Sie kommen aus der Schweiz, sie lieben den Rock, sie haben mit „Frozen Souls“ 2008 ein erstaunliches Debüt abgeliefert – und mit „Neo Noir“ einen makellosen Nachfolger eingespielt, der dem Ideal des perfekten, noisigen Rock-Albums verdammt nahe kommt. Meine Fragen beantworteten Chrigel, „Mädchen“ für alles, und Jari, Gitarre/Gesang.
Die Zeit seit eurem ersten Album „Frozen Souls“ 2008 war aufregend, oder? Da freut man sich über einen Plattendeal, und dann geht Patrick Wagner mit Louisville baden, bleibt vielen Leuten Geld schuldig und die Bands stehen im Regen. Wie ist es euch seitdem ergangen? Immerhin habt ihr euch vom Firmensitz eurer neuen Labelheimat nicht abschrecken lassen: Auch Nois-O-Lution ist wieder in Berlin ansässig. Wie kamt ihr zu Arne, oder kam er zu euch?
Chrigel: Ich habe drei Monate lang nur nachgedacht, wo ich eine neue Heimat für NAVEL finden könnte. Es gab nur drei Kriterien: Independentlabel mit solidem Ruf, true Rock-Label mit geilen Bands, schneller Release von „Neo Noir“ in Deutschland. Der Kreis der möglichen Labels war also nicht nur klein, sondern ein einziger Punkt: Nois-O-Lution. Die Bands des Labels haben oft in unserer Region gespielt. Ich hatte zwar Angebote von anderen Labels, und ich hatte auch bei Roadrunner, die die erste NAVEL-Platte 2009 nochmals in Europa veröffentlicht hatten, angefragt, aber am Schluss war klar: Wir brauchen einen ehrlichen, vernünftigen, besessenen Mann. Also Arne. Er hat dann praktisch sofort zugesagt. Er kannte NAVEL schon.
Jari: Die „Frozen Souls“-Zeit war in der Tat sehr aufregend. Wir wurden in die böse Welt des Rock’n’Roll-Geschäfts eingeweiht, haben gesündigt, gebüßt, gelernt, getrunken und herausgefunden, dass man da nie wieder rauskommt. Ein Teufelskreis, aber wir wissen ja alle, dass wir diese Geschichte nicht ernst nehmen dürfen. Schließlich leben wir noch und Spaß haben wir auch immer noch! Noch schlimmer: wir sind hungrig und können es kaum erwarten, diese endlose Tour anzutreten, auf die wir warten.
War der erneute Blick, der Weg nach Deutschland zwangsläufig, ist das euer „Markt“, oder hätte es auch ein Schweizer Label werden können? Wäre da überhaupt eines gewesen? Oder eines im Ausland?
Chrigel: Die Deutschschweiz ist halb so groß wie Baden-Württemberg. Das ist kein Markt, sondern ein Flohmarkt! Schon 2004, als ich anfing, mit NAVEL zu arbeiten, war klar: die Schweiz hat nicht auf NAVEL gewartet. Also raus in die Welt! Man muss wissen, das Kaff, aus dem NAVEL herkommen – Erschwil im Kanton Solothurn nahe dem Jura –, hat gerade mal 900 Einwohner. Es ist schön da, aber als junger Musiker muss man da weg. Denn Rock ist eine universelle Sprache, die in Kroatien genauso verstanden wird wie in Groningen, Köln, Paris, Austin oder Zürich. Wir wollen natürlich auch bald in Frankreich, Benelux, Italien und anderen Ländern präsent sein. Das ist Stufe zwei. Zuerst machen wir aber G/A/S platt!
Meiner Meinung nach versteht man euer neues Album, ja, eure Band an sich falsch, wenn man sie als „rockistische“ Rock-Band ansieht. „Neo Noir“ ist sehr noisy geworden, ich höre da eher JESUS LIZARD, MELVINS, THE FALL und auch Shoegazer-Rock raus als den ewig gleichen Stoner-Stiefel. Was habt ihr in letzter Zeit für Platten gehört? Und welche sollte man immer wieder hören?
Jari: Ich will’s mal so sagen, Stoner ist ja eigentlich nichts anderes, als Blues mit einem Fuzz-Pedal zu spielen. Und alle Regler auf Rechtsanschlag – mit Ausnahme des Tonereglers, den nach links. Wir machen das ähnlich, obwohl ich eigentlich mit dem Wort „Stoner“ überhaupt nichts anfangen kann. Deswegen hab ich mir ein Tremolo-Pedal gekauft und hau den ganzen Brei über alte Röhrenverstärker raus mit einer guten Portion Reverb, also Hall – das nennt man dann Retro. Dazu erfinde ich neue Akkorde, das macht es moderner. Damit gehen wir ins Studio, nehmen eine Platte auf und lassen die Kritiker anschließend sagen, wie’s eben klingt. Nach Siebziger-Grunge, Elvis, Nina Hagen und so weiter. Während wir bereits mit neuen Songs vor den Verstärkern sitzen und uns fragen, warum diese alten Dinger eigentlich so schwer sind.
Neil Young zu covern ist mutig, so was kann gewaltig schief gehen. Ist es aber nicht, denn „Rockin’ in the free world“ ist euch gelungen. Warum dieses Lied, warum Neil Young, wie seid ihr an die Aufgabe herangegangen?
Jari: Ich habe in einer Kiste ein zehn Jahre altes Mixtape gefunden, gefüllt mit meinen Top-20-Favoriten damals. Mir war gerade danach, also hab ich das Tape sofort ins Deck gelegt und los ging’s. Junge Erinnerungen, THE WIPERS, BLACK FLAG, alte Blues Helden à la John Lee Hooker. Irgendwo gegen Ende war da noch dieser Klassiker von Neil Young drauf. Vielleicht war’s gerade der richtige Tag und ich dachte: Wow, das Stück hat was. Nein, das ist es. Auch in 90 Jahren wird das noch so sein. Ich war immer auf der Suche nach einem Stück, das gerade diese Hoffnung und Freiheit zelebriert, gleichzeitig aber auch die Schattenseiten des Glücks beleuchtet. Whatever. Danach ging alles sehr schnell. Akkorde abhören, Text lernen, spielen. Warum Neil Young? Weil er eben dieses Stück geschrieben hat.
Und noch ein Cover, „Hunger child blues“, bitte beende den Satz: „Townes van Zandt muss man kennen und mögen, weil ...“
Jari: ... es absolut nichts Besseres gibt, als einem zuzuhören, dem es gelingt, wunderbare, unglaublich ehrliche Musik zu schreiben, und dabei nicht zu lügen.
„It’s the road that makes the song“, singt ihr, die RAMONES sangen: „Touring, it’s never boring“. Liegen die besten Songs also auf der Straße, wie kommen sie da hin, und wie klaubt man sie auf?
Jari: Eine alte Leier. Die Musik wird einem ja nicht in die Wiege gelegt. Dafür sollte man schon einige Distanzen hinter sich legen, wobei man ja schon bei der Geburt schreien muss. Ich denke, jedes Baby weiß auch, warum es das tut. Wie kann man da auch anders? Ich kratze die Songs nicht von der Straße, lasse auch einige da liegen. Der Richtige soll sie finden. Musiker zu sein heißt auch, geduldig sein. Es ist ein konstantes Warten - die Straße ist lang. Wenn die besten Songs da einfach rumliegen, darf und sollte man sie einfach nicht übersehen.
Die Fotos für euer Booklet stammen von Reto Rigassi, zeigen Szenen aus Venedig. Warum Reto, warum Venedig?
Jari: Reto Rigassi ist ein wunderbarer Künstler aus dem Tessin, der südlichen Schweiz. Seine Fotos entstehen oft durch Zufälle oder Spielereien mit und in der Natur. Auch ein kleiner Zufall war es, als ich ein kurzes Porträt über Reto gesehen habe. Ich war schon einige Zeit auf der Suche nach einem passenden Artwork für unser Album. Alles hat gepasst. Die Art, wie er an seine Kunst und die Ideen herangeht, wie auch der Gedankengang, die Sicht auf Dinge. Er entwickelt zum Beispiel einen Schwarzweißfilm, der ihm ins Salzwasser gefallen ist. Darauf entstehen Verfärbungen, Punkte, Flecken, für andere unbrauchbar – für ihn faszinierend oder sogar sehr gut brauchbar. So brauchbar, dass ihn diese Idee, erinnernd an den Verfall und Untergang, nach Venedig zieht, die versinkende Stadt. Das Cover für „Neo Noir“ ist so entstanden. Wir arbeiten ähnlich. Wir mögen die Kanten und Ecken. Wir brauchen die Narben und Kratzer, suchen danach und vermeiden das Reine. Danach haben andere schon vor uns gesucht.
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