PUNK-TRADITIONEN - TEIL 29

Foto© by Kalle Stille

Plattenkisten

Die Plattenkistenhändler auf Konzerten sind so verschwunden, wie betagte Nachbarn verschwinden: Man sieht sie jahrelang, nimmt sie wahr ... und dann stellt man irgendwann fest, dass sie nicht mehr da sind.

Mal ehrlich, wann habt ihr zuletzt auf einem Konzert einen Plattenkistenhändler (männliche Form bewusst gewählt) gesehen? Nein, die Plattenkistenzelte auf eurem bevorzugten Sommerfestival zählen jetzt nicht. Ich erinnere mich, dass neulich im Waldmeister Ralf von Holy Goat mit ein paar Kisten stand, und im AJZ Bahndamm in Wermelskirchen ist auch bisweilen jemand – oder war es eine DIY-Band mit Tauschware? Aber wann habe ich in Köln, Düsseldorf, Essen zuletzt jemanden mit Plattenkisten gesehen? Ich kann mich nicht erinnern ... Plattenkisten, also mobile Schallplattenverkaufsstände, sind eine alte Tradition, gar nicht mal punkspezifisch im Ursprung (ich tippe auf die Sixties und die Hippies), diese wurde aber dann in diesem Kontext weitergeführt. Ich erinnere mich an Berlinbesuche in den Achtzigern, als vor der TU-Mensa Plattenhändler auf Kunden warteten. Nur ein, zwei Kisten mit aktueller Ware, und zwei, drei Mark günstiger als im Laden. In der süddeutschen Heimatregion dann glichen die Kleinstadtjugendzentren und AZs am Konzertwochenende schon fast einer Plattenbörse. Jede freie Ecke war zugestellt mit Tapezier- oder Biertisch und drei, vier, fünf Plattenkisten darauf. Die Betreiber von We Bite und Nuclear Blast und X-Mist hatten ihre eigenen Releases im Angebot plus die internationalen Neuerscheinungen aus dem hauseigenen Mailorderprogramm, oft viel billiger als im örtlichen Plattenladen, denn als Labelmacher hatte man eine hohe Wertschöpfung, wenn man mit anderen Labels tauschte: dann kostetet die Importplatte eben auch nur Presskosten plus Versand. Statt 18 oder 20 Mark im Laden zahlte man hier nur 12 oder 15 DM für eine LP. Plattenstände waren immer auch eine Kontaktbörse. Schwätzchen mit den Menschen dahinter waren so was wie soziale Medien, und die Menschen kannten sich aus. Welche der beiden Platten von XY nehmen? „Nimm die Blaue, die andere taugt nix.“ „Habt ihr die neue LP von YZ?“ „Noch nicht, aber wenn du die magst, hab ich hier was anderes für dich.“ Oder man beobachtete, was andere begutachteten und wenn drei Leute mit einer frisch gekauften Scheibe rumliefen, wurde man neugierig. Irgendwo lag meist eine kopierte Mailorderliste rum, schnell eingesteckt. Und Konzertflyer. Und ... da war ja noch die Fanzinekiste! Ah, das neue Maximum Rocknroll! Und dieses Fanzine da ... interessant! 1,50? Nehm ich mit! Auch das Ox wurde bis weit in die Neunziger hinein vielfach über solche Plattenkisten verkauft, erreichte so Menschen in Orten, wo das Heft heute längst nicht mehr präsent ist, weil der Bahnhof und damit der Kiosk lange schon dichtgemacht hat. Plattenkistenhökerer brachten Kultur, brachten die Welt in Dorfjugendzentren, sie waren Botschafter des Widerständigen, des auf anderen Wegen unzugänglichen. Viele dieser Leute finanzierten so ihr Studium, ein Nebeneinkommen, manche sogar ihren gesamten Lebensunterhalt – oder auch nur die eigene Sammelleidenschaft, denn mit dem Erlös von drei, vier, verkauften Platten war eine eigene für die Sammlung finanziert. Manche bauten sich damit eine Existenz auf, legten so den Grundstock für eine eigene Firma, für die Selbstständigkeit – für ein selbstbestimmtes Leben.Die Neunziger waren sicher die Hochzeit für diese Art des Plattenhandels. Als der „stationäre Handel“ Vinyl fast aufgegeben hatte und die CD alles dominierte, gab es LPs oft nur noch hier. Und die Stände waren riesig. Green Hell und New Lifeshark in der Zeche Carl in Essen? Das waren locker 10, 15 laufende Meter und hunderte CDs und LPs und dann auch irgendwann Shirts. Und so sah das vielerorts aus. Es hatte schon fast was von einem Basar, die Stellplätze waren heiß begehrt. Aber KC aus Dortmund fand immer noch eine Ecke für seine eine Kiste, die er auf dem Skateboard durch das halbe Ruhrgebiet schipperte ... Und heute? In einer durchkommerzialisierten Konzertwelt ist (fast) kein Platz mehr für solche Stände, gierige Venues erpressen 20 bis 30% Umsatzbeteilung von den Bands, die da ihren Merch anbieten. Unter diesen Umständen mit einer Plattenkiste Umsatz machen zu wollen ergibt keinen Sinn, der Gewinn würde davon aufgefressen. Die Leute kaufen stattdessen online, mit etwas Glück da, wo heute noch jemand dahintersteckt, der einst mit so einer Plattenkiste anfing.