in ASK IT WHY umbenannten,sowie NECROSIS und die heute noch existierenden RADICAL NOISE.

1991

Eine neue Generation von Bands sollte sich nun formieren. Und auch eine eigene Fanzine-Kultur entstand aufgrund fehlender anderweitiger Informationsquellen zwecks Kommunikation und Austausch von Wissen innerhalb der Punk-Szene. Dies führte zu wichtigen neuen Impulsen und wird ausführlich im Buch behandelt. ATHENA, die damals noch Thrash Metal spielten und heute die mit ihrem Ska-Punk heute wohl die bekannteste türkische Gruppe sind, erklären im Buch mittels eines langen Interviews ihre Transformation.

1994

Von den drei Bands RADICAL NOISE, NEKROPSI und TURMOIL wurde in diesem Jahr zum ersten Mal ein Album im Ausland herausgebracht. RADICAL NOISE stand für den zur damaligen Zeit angesagten Hardcore und ist immer noch im Ausland ein Begriff. In der Türkei polarisierten sie damals stark zwischen den Anhängern der Metal- und der Punk-Fraktion.

1999

Das RASHIT-Album „Tela?a Mahal Yok“ kam auf dem Indielabel Kod-Muzik heraus, sozusagen das erste „offizielle“, türkische Punk-Album. An dieser Stelle endet das Buch dann auch. Vor allem das Internet und die globale Vereinnahmung von Punk, bis in den hinterletzten Straßenmarkt der Welt, speziell was Musik und Mode betrifft, hat auch in der Türkei einiges verändert. Zum Beispiel stammt auch die einzige Punkband, die je beim Eurovision Song Contest aufgetreten ist, aus der Türkei. Als Vertreter des Gastgeberlandes belegten ATHENA 2004 mit dem Titel „For real“ den vierten Rang. Der Song wurde später zum Top-20-Hit in Griechenland.

Und falls ihr euch jetzt, nach diesem Artikel, angesprochen fühlen solltet, eine Reise in die Türkei zu unternehmen, und euch die Bullen fragen, was das umkreiste „A“ auf eurer Jacke zu bedeuten hat, dann antwortet am besten: „Das A symbolisiert Allah“. Zum Buch gibt es übrigens, wie schon gesagt, eine CD mit Songs vieler wichtiger Bands aus dem Bereich Thrash Metal, Punk und Hardcore, die in der Zeit von 1987 bis 1999 aktiv waren.

Seit kurzem ist „An Interrupted History of Punk and Underground Resources in Turkey 1978-1999“ auch im deutschsprachigen Raum bei Klang und Kleid erhältlich. Im folgenden ein Interview mit Tolga Güldalli, einem der beiden Autoren.

Bitte erzähl uns, wie du und Sezgin Boynik auf die Idee kamt, ein Buch über den türkischen Punk zu schreiben.

Sezgin stammt ursprünglich aus dem Kosovo und studierte Soziologie in der Türkei. Vor vier Jahren erzählte er mir, er wolle ein Buch über die Underground-Musikszene von Istanbul schreiben. Ich war scheinbar der Einzige, der ihm dabei helfen konnte, da niemand anders mehr aus der Szene der 90er Jahre übrig war, der ihn mit Informationen und Kontakten zu den Bands und Fanzine-Machern versorgen konnte. Sezgins Plan war in der Tat ein Traum, da kein Herausgeber in der Türkei so eine Geschichte veröffentlichen würde. Zwei Jahre später ging er zurück in den Kosovo und fand einen Herausgeber, der an der Sache interessiert war. So hat das Projekt begonnen und es dauerte ein Jahr, um es fertig zu stellen.

Wie seid ihr dabei vorgegangen und wie habt ihr euch die Arbeit aufgeteilt?

Wir hatten nicht wirklich eine spezifische Aufgabenteilung. Einige der Interviews wurden von Sezgin, einige von mir und ein paar von uns beiden gemacht. Sezgins Fragen waren eher komplex, meine mehr spezifisch. Die aufgenommen Interviews, einige Übersetzungen, das Mastering der CD-und weitere Aufgaben wurden von einem Arbeitskollektiv kostenlos übernommen.

Wer hat das Buch finanziert?

Das Buch erschien bei BAS. Der Verlag wird von einer einzigen Person geführt und veröffentlicht normalerweise Kunstbücher. Der Druck des Buches wurde mit Unterstützung einer Kunststiftung finanziert.

Wann erschien das Buch und wie reagierten die Punk-Szene, die Öffentlichkeit sowie die Medien in der Türkei?

Zuerst möchte ich hier sagen, dass es in der Türkei so gut wie gar keine Musikbücher gibt. Somit war dieses Buch schockierend und zwar erst recht, da es ein sehr umfangreiches und detailliertes Projekt über den türkischen Punk ist. Aber die Musikpresse war nicht wirklich daran interessiert, vielleicht weil sie keinen Bezug dazu hat. Generell sind die Reaktionen aber positiv. Die meist gestellten Fragen sind, warum wir nur die Zeit bis 1999 im Buch behandelt haben und warum nur einige bestimmte Bands zur Sprache kommen. Nun, dieses Buch ist gewiss keine allumfassende Diskografie über den türkischen Punk bis zum heutigen Tag ...

Ich vermute, dass die türkische Regierung, nationalistische oder gar religiöse Gruppierungen in der Türkei nicht sehr glücklich mit diesem Buch sind. Stehst du jetzt etwa, wie der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, konstant unter Beobachtung und Personenschutz?

Dieses Buch, genauso wie Punk im Allgemeinen, sind in der Türkei nur einer sehr begrenzten Elite bekannt. Unser Buch ist in diesem Sinne keine Bedrohung für die Menschen. Falls dieses Buch für die Regierung eine Gefahr darstellen würde, hätte diese unzählige Mittel und Wege, um uns ruhig zu stellen.

Gab es in irgendeiner Form eine Zensur? Ich habe nämlich das Gefühl, es war nicht möglich, dass die im Buch befragten Personen wirklich alles erzählen können?

Wir oder die Befragten selbst haben bestimmte Aussagen zensiert, von denen wir dachten, es könnten daraus Probleme und Missverständnisse entstehen.

Warum ist das Buch ein gutes Jahr nach seinem Erscheinen im Ausland immer noch kaum erhältlich, obwohl es ja auch in Englisch verfasst wurde?

Wir haben neun Monate nach Veröffentlichung des Buches eine Seite ins Netz gestellt. Ich habe sie selbst programmiert und es dauerte sehr lange, da ich einer normalen Arbeit nachgehe. Deshalb wird das Buch im Ausland erst jetzt langsam wahrgenommen. Sezgin lebt des weiteren nicht in der Türkei und der Verlag ist schließlich auch nur ein Ein-Mann-Unternehmen. Außerdem klappt auch die Koordination untereinander in Bezug auf den Vertrieb nicht so wirklich. Wir konnten bis heute nur ein paar Exemplare ins Ausland versenden. Doch es besteht durchaus internationales Interesse an dem Buch, vor allem in Deutschland. Vielleicht ist es dem Umstand zu verdanken, dass in Deutschland viele Türken leben und sich somit auch für türkischen Punk interessieren.

Kannst du mir sagen, wie sich in den letzten zehn Jahren die Punk-Szene in der Türkei verändert hat? Dies ist ja leider die Periode, die im Buch nicht behandelt wird.

Der Fokus des Buches liegt auf der Ausbreitung des Punkrocks und wie er trotz schwieriger Umstände überleben konnte. 1999 war ein Wendepunkt, da das erste offizielle Punk-Album einer türkischen Band veröffentlicht wurde und dieses erreichte durch das Internet ein größeres Publikum. So wurde alles einfacher, aber auch banaler. Was hat sich geändert, was nicht? Punk ist immer noch ein Musikstil und eine Jugendbewegung und wurde hier nie als eine politische Bewegung verstanden. Ebenso sind die türkische Gesellschaft und ihre Lebensformen nicht besonders geeignet für Punk. Es gibt momentan keine Fanzines und Vertriebe. Wir haben jetzt mehr Bands, aber in Bezug auf den Stil, ist es mir unmöglich zu sagen,ob die Szene nun dadurch bereichert worden ist. Es kommen immer noch nur sehr wenige Leute auf die Konzerte. Es gibt fast keine Klubs, die Punk-Gigs veranstalten wollen.

Hat sich was in deinem Leben nach der Veröffentlichung des Buches verändert?

Nein, gar nichts, weder im positiven noch im negativen Sinne. Das Buch wurde mit einem sehr begrenzten Budget veröffentlicht und wir haben keine zusätzlichen Gelder für irgendetwas, das folgen könnte, erhalten. Dennoch hoffe ich, dass dieses Buch nicht das einzige in seiner Art bleiben wird und weitere zum Thema Musik und Kultur gemacht werden können. Wobei aber auch erwähnt sein muss, dass die Veröffentlichung von Büchern in der Türkei einen absoluten Luxus darstellt!

Lurker Grand