ALICE BAG

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Punk/Feministin/Aktivistin

Es braucht nicht viel, um zu bemerken, dass Alice Bag in mehr als nur ein paar großartigen Bands gespielt hat. Im Alter von 19 Jahren wurde sie 1977 in L.A. Sängerin und Frontfrau der BAGS, die nächsten Stationen waren Bands wie CAMBRIDGE APOSTLES, CASTRATION SQUAD und CHOLITA. Parallel dazu dokumentierte sie mit Hilfe unterschiedlichster Medien ihre stilistische und musikalische Entwicklung. Sie betrachtet sich selbst als feministische Aktivistin, die ihre Energie und ihre Kunst einsetzt, um sich mit Fragen zu Rasse, Klasse und Geschlecht zu befassen. Sie ist Archivarin, Autorin und war auch schon als Schullehrerin tätig. In den letzten Jahren hat sie eine Reihe von Alben und Büchern veröffentlicht, darunter mit „Violence Girl“ eine Art musikalische Autobiografie, sowie „Pipe Bomb For The Soul“, basierend auf ihren Tagebüchern aus Nicaragua von 1986, in denen sie verschiedene Aspekte der postrevolutionären sozialistischen Gesellschaft untersucht. Unbedingt zu empfehlen sind auch ihre Soloalben „Alice Bag“ (2016), „Blueprint“ (2018) und aktuell „Sister Dynamite“, das Anfang 2020 auf In The Red erschien.

Was ist dir bei einem Auftritt am wichtigsten?

Ich muss zu meinem Publikum eine Verbindung aufbauen. Ein unvergessliches Konzerterlebnis beruht immer auf dem Austausch von Energie, Ideen und Emotionen. Es ist aufregend, wenn die Leute richtig dabei sind und ein gemeinsames Gefühl entsteht.

Ist Musik für dich die beste Form des künstlerischemn Ausdrucks?
Das Schreiben von Musik und Texten hilft mir, meine Ideen und Emotionen einzufangen, und das Ganze dann aufzunehmen und auf Vinyl zu pressen. Aber am schönsten für mich – und auch das, was ich wohl am besten kann – ist der Kontakt mit den Menschen während einer Live-Performance.

Warum sollten deine Meinungen und deine Musik gehört werden?
Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Wort „sollte“ verwenden würde, weil es so nach Vorschrift klingt. Ich denke, die Leute könnten sich für meine Arbeit interessieren, weil ich was Kluges zu sagen habe und gute Musik mache. Und als queere, farbige Frau finde ich es wichtig, dass gegenwärtige und künftige Generationen von Punks wissen, dass Punk in seinen Ursprüngen inklusiv und vielfältig war, und dass es weiterhin ein offenes Spielfeld bleibt, wo alle willkommen sind.

Wie hilft deine Musik den Menschen?
Musik kann Menschen helfen, sich mit anderen Menschen verbunden zu fühlen. Jeder Mensch hat Zeiten in seinem Leben, in denen er sich allein fühlt. Musik kann Ausdruck einer gemeinsamen Erfahrung sein. Ein Lied kann dich daran erinnern, dass schon andere sich so gefühlt haben, wie du dich fühlst, und manchmal kann allein dieses Wissen jemandem helfen. Musik im Allgemeinen und Punk im Besonderen haben mir geholfen, schwierige Zeiten zu überstehen. Als Songwriter weiß ich auch, dass die Leute manchmal zuerst auf den Rhythmus und die Melodie anspringen, erst danach beginnen sie, auch auf den Text achten. Lieder sind also eine gute Möglichkeit, eine Botschaft so zu vermitteln, dass es Spaß macht und die Zuhörer bei der Stange hält.

Als du mit der Musik anfingst, was wolltest du da vor allem machen?
Als ich zum ersten Mal in einer Band singen sollte, wollte ich unbedingt eine gute Sängerin werden. Meine Idole waren Aretha Franklin und Betty Wright. Ich liebte auch mexikanische Rancheras, also die Art von Musik, die normalerweise mit einem Mariachi verbunden ist. Was tatsächlich passierte, als ich auf die Bühne kam, war völlig unerwartet: Ich fühlte mich wie eine Besessene. Meine Kindheitstraumata brachen durch, und mein Gesang verwandelte sich in Heulen, Grunzen und Schreien, so dass das, was ich tun wollte, und das, was schließlich dabei herauskam, zwei total verschiedene Dinge waren. Seltsamerweise konnte das Publikum dennoch mit unserer Performance etwas anfangen, auch wenn ich mit meiner Stimme wirklich keine schönen Töne fabrizierte.

Als ich ein bisschen über dich recherchiert habe, stieß ich ständig auf die Begriffe Punk/Feministin/Aktivistin. Nervt das nicht manchmal? Was machst du sonst noch? Wer oder was bist du außerdem?
Hahaha, nein, es wird nicht lästig, das alles bin ich. Dazu bin ich Mutter und als solche empfinde ich eine enorme Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen, die unter unseren Fehlern und unserer Apathie zu leiden haben werden. Ich glaube wirklich an die Kraft von Punk. Punk hat mich gelehrt, dass es nichts weiter braucht als Kreativität, Wagemut und Entschlossenheit, um alles zu tun, was man tun will. Durch Punk weiß ich, dass wir in der Lage sind, die Welt so zu verändern, wie es nötig ist. Die Jugendzeit kann wunderbar unbekümmert sein, aber ich bin sechzig. I don’t have time to fuck around!

Dazu fällt mir etwas ein, das ich mal irgendwo von dir gelesen habe. Da hast du erzählt, wie du bei einer Show am Ende eines Liedes so inspiriert und aufgeladen warst, dass das dein Leben verändert hat.
Ja, das ist wahr. Das war in einem Raum, der völlig abgedunkelt war, nur die Bühne war beleuchtet. Ich konnte maximal die Leute sehen, die ganz vorne standen und zwei oder drei Reihen weiter; der Rest der Zuschauer verschwand allmählich in der Dunkelheit. Ich spürte eine sehr starke Verbindung mit dem Publikum, und da ich das Ende des Raumes nicht erkennen konnte, stellte ich mir vor, dass diese Verbindung unendlich sei. Mich überkam ein Gefühl der Stärke und ich hatte so was wie eine Offenbarung – wenn wir alle gemeinsam handeln, dann kann uns niemand mehr aufhalten.

Ich nehme an, dass du das schon eine Million Mal gefragt worden bist, aber wie war es, als eine der ersten Frauen in einer Punkband zu singen, damals in L.A.?
Mir erschien Punk am Anfang wie ein weites, offenes Feld. Punk erforderte keine Fertigkeiten, keine Ausbildung oder Erfahrung, so dass diejenigen von uns, die nicht mit diesen Dingen ausgestattet waren, das Gefühl hatten, dass wir uns auf der gleichen Ebene befanden. Punk schätzte Innovation und Originalität. Es gab eine ganze Reihe von Frauen, von denen noch nie jemand gehört hatte, die Lieder über Dinge sangen, die Frauen noch nie zuvor gesungen hatten; es gab also Originalität sowohl in Bezug auf Timbre wie auch Inhalt. Die frühe Punk-Szene bestand aus Verrückten und Außenseitern; wir erkannten die Einzigartigkeit in uns selbst und verbanden uns über unsere Macken hinweg. Wir wurden wie eine große Familie, wir feuerten uns gegenseitig an und besuchten die Shows der anderen. Ich denke also, in dieser Hinsicht haben wir uns alle gegenseitig geholfen.

Wie hat sich deine Motivation für das, was du tust, im Laufe der Zeit verändert?
Seit ich älter bin, spüre ich eine größere Dringlichkeit, meine Musik zu veröffentlichen und zu verbreiten. Meine künstlerische Vision ist klarer, und der Alterungsprozess erinnert mich an meine eigene Sterblichkeit. Ich schätze, ich möchte nicht komplett verschwinden, ich möchte etwas Gutes in der Welt zurücklassen. Das Witzige ist, dass ich schon sehr lange Musik mache, ich war in Dutzenden von Bands, aber ich habe mir nicht immer die Zeit genommen, in ein Studio zu gehen, um meine Lieder aufzunehmen. Ich weiß nicht, worauf ich gewartet habe.

Betrachtest du dich selbst als Punk?
Ja, ich werde immer Punk sein. Punk hat mich geprägt, er hat mir eine Bühne gegeben, von der aus ich meine Wahrheiten rausschreien konnte, durch ihn weiß ich um die Kraft einer Gemeinschaft, soziale Veränderungen herbeizuführen, und er hat mir gezeigt, dass Weirdness eine Stärke und keine Schwäche ist.

Braucht der Feminismus deiner Meinung nach Punk?
Ich sehe es andersherum; es ist Punk, der Feminismus braucht. Wenn es sich bei Punk wirklich darum dreht, den Status quo infrage zu stellen, gehört es auch dazu, das Patriarchat herauszufordern.

Inwiefern, glaubst du, überschneiden sich Punk und Feminismus hier?
Ich denke, dass Punk wie auch Feminismus versuchen, sämtliche Erwartungen zu zerstören. Und es geht bei beidem um Selbstbestimmtheit.

Gibt es irgendetwas, an das du glaubst, auch wenn es sich nicht beweisen lässt?
Haha, das ist eine großartige, aber knifflige Frage. Obwohl ich gerne glaube, dass meine Handlungen und Überzeugungen auf Vernunft beruhen, habe ich gelernt, mir selbst ein wenig Freiraum zu lassen. Ich glaube, es gibt andere Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen, die über unsere traditionellen fünf Sinne hinausgehen, auch wenn es vielleicht schwer zu erklären ist. Ich habe gelernt, meinen Instinkten zu vertrauen. Manchmal habe ich ein bestimmtes Gefühl gewissen Leuten oder Orten gegenüber und schaue dann genauer hin, obwohl es dafür keinen triftigen Grund gibt. Es gibt Dinge, für die es bisher keinen Nachweis gibt, weil wir einfach nicht genug darüber wissen, aber das ist etwas anderes als Dinge, die erwiesenermaßen falsch sind. Wenn etwas sicher widerlegt ist, glaube ich auch nicht mehr daran.

Du machst auch viele Spoken-Word-Veranstaltungen. Was gibt dir das, was ein Live-Auftritt mit einer Band nicht bieten kann? Hast du irgendwann in deiner Entwicklung als Künstlerin festgestellt, dass du deine Gefühle oder Ideen nicht in gleicher Weise rüberbringen kannst, wenn noch Musik dazukommt?
Mitte der 2000er Jahre zog ich von Los Angeles weg, um in der Wüste von Arizona zu leben. Ich kannte dort niemanden, und so funktionierte meine übliche Methode, eine Bands zu gründen und gemeinsam an Musik zu arbeiten, dort nicht. Ich habe trotzdem noch Songs geschrieben, obwohl es ein ziemlich einsames Unterfangen war. Zur gleichen Zeit zwang die Finanzkrise meinen Mann, von dort wegzugehen, um sich außerhalb des Bundesstaates nach einem möglichen Job umzusehen. Ich war bereits Bloggerin, aber durch die Trennung hatte ich viel mehr Zeit zum Schreiben, und die Ergebnisse mit ihm zu teilen, gab mir das Gefühl, dass wir trotz der großen Entfernung immer noch verbunden waren. Meine damalige Blog-Serie hieß „The True Life Adventures of Violence Girl“. Sie dokumentierte meine frühe Kindheit und ging weiter mit meinen Erlebnissen in der frühen Punk-Szene. Ich fand Follower und aus dem Blog wurde schließlich mein erstes Buch „Violence Girl“. Bevor das Buch herauskam, noch während es beim Verlag war, fing ich an, bei dem Gedanken an öffentliche Lesungen in Panik zu geraten. Die Vorstellung machte mich total nervös, und ich hatte Angst, dass ich mich hoffnungslos verhaspeln könnte. Ich erinnere mich noch an meine erste Lesung, das war an einer Universität. Ich verbrachte die Tage vor der Lesung damit, die Kapitel, die ich vorlesen wollte, zu üben, so wie ein Filmdrehbuch, aber meine Stimme zitterte immer. Am Abend davor sprach ich mit jemand darüber und vertraute ihm meine Ängste an. Er schlug mir vor, meine Akustikgitarre mitzunehmen und vor der Lesung ein Lied zu singen. Ich folgte seinen Rat und kann ihm nur dankbar sein. Die Integration von Musik in meine Lesungen machte die ungewohnte Erfahrung des Lesens in der Öffentlichkeit für mich viel angenehmer, weil sie nun mit der vertrauten Erfahrung des Singens vor Publikum verbunden war. Wenn ich mit meiner Band auftrete, ist das ein sehr instinktives Erlebnis. Bei einer Lesung zu sprechen oder auch ein Q&A-Termin an einer Universität, das ist ein eher intellektueller Austausch. Ich genieße beides und manchmal kombiniere ich es auch, aber meistens bestimmt der jeweilige Rahmen, was bei einer Veranstaltung am besten funktioniert.

Vor einigen Jahren erhob die frühere RUNAWAYS-Bassistin Jackie Fox Vorwürfe gegen ihren damaligen Manager Kim Fowley, sie sexuell missbraucht zu haben. Das hat definitiv einige Wellen geschlagen und warf Fragen auf hinsichtlich der Verantwortung des Umfelds. Wie viel hätten Freunde mitbekommen können, wenn ein Missbrauch stattfindet, ab wann hätten sie eingreifen müssen? War es dir als junge Frau bewusst, dass so was damals in der Punk-Szene von L.A. stattfand? Wie wird so etwas heute diskutiert? Oder ist das alles schon so lange her, dass man der Sache nicht mehr auf den Grund gehen kann?
Ich habe den Vorfall zwischen Jackie Fox und Kim Fowley nicht explizit mitbekommen. In Hollywood kursierten Gerüchte, Kim habe THE RUNAWAYS schlecht behandelt. Mein Freund zu dieser Zeit war Nickey Beat, ein Schlagzeuger, der mit Fowley in einer Band namens VENUS AND THE RAZORBLADES zusammenarbeitete. Nickey verließ die Band irgendwann, weil er Fowleys Tiraden einfach satt hatte. Fowley war es gewohnt, seine Macht zu missbrauchen. Freunde wissen es vielleicht nicht immer, wenn es zu Missbrauch, Belästigung oder Vergewaltigung kommt, aber manchmal gibt es doch deutliche Anzeichen. Als Gesellschaft müssen wir dafür sorgen, dass sich Überlebende sexuellen Missbrauchs aufgefangen fühlen, so dass sie bereit sind, sich zu offenbaren und den oder die Schuldigen zu entlarven. Ich denke, wir sollten beginnen, Frauen zuzuhören. Ich finde aber auch, dass wir es respektieren müssen, wenn Betroffene es vorziehen, nicht über dieses persönliche Trauma zu sprechen. Ich erinnere mich an eine liebe Freundin, die sich mir mit einer ähnlichen Erfahrung anvertraut hat. Sie ist nicht bereit, rauszugehen und ihre Geschichte zu erzählen, und da es ist nicht um mich geht, kann ich auch nicht für sie sprechen, also kann ich ihr nur sagen, dass ich an ihrer Seite stehen werde, wenn sie sich entscheiden sollte zu reden. Leider geschieht diese Art Missbrauch, von dem Jackie Fox berichtet hat, immer noch viel zu oft. Ich habe Jackie nie persönlich getroffen, aber ich glaube ihr.