Die erste Version dieses Albums, die ich in Händen hatte, war eine Karton-Promo-CD, überreicht von einem der liebsten Wiener PR-Menschen, dem „Mann mit dem Hut“ von EMV/Edel, damaliger österreichischer Vertrieb von Hellcat. Justament an einem Abend, wo im Chelsea, dem Musiklokal, für das ich tätig war, eine NICKELBACK-Listening-Party stattfand. Das bedeutete wiederholtes Abspielen eines neuen Albums jener unsäglichen Formation. Wegen kaputter Repeat-Funktion des CD-Players musste ausgerechnet ich deren Unmusik immer wieder starten. Schließlich gab mir Jürgen nach Stunden das Signal „Genug!“, und ich konnte endlich „Streetcore“ laufen lassen. Laut! Es galt, etwas aus dem Raum zu vertreiben. Erstmals „Coma girl“, „Get down Moses“ und „Long shadow“ hören, Großtaten des Strummer-Spätwerks. Laut lachend und mit Tränen in den Augen, war doch THE CLASH-Legende und Punk-Ikone Joe Strummer (bürgerlich: John Graham Mellor) im Dezember 2002 fünfzigjährig viel zu früh verstorben. Das Album mit seinen zehn Songs, meisterlich produziert von den beiden MESCALEROS Martin Slattery und Scott Shields „in loving memory of Joe Strummer“, mit denen ich später am Telefon der 1er-Bar desselben Lokals ein emotionales Interview für unseren „Chelsea Chronicle“ führte. „Streetcore“ ist durch und durch eine Arbeit der Liebe, ein würdiges drittes MESCALEROS-Album nach den „wilderness years“ von deren Ausnahmetexter und Frontmann. Es kombiniert die Songcraft von „Rock Art And The X-Ray Style“ (1999) und die unbändige Lust auf Klänge von around the world, weit über den (Punk-)Rock-Kontext hinaus, die „Global A Go-Go“ (2001) prägte. Selbst „Resteverwertung“ wie „Burnin’ streets“ oder „Midnight jam“ atmen spannend den offenen Geist Strummers. Das Bob Marley-Cover „Redemption song“ und „Silver and gold“ (Bobby Charles) geben dem Album zusätzlich Perspektive und Breite. Nicht nur, wenn Strummer in letzterem Song, der das Album beschließt, singt „Heh, I gonna go out dancing every night / I’m gonna see all your city lights / I’m gonna do everything silver and gold / And I’ve got to hurry up before I grow too old / WeeeeeOooooooooo“, trifft einen das im Jahr 2023 fast genau so wie 2003. „Streetcore“ ist ein großartiges Werk eines großen Meisters auf der späten Höhe seiner Kunst. Auch deswegen, weil es von Menschen, die seine künstlerischen Intentionen verstanden und geteilt haben, ohne seinen weiteren Input fertiggestellt wurde – eines der wichtigsten Alben, an denen Strummer beteiligt war, als ob es zu beweisen galt, was er einst sagte: „Without people you’re nothing.“
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #169 August/September 2023 und Rainer Krispel