Die vier Mitglieder von CHAOS – Galle, Franz, Slaugther und Chy – aus Feldkirch in Vorarlberg gehörten zu den ersten Punk-Musikern Österreichs. Bis Ende der Achtziger Jahre lag bei allen Vieren der Fokus in einer Band zu spielen, was wahrscheinlich in diesem Umfeld auch eher einmalig für Österreich ist. Bei Galle waren dies nacheinander die Punkbands EX CHAOS, NULL KOMMA NICHTS und BOYFRIENDS. Bei Slaugther EX CHAOS und BOYFRIENDS. Bei Franz die Post Punk-Band LE PASSEPARTOUT und bei Chy LE PASSEPARTOUT, BILLION BOB und THE YEOMAN. Danach wurde es bei allen musikalisch eher ruhig und ihre Aktivitäten verschoben sich in andere Bereiche. Thomas Kessler aka Chy, der Besonnene von CHAOS, erzählt uns hier, wie es ihm bis heute erging.
Nachdem Franz Bröckel nach Wien umgezogen und seine Band LE PASSEPARTOUT dort weiterführte, bist du kurz darauf als Bassist bei BILLION BOB aus Dornbirn eingestiegen und hast später deine eigene Band THE YEOMAN gegründet. Kannst du mir sagen, was dich, nachdem du bei CHAOS ausgestiegen bist, bei der Musik hielt, was deine Ambitionen waren, speziell bei deiner eigenen Band, und was schlussendlich dazu führte, dass du mit der Musik ganz aufhörst hast?
LE PASSEPARTOUT lösten sich auf, weil Franz und Paul Winter nach Wien gingen, um dort weiter zu studieren. Ralph Pröll von BILLION BOB fragte mich somit, ob ich Lust hätte, bei ihnen mitzumachen. Vor allem auch als Bassist. BILLION BOB hatten zwar schon einen Bassisten mit Heinz Hosp, aber zwei Bässe in einer Band. Das war ja mal was Neues, es klang interessant und ich war dabei. Mit BILLION BOB spielten wir viele Konzerte in Vorarlberg, Wien und in der Schweiz. Zudem spielte ich da auch Gitarre und Bass abwechselnd. Irgendwann verlief sich das etwas und ich wollte was Neues machen. Eine Band mit eigenen Songs, roh, direkt und heftig. THE YEOMEN formierten sich als Trio. Schlagzeuger war Ronald Pschenitschnigg, der Bruder von Ralph, dem Gitarristen von LE PASSEPARTOUT, der ebenfalls nach Wien ging. Am Bass war Norbert Strasser und ich spielte Gitarre. Wir versuchten es mit einigen Sänger:innen, daraus wurde aber nichts. Schlussendlich musste Norbert den Gesang übernehmen. Die Texte waren vorwiegend Gedichte von Emily Dickinson. Wir spielten drei oder vier Konzerte, eines davon mit BILLION BOB auf dem Dornbirner Karren. Auf einem Vorarlberg-Sampler gab es uns dann auch noch. Dann wanderte Ronald beruflich in die USA aus. Wir waren nun ohne Drummer. Es folgte wieder Probespielen mit einigen neuen Leuten aus Vorarlberg. Wir fanden dann einen, der zu uns passte, und der kam ironischerweise aus den USA, hatte hier eine Freundin, war von Beruf Radiomoderator und auf der Suche nach einem Job. Wir hatten auch eine zeitlang einen fähigen zweiten Gitarristen, Christoph aus Hohenems, kehrten dann aber wieder zu einer Dreierbesetzung zurück. Es gab noch ein Konzert in Hohenems. Unser Schlagzeuger musste wieder zurück in die USA. Das war es dann mit YEOMEN. Es fehlte einfach an geeigneten Leuten für eine Band. Dann kamen der Berufswechsel, Familienplanung, Umzug von Feldkirch nach Bregenz, damit gingen bis heute einige familiäre Veränderungen einher. Musik war immer präsent, wenn auch oft nur passiv. Gitarre- und Bassspielen fand in den eigenen vier Wänden statt. 2010 zog ich dann in die Umgebung von Stuttgart. Neue „Familie“ mit Esther und Sohn Eddy. 2014 war Eddy 14 und lernte ruckzuck Gitarre. Von 2015 bis 2016 hatten wir eine Hausband. Esther Gesang und Bass, Eddy Gitarre, Esthers Vater Armando Drums und ich Gitarre und Bass und wir gaben unter dem Namen SULLEN LOOKS drei Konzerte. Eddy ging dann 2018 für zwei Jahre nach England ans ACM um Gitarre zu studieren. Er ist nun wieder hier, spielt in einer Band und gründet gerade eine Firma mit selbst entwickelten Röhrengitarrenverstärkern. Musik umgibt mich somit andauernd.
Der Sampler, den du erwähnst, heißt „Here They Come“ und ist aus dem Jahr 1988. Jede der fünf Bands ist mit zwei Songs vertreten. THE YEOMAN mit „Nothing“ und „Killed“. Hierzu mehrere Fragen. Die Vorderseite des Umschlages ist sehr bizarr. Sie zeigt ein Foto eines kleinen Kätzchen, das von einem Holzstock eingeklemmt wird. Auf der Rückseite ist dieses inszenierte Foto einer Ecke in einem Übungsraum in einer Berghütte oder so. Dann ist auf beiden Seiten der Innenhülle eine Punk-Fan-Collage, wie sie Bands wie COCKNEY REJECTS oder MADNESS in den frühen Achtzigern verwendeten, nur dass die Bands nix mit Punk zu tun haben, auch keine Fans haben, sondern einfach wie Provinzbands daherkommen, was sie wohl auch waren. Haben diese beiden Songs oder auch euer englischer Bandname YEOMAN etwas mit Emily Dickinson zu tun und woher kommt der Bezug zu ihr?
Mit dem Sampler „Here They Come“ und den Bands hatten wir nicht wirklich etwas zu tun. Man bot uns an, darauf was zu veröffentlichen, mit dabei war ein Tag Studio im Bregenzerwald. Das klang ja ganz gut. Zu der Zeit war es ja auch noch was Besonderes, auf eine Platte zu kommen. Das Ganze lief für mich sehr unprofessionell und hektisch ab, unser Bassist und Sänger Norbert hatte am Aufnahmetag auch noch Fieber. Nun ja, wir haben dann zwei Songs aufgenommen, mit denen ich nicht zufrieden bin. Und mit Punk hatte das nichts zu tun, nennen wir es mal „Underground“. Provinzbands waren wir alle. THE YEOMEN gaben nur vier Konzerte. Drei in Dornbirn, eines davon als Vorgruppe von THE MIRACLE WORKERS im Spielboden und eines in Hohenems in einer alten Fabrik. Mit dem Texteschreiben ist das so eine Sache. Entweder du machst einen guten Text oder du spielst lieber instrumental. Emily Dickinson hatte da so einen gewissen Hang zum Geheimnisvollen, manchmal auch Düsteren, Schweren, das gefiel uns ganz gut. Natürlich hatten wir auch eigene Texte.
Es gab und gibt wahrscheinlich noch bis heute das Problem, dass sich in Vorarlberg seit unserer Jugend nicht wirklich viel in der Gesellschaft verändert hat. Wie du ja sicher mitbekommen hast, gab es in der Schweiz durch die gesamten Achtziger hindurch gesellschaftliche Umbrüche, die unter anderem auch durch unsere Szene herbeigeführt wurden. Viele kulturell aktive und kreative Köpfe aus Vorarlberg hat es aber schon immer nach Wien verschlagen, da dort natürlich eine urbanes Umfeld schon existierte und auch entsprechende Institutionen, wo man sich weiterbilden und entfalten konnte. Diese Personen fehlten/fehlen somit natürlich in Vorarlberg. Ebenso hatte ich den Eindruck, dass sich die Vorarlberger schwer im Ausland zurechtfinden und es sie oft wieder nach Hause zieht, wegen Heimweh! Wieder hier haben sie sich dann eher brav eingeordnet. Ihre „Sturm und Drang“-Jahre waren vorbei. Du lebst ja heute in der Nähe von Stuttgart. Wie empfandest du dies damals und wie siehst du das heute?
Zu Beginn der „Punk-Zeit“, sagen wir mal von 1977 bis in die frühen Achtziger, war Vorarlberg schon sehr eingeschlafen. Es gab keine richtige „Alternativkultur“ und wenig bis fast keine Auftrittsmöglichkeiten. Für Konzerte musste man nach München oder Zürich fahren. „Alternativ- oder Subkulturen“ entstanden ja schon länger aus dem musikalischen Umfeld – Fünfziger-Rock’n’Roll, Sechziger-Beatniks, Siebziger-Rock. Große Teile in der Welt schliefen aber weiter, insbesondere in Vorarlberg. Jetzt kam Punk, für mich damals vorwiegend aus England. Diese neue Bewegung war sehr vielschichtig, gesellschaftskritisch und gleichzeitig provozierend. In England richtete sich das natürlich gegen das Establishment. Bei uns eher gegen das konservative Bürgertum. Es war auch eine neue Form der Kreativität, jeder konnte Musik machen, Bilder, Collagen, Fotografie, Mode ... Zürich wurde am Wochenende zu unserer zweiten Heimat, CHAOS wurden gegründet. Wir kennen die Geschichte. Es wanderten viele nach Wien, New York oder Irland aus. Einige, um zu studieren, manche, weil es einfach dort mehr Möglichkeiten gab. In den Neunzigern verbesserten sich auch in Vorarlberg die Möglichkeiten für eine Alternativkultur. Es gab Konzertlocations, Festivals. Punk war damals eine Explosion, die natürlich auch hier Spuren hinterließ. Ich lebe nun seit über zehn Jahren im Raum Stuttgart, bin somit nicht mehr auf dem Laufenden, was in Vorarlberg so abgeht. Stuttgart ist auch etwas eingeschlafen und recht konservativ, es gibt schon eine Szene, die ich aber nicht aktiv verfolge. Vermutlich kein so großer Unterschied zu Vorarlberg. Wenn den Leuten die Party, das fette Auto und der Urlaub eingeschränkt wird, dann wird revoltiert. Allerdings geht die Jugend auch fürs Klima auf die Straße.
Well, da hast du natürlich auf der einen Seite recht. Auftrittsmöglichkeiten gibt es seit den Neunziger Jahren auch in Vorarlberg. Doch bläst im Dreiländereck, also in Voralberg, Ostschweiz, Bayern/Baden Württemberg, ein ähnlich konservativer Wind. Obwohl Vorarlberg wahrscheinlich, im Vergleich zu anderen Bundesländern in Österreich, eher als fortschrittlich eingestuft werden kann, vor allem wenn es ums Kohlescheffeln geht, oder? Doch ich sage immer: mit Konzerten alleine haben wir noch keinen Wandel. Dies macht bei den meisten ein bis zwei Abende im Monat aus, doch ein Monat hat um die dreißig Tage und Nächte. Also, wo und wie kann man sich da „frei“ agieren und auch eine eigene Existenz aufbauen, hinter der man zu 100% stehen kann, wo man nicht immer wieder daran erinnert wird, dass man da nicht reinpasst oder ausgenutzt wird? War Musik für dich immer nur Freizeit oder hast du mal an mehr gedacht? Du hast dich ja in Reineck in der Nähe von St. Gallen beruflich entfaltet, wie kam das alles?
Vorarlberg war in der Zeit schon „fortschrittlicher“, neben Wien und Linz. Ja, da gab es mehr Verdienstmöglichkeiten. Vorarlberg hatte auch früher viele „Gastarbeiter“ aus den anderen österreichischen Bundesländern. „Frei“ ist so ein Begriff, wenn ich auf der Straße lebe, bin ich auch nicht wirklich „frei“. Für meinen Teil suchte ich einen Beruf, in dem ich mich kreativ entfalten konnte. Wo ich das machen kann, was mich interessiert. Es kommt auch immer auf einen selber an, wie sehr man sich ausbeuten lässt. Einige meiner Freunde haben sich auch selbständig gemacht. Ich fand immer ganz gute Firmen, wo ich mich entfalten konnte und auch beruflich und privat sehr unterstützt wurde. Musiker als Beruf wäre auch eine Möglichkeit gewesen. Da bist du allerdings mit drei oder vier anderen Leuten in einem Boot. Schnell kamen Alkohol und Drogen mit ins Spiel, was nicht mein Ding ist. Zu viele „gute“ Leute, die ich sehr geschätzt habe, blieben letztendlich auf der Strecke. Viele Bands aus England in der Zeit hatten eine Chance bekommen, die Plattenfirmen haben viele unter Vertrag genommen, aus Angst, was zu verpassen.
Ich weiß nicht, ob du genau verstehst, auf was ich aus bin. Mit „frei“ hab ich den Vorarlberger Ausdruck für ein anderes, sprich „unser“ Lebensgefühl gemeint. Ab 1980 gab es in der Schweiz „deswegen“ viele Demos, Aktionen, besetzte Häuser, Areale und auch AJZs, unter anderem auch in St. Gallen. Diese Orte waren und sind bis heute elementar wichtig, da du dort eine alternative Kultur erleben, erfahren konntest wie nirgends anders überhaupt, was eben zu der Ausbreitung von neuen Ideen führt. Dies war somit der Beginn eines Prozesses, der die hiesige Gesellschaft nachhaltig stark verändern sollte. Der Anstoß war Punk und Wave aus den Siebzigern, der Soundtrack durch die Achtziger hindurch nannte sich jetzt Swiss-Punk oder Swiss-Wave.2020 gab es hierzu viele Veranstaltungen, auch etliche offizielle, wegen des vierzigjährigen Jubiläums. Sogar der Schweizer „Tatort“, der immer noch eine Katastrophe ist, hieß „Züri brännt“. Dies hat dazu geführt, dass viele Personen aus diesem Umfeld im Kontext von dem, was sie damals proklamierten, Gehör fanden, darin eine Existenz aufbauen konnten und die nachfolgenden Generationen teilweise bis heute inspirieren, was wir ja von unserer Elterngeneration nur bedingt sagen können. Die Zürcher Punkband NASAL BOYS hat schon 1977 dazu den Song „Die Wüste lebt“ geschrieben. Ab den Neunzigern wurde das dann von einem beachtlichen Teil der Bevölkerung als selbstverständlich empfunden. Ein Drittel der hiesigen Bevölkerung bleibt natürlich immer gestrig, kommt mit all diesen Veränderungen nicht klar und wählt konstant rechtsbürgerlich, also SVP. Wie in der Schweiz haben ja die 68er in Österreich nicht wirklich stattgefunden, es gab in beiden Ländern vereinzelte Ereignisse, mehr aber auch nicht. Doch auch verzögert, ab Mitte der Siebziger bis in die Neunziger hinein, gab es diesen Wandel nicht wirklich im Land der Seligen. Falco sang bezeichnenderweise 1982 in seinem Lied „Auf der Flucht“ über Berlin und Zürich [Text siehe Kasten]. Kennst du eigentlich die Entstehungsgeschichte von der Arena in Wien von 1976 und vom Spielboden in Dornbirn von 1981? Diese beiden Orte sind ja bis heute noch sehr wichtig für unsereins.
Für die 68er-Zeit bin ich zu jung, um dazu was zu sagen. Ich kenne die Entstehungsgeschichte vom Spielboden und der Arena nicht. Du hast die Situation ganz gut beschrieben, da stimme ich dir zu. Der Prozess hat so in der Schweiz stattgefunden. Ich war in diesen Zeiten aber an keiner Besetzung oder Demo beteiligt.
Als ich dich kennen lernte, hast du in einer Druckerei gearbeitet, als ich dich 2003 im Kontext des Buchs „Hot Love. Swiss Punk & Wave 1976-80“ abermals kontaktierte und kurz darauf in Bregenz besucht habe, arbeitetest schon bei der gleichen Werbe- und Kommunikationsagentur wie heute.
Ich machte meine Ausbildung in einer Druckerei, allerdings als Typograph. Ich wollte mich weiterentwickeln und wechselte danach in eine damals noch sehr junge Werbeagentur. Nach drei Jahren folgte der nächste Wechsel in eine Werbeagentur, Dachcom in der Schweiz, wo ich mich als Art Director „entfalten“ konnte. 1988 gab es in der Branche auch einen technischen Umbruch. Die ersten Computer fanden Einzug. Bis dahin wurden die Bandplakate meist mit dem Kopierer und in Collagetechnik erstellt. Man erkennt das durch die gesamten Achtziger Jahre hindurch. Es folgte der Umzug von Feldkirch nach Bregenz. Die Werbe- und Kommunikationsagentur wuchs sehr schnell und ist mittlerweile die größte in der Ostschweiz mit Zweigstellen in Deutschland und Liechtenstein. Und es gab eine spannende Entwicklung in der Branche, Computer hielten Einzug, es folgten die „neuen Medien“. Multimedia-CD, Internet, Animation. Wir haben dann intern Dachcom digital gegründet und ich war lange Mitglied der Geschäftsleitung. Heute bin ich vorwiegend im Screen- und UX-Design tätig und es gibt immer wieder neue Entwicklungen.
Somit kann man sagen, dass die Zeit um 1988 für dich und dein zukünftiges Leben eine große Veränderung mit sich brachte. Du bist auf der einen Seite Vater geworden, später ja noch ein zweites Mal, und hast dich bei der Firma Dachkom auch stark kreativ einbringen können. Hat das so was wie das Musikmachen für dich ersetzt, in kreativer und intellektueller Hinsicht? Des Weiteren erwähnst du die Digitalisierung, die Anfänge des Home-Computers. Etliche im Punk-Umfeld, inklusive mich, hat das anfangs sehr angesprochen. Bei mir war das nicht unbedingt auf der Musikebene, wo sich ja die elektronisch und digital gesteuerten Instrumente und Sounds immer mehr durchsetzten. Ich hatte aber das Glück, dass ein Freund von mir die neuen Möglichkeiten in der Kommunikation und dem Kauf/Verkauf von Produkten zu programmieren begann, als sich die meisten überhaupt noch nichts drunter vorstellen konnten. Ebenso gab es in der US-Punk-Szene schon bald die ersten Websites und am Computer gestaltete/generierte Schallplatten- und CD-Cover. Hubert Kretzschmar, ein weiterer Freund von mir aus New York, ging damals an das New York Institute für Technologie/NYIT, das einen der ersten Großrechner hatte und hat auf Stundenbasis – muss mehrere tausend Dollar gekostet haben – die ersten Plattenumschläge so gestaltet, das hat eigentlich nicht nach viel ausgesehen, dafür nur ein Vermögen gekostet, doch es ging ihm einfach darum, dies als einer der Ersten am Computer umzusetzen, zum Beispiel 1982 „Exposed“ für Helen Schneider oder 1986 „Electric Cafe“ für KRAFTWERK. Mit der E-Commerce-Seite Klang und Kleid waren wir sicher in der Schweiz, wenn nicht auch in Europa, einer der ersten Online-Shops überhaupt, das war 1993. Wo lag bei dir der Fokus?
Ja, Computer veränderten einiges. Ich hatte in den Anfängen durch den Job Zugriff auf das beste Zeugs, das es so gab. 1990 kostete Apple fxII so 10.000 Euro ohne Monitor/RAM. Dann kam das Internet. Ich weiß noch genau, wie ich Teleport VOL.AT überzeugte, dass ich das „Internet“ schon im September statt Oktober brauchte und es klappte auch, dass ich den Anschluss früher bekam. Eine neue Welt tat sich auf. Man war mit der Welt in Kontakt, es war eine Art Labor, wo man vieles machen konnte. Die Telefonrechnung, das ging noch übers Modem, war in den Anfängen enorm. Weiter ging es mit Animationen, interaktiven CD-ROM, TV-Spots. Die multimediale Welt entwickelte sich zu dem, was sie heute ist. In den Anfängen hat man eine Website einem Kunden „verkauft“, wenn man ein cooles Intro oder morphende Mitarbeiterbilder machen konnte, heute ist das oft anders, da zählen auch Marketing, Analyse, Reporting. Es macht immer noch Spaß, ein gutes UI/UX zu designen. Und nun haben wir die sozialen Medien, in welchen ich privat nicht so aktiv bin, die aber beruflich nicht unwichtig sind.
Gehen wir nochmal kurz zurück. Du warst ja einer der ersten Punk-Musiker in Vorarlberg und Österreich schlechthin, wie kam es überhaupt dazu? Wie hast du Galle kennen gelernt und hast du dich überhaupt als Punk gesehen, und falls ja, was bedeutete dies für dich und wann und warum hat sich das für dich dann wieder geändert?
Alles begann so um 1977. Es gab gerade keine „Subkultur“, das kommerzielle Rock-Pop-Gehabe war fast auf dem Tiefpunkt. Da gab es was Neues, wild, laut, rebellisch und provozierend. Einher ging die Ablehnung der bürgerlichen Werte und gesellschaftlicher Regeln. Die ersten Berichte über Punk fand ich im deutschen Sounds und und in der Bravo. Im Jugendhaus Graf Hugo traf ich dann auf Galle und noch ein zwei weitere „Verrückte“. Wir verschlangen alles, was es zum Thema gab. Die Nähe zu der Schweiz war natürlich wichtig, wir fuhren nach St. Gallen zu Alex Spirig in den von ihm geführten Schallplattenladen Bro Records. Alles, was schräg war und in die Richtung Punk ging, war für uns interessant. So wurden auch Bands aus früheren Epochen entdeckt, an denen sich der Punk orientierte, wie MC5, IGGY & THE STOOGES, NEW YORK DOLLS. Geniale „Dilettanten“ erschufen Originelles in vielen Bereichen. Schnell wurde der Wunsch nach einer eignen Band „laut“. Das Jugendhaus Graf Hugo bekam gerade einen neuen Standort. Wir hatten da sehr schnell unseren eignen Proberaum, dazu kam noch ein eigener „Punk-Raum“, Franz und Slaughter stießen dazu. Es wurden zu Beginn zwei, drei Songs gecovert. Doch dann gab es sehr schnell eigene Stücke. Ob ich mich als Punk gesehen habe oder noch sehe? Zu der Zeit definitiv, ich war rebellisch, fand das System nicht gut. Mir gefiel, dass jeder Musik machen konnte. Mir gefiel die deviante Ästhetik, es war für mich neue „Kultur“. In der jetzigen Zeit? Generell fühle ich mich zu keiner „Gruppierung“ zugehörig. Ich hatte nie eine „No Future“-Haltung. Die Grundideen des Punk haben sich ja auch in verschiedene Richtungen entwickelt. Musikalisch bin ich vielseitig, höre aber auch immer wieder Punk.
Das will ich genauer wissen. Auch ich fühle mich nicht einer „Gruppierung“ zugehörig, denn Punk ist und soll keine „Gruppierung“ sein. Genau darin unterscheidet sich Punk meiner Meinung nach von anderen Jugend- oder Musikbewegungen. Deine Mitstreiter bei CHAOS, Galle und Slaughter, standen ja in allen Bereichen genau für das Chaos, da für sie Punk nicht nur einfach in einer Band zu spielen war. Und umso länger sie Musik machten, umso schlechter wurden sie musikalisch, was es für mich auf den Punkt bringt – eben Punk! Die Abneigung gegenüber Autoritäten fing, wo nötig, bei der eigenen Familie an, es folgten Arbeitsplatz/Ausbildung, Polizei, Behörden, Politiker, Pfaffen und natürlich das Militär. In Vorarlberg war es auch noch sehr stark die Nazi-Vergangenheit, da waren unter den Alten noch viele Faschos.
Also, Zuneigung zu Autoritäten habe ich nicht. Aber solange sie mir nicht ihr Denken und Handeln aufzwingen ... sonst ist Widerstand angesagt. Ich hatte bis jetzt noch nicht so schlechte Erfahrungen mit der Polizei. In meinem Umfeld gab es oder gibt es auch keine Nazis, da habe ich wenig Berührungspunkte. Natürlich mag ich die nicht. Generationskonflikte hatte ich keine. Meine Eltern waren da sehr mit mir. Auch in meiner Familie, zwei Töchter, ein Ziehsohn, drei Enkel, läuft das gut. Punk-sein hat klar bedeutet, dass man sehr stark von der Kunst, der Haltung der Situationisten, der Dadaisten und der Letteristen beeinflusst war. Man war sehr kreativ und aktiv, DIY war zentral. Ja, das war für mich immer ein wichtiger Punkt. Kleidung, Schmuck, Möbel. DIY praktiziere ich noch immer. Früher wurden die T-Shirts mit Edding und Spraydosen selber gemacht, ich kannte auch einen Punk aus Bregenz, der Siebdrucker war. Heute lasse ich diese aber drucken.
Natürlich haben legale wie illegale Drogen eine sehr große Rolle gespielt ...
Aus meiner Sicht leider, ja. Ich konsumierte keine Drogen oder Alk. Aber zu viele gute Leute sind auf der Strecke geblieben,wie Galle. Es ist auch sehr frustrierend, wenn du in einer Band spielst und die Mitglieder müssen erstmal eine Apotheke finden, um Spritzen zu kaufen, bevor es losgeht. Als Nüchterner tut dir da jeder falsche Ton weh. Wie gut könnte es doch klingen.
Man hat sehr stark versucht zu polarisieren und es war eine enorme Dringlichkeit von unserer Seite spürbar.
Stimmt, polarisieren, provozieren war angesagt. Ich kleide mich bis heute nicht so wie der durchschnittliche Opa.
Die ganzen gesellschaftlichen Moralvorstellungen kamen uns total verlogen vor. Wir waren extrem direkt. Provokation geschah verbal und durch die äußere Erscheinung. Die endlosen Diskussionen, wie es die Hippies noch vor uns taten, waren für uns kein Thema mehr.
Moralvorstellungen, das sagt ja das Wort schon an sich. Ich meine damit, Moralvorstellungen sind aber oft nur einseitig, wie es eben in den Kram passt.
Sich abrackern, wer von uns wollte das schon und dies auch noch für das verhasste Geld.
Oh, ich habe Geld nie gehasst. Es ist eine Art Energie, die leider nötig ist. Solange dein Gehalt nicht Schmerzensgeld ist, geht’s noch, haha. Ich denke, es wird in Zukunft Richtung bedingungsloses Grundeinkommen gehen.
Bei der ersten Frage erstaunt es mich doch ein wenig. Ich habe noch heute hier immer wieder mal eine Auseinandersetzung damit. Das Dreiländereck, wie unsere Region so schön heißt, ist ja bekannt für ihre erzkonservativen und rechten Tendenzen bei einem guten Teil ihrer Bevölkerung und dies führt meiner Meinung nach auch bis heute noch dazu, dass junge Menschen mit einer progressiveren Haltung die Region schon frühzeitig verlassen. Ich sage mal provokant: Die Guten gehen, das ist die Minderheit – die Schlechten bleiben, das ist die Mehrheit! Ich selbst gehörte schon in den Siebzigern dazu und war nur noch teilweise am Wochenende in St. Gallen oder in Vorarlberg. Ich gehe und komme schon seit bald 45 Jahren. Habe bis heute über die Gasse, Grabenhalle und Klang und Kleid immer wieder junge, kreative und offene Menschen kennen gelernt. Die, die konnten, sind alle weg, die die geblieben sind, mussten sich mehrheitlich irgendwie anpassen und merken es selbst nicht mal. Beim bedingungslosen Grundeinkommen wird es interessant. Im Juni 2016 wurde in der Schweiz zum ersten Mal über das bedingungslose Grundeinkommen abgestimmt. 77% Prozent der Stimmberechtigten waren dagegen, in der Ostschweiz waren es notabene nur einige Prozentpunkte mehr. Hier liegt also noch eine lange Leidenszeit vor uns, das merke ich bei vielen Gesprächen mit „ehemaligen“ Punks, vor allem denen, die selbstständig sind oder das ganze Leben lang gehackelt haben. Liegt natürlich auf der Hand, dass einer, der schon lange von der Fürsorge lebt oder oft beim Arbeitsamt vorbeischaut, das natürlich gut findet. Die, die ihr Leben lang gearbeitet haben, natürlich nicht. Ich, der 24 Stunden am Tag arbeitet oder eben 24 Stunden lang nur in den Himmel hinaus schaut, hatte schon 1977 davon geträumt oder damit mein Umfeld konfrontiert. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich dieses Thema am Abendtisch bei der Familie meiner damaligen Freundin platziert habe. Ihre Mutter ist in Tränen ausgebrochen, dass ich als junger „Taugenichts“ es wage, ihnen solche Ideen zu servieren. Der Rest der Familie hat geschwiegen. Ich will damit sagen, das ist Teil meiner Punk-DNA, die hatte ich schon mit 16, obwohl ich noch komplett grün hinter der Ohren war. Werden wir das bedingungslose Grundeinkommen noch miterleben? Werden wir die Legalisierung nur schon von Gras miterleben? Werde ich miterleben, dass eines Tages die Menschen da draußen anfangen, selbstständig zu denken und handeln und für sich selbst und die anderen Verantwortung zu übernehmen? Wenn ich sehe, was im Corona-Jahr 2020 weltweit und vor allem um mich herum so abging, kenne ich die Antwort nur zu gut.
Das bedingungslose Grundeinkommen. Ja, da haben noch manche Probleme mit, Geld zu bekommen, obwohl kein Bedarf besteht oder man keine Gegenleistung erbringt. Wie kann denn so was sein? Viele sind in ihrem „Muster“ einfach gefangen. Ich denke, es wir trotzdem einen Wandel geben. Eine komplette Entkoppelung von Arbeit und Einkommen wird aber dauern. Stell dir vor, 70% aller Arbeiten machen Maschinen/KI und so weiter. Die Leute haben keine Jobs, sollen aber das Zeugs konsumieren. Firmen, die Wertschöpfung betreiben, geben also was ab, sonst gibt es ja auch keine Kaufkraft mehr. Denkbar ist auch ein anderes Steuermodell. Nicht das Einkommen wird besteuert, sondern der Konsum, der Verbrauch von Gütern, Ressourcen, es gibt genügend Modelle und Websites zum Thema. Es wird auf jeden Fall kommen. Schwer zu sagen, ob und in welcher Form ich das noch erlebe.
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Falco: „Auf der Flucht“
West-Berlin neunzehnhundert-sechzig-sieben / Erster Eindruck: grüne Minna / Straßensperre gegen Spinner / Habt ihr Bock auf ’ne Tracht Prügel / Wir bedienen euch nicht übel, aha / Ecke Joachimsthaler, Ku’damm ein Exzess / Wer das Gas als letzter riecht / Hat als erster den Prozess / Ganz Berlin is eine Wolke / Und man sieht sich wieder mal / Auf der Flucht / Zürich-Limmatquai neunzehnhundert-achtzig-zwei / Alles ist in Ordnung, nichts am Platz / Ein Ende hat’s mit dem Rabatz / Gewonnen hat die Steuer / Und am Seeufer kein Feuer / Das Fazit aus fünfzehn Jahren / Die Kontrolle zu bewahren / Edle Werte zu genießen / Seht mal, wohin Gelder fließen / Schmeißt die Rock-Rabauken raus / Und renoviert das Opernhaus, aha / Was die Ordnung anbelangt / Hat sich alles, Gott sei Dank / Fast wie ganz von selbst ergeben / Denn die starke Hand siegt eben / Hält die Märchenwelt beisammen / Und die Räuber sind gefangen, aha / Für die Zukunft sei gesagt / Sicher kommt mal wer und fragt / Was die Jungwähler so denken / Über Kräfte, die sie lenken / Schwere Wolken, Donnerschlag / Und wer sieht sich da jetzt / Auf der Flucht
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