LAGS

Foto© by Lucia Iuorio

Forza, Punk e Hardcore italiano!

Durch Zufall stolperte ich vor einigen Monaten über LAGS, eine italienische Post-Hardcore-Band, die es mir gleich angetan hat. Weil ich euch diese großartige Neuentdeckung nicht vorenthalten wollte und der Social-Media-Auftritt der Band ein interessantes Gespräch versprach, habe ich gleich mal Frontmann Antonio angeskypet. Aus einem halb italienischen, halb englischen Interview wurde ein spannender Dialog über LGBTIQ in der Punk-Szene und die Krisenbewältigung der italienischen Regierung.

Da die meisten in Deutschland euch nicht kennen, bitte stelle dich und die Band kurz vor.

Ich bin der Leadsänger und einer der zwei Gitarristen von LAGS. Gegründet haben wir uns 2013 in Rom. Wir spielen hauptsächlich in Italien, versuchen aber auch, im Ausland bekannter zu werden. Wir machen Post-Hardcore, auch wenn nicht alle in der Band mit dieser Definition einverstanden sind. Manche von uns sagen, wir machen Rock, manche Punk, manche Hardcore. Im Grunde ist es ein Mix aus Genres und Stilen, und das ist auch gut so.

Was hat es mit dem Bandnamen auf sich?
Der stammt vom berühmten Musikjournalisten Legs McNeil. Er hat zusammen mit Gillian McCain das Buch „Please Kill Me! The Uncensored Oral History of Punk“ geschrieben und ein Punk-Magazin gegründet. Wir haben es etwas abgeändert, weil „legs“ ja „Beine“ heißt. Außerdem schwingt so das englische Wort „lagging“ mit, was so viel wie Verzögerung bedeutet.

Um sich euren Sound besser vorstellen zu können, was sind eure Einflüsse?
Jeder von uns hört andere Musik. Andrew, unser Schlagzeuger, hört hauptsächlich Metal, also SLAYER, SEPULTURA und so was. Gianluca, der andere Gitarrist, hört viel elektronische Musik, Achtziger-Kram, Noise. Ich bin mehr vom Punk und Hardcore geprägt. Mir gefallen AT THE DRIVE IN, RIVAL SCHOOLS und FUGAZI. Unser Bassist Daniele hört viel Punk, vor allem NOFX und LAGWAGON. Wir haben unsere Geschmäcker kombiniert. AT THE DRIVE IN und FUGAZI sind gemeinsame Nenner.

Und warum singst du nicht auf Italienisch, sondern auf Englisch?
Vor allem weil ich finde, dass meine italienische Gesangsstimme komisch klingt.

Aber der Bonustrack „Il podista“ von der aktuellen Platte „Soon“ ist eine übersetzte Version eures Tracks „Showdown“. Da singst du doch italienisch.
Ja, das war ein Experiment. Bei diesem Lied war ich mir nie wirklich sicher. Ich mag den Text sehr, aber die Art, wie meine Stimme herauskommt, klingt seltsam für mich. Ich bin es gewohnt, auf Englisch zu singen. Das liegt auch daran, dass unser Schlagzeuger Italo-Amerikaner ist. Er ist in Italien aufgewachsen, wurde aber in Los Angeles geboren. Wir wollten deshalb etwas machen, das für alle etwas ist. Hinzu kommt, dass für uns Italiener Englisch, insbesondere in der Rockmusik, viel musikalischer klingt.

Worum geht es in euren Texten?
Wir sind eine sehr politische Band.Auf dem ersten Album „Pilot“ ging es viel um die aktuelle Politik und Gesellschaft und die Ängste unserer Generation. Es handelt auch von der verzweifelten Suche nach einem Platz in der Welt und dem Kampf mit dem Kapitalismus. Im zweiten Album thematisieren wir eher unsere persönlichen Probleme. Ich denke aber, dass unsere politischen Songs auf lange Sicht überzeugender sind. Wir müssen wieder über unsere Probleme in der Gesellschaft sprechen und darüber, was in der Politik geschieht.

Ihr interessiert euch aber auch für LGBTIQ-Themen. Auf Facebook habt ihr euch vor kurzem gegen Homophobie und Transphobie ausgesprochen. Warum ist euch das wichtig?
Aus vielen Gründen. Zunächst einmal haben wir festgestellt, dass wir einen kleinen Teil von Menschen im Publikum haben, die nicht mit unseren politischen Ansichten übereinstimmen. Wir wollen, dass für alle ganz klar ist, wo wir stehen. Besonders in Italien sind Rechte und Rechtsextreme sehr stark vertreten in der Gesellschaft. Diese Leute wollen wir aber nicht auf unseren Konzerten haben. Unsere Konzerte müssen ansonsten für alle offen sein: Herkunft, Religion, sexuelle Vorlieben spielen bei uns keine Rolle. Als wir „Il podista“ geschrieben und das Video gedreht haben, wollten wir eine Botschaft von sozialer Integration vermitteln. Wenn man in Italien über Homosexualität oder LGBTIQ spricht, denkt man immer an Disco, Achtziger-Jahre-Musik oder Clubbing, man denkt nie an Punk oder Hardcore. Der italienischen LGBTIQ-Welt ist nicht bewusst, dass Punk und Hardcore Genres sind, die für ihre Rechte kämpfen. Das wollten wir in Italien zeigen. Es gibt natürlich nicht nur uns, viele Leute haben sich auch schon vor uns engagiert.

Der Support kommt am häufigsten von den Betroffenen selbst und am seltensten von Hetero-Männern. Was glaubst du, woran das liegt?
Ich glaube, vielen fällt das sehr schwer. Der heterosexuelle weiße Mann ist die privilegierteste Figur in der Gesellschaft und war es schon immer. Wenn wir uns mit Themen befassen, die uns nicht persönlich betreffen, ist es für einen heterosexuellen weißen Mann schwierig, eine Meinung zu vertreten. Man will auch nicht falsch verstanden werden und lässt deswegen lieber andere reden. Aber ab einem bestimmten Punkt müssen wir uns in die Lage anderer Menschen versetzen und diese Themen angehen, damit wir dazulernen. Wir sind Kinder einer Kultur, die von Grund auf falsch ist. Wir dürfen unsere Fehler nicht immer wieder wiederholen.

Erzähl uns von eurem beeindruckenden Musikvideo zu „Showdown“. Wer ist dort zu sehen und was war der Gedanke dahinter?
Das ist eine Drag Queen namens KastaDiva alias Bruno Gagliano. Wir wollten die Verwandlung in etwas Schöneres, Freieres erzählen. Das innere Wesen, das diese Person tatsächlich zum Ausdruck bringen will. Wir haben mehrere Performer gefragt und Bruno erklärte sich bereit, in unserem Video aufzutreten.

Wie sahen die Reaktionen auf das Video aus?
Eigentlich durchweg positiv. Bei der Produktion haben wir nur leider sehr wenig Unterstützung bekommen. In Italien gibt es außerdem immer noch eine gewisse Skepsis, wenn heterosexuelle weiße Männer, die Punk und Hardcore spielen, sich mit einer bestimmten Art von Thema beschäftigen wollen. Um KastaDiva für uns zu gewinnen, musste ich ihr unsere Idee zwanzig Minuten lang am Telefon erklären, weil sie erst nicht davon überzeugt war.

Kommen wir mal zu einem anderen Thema. Wie habt ihr in Italien als besonders betroffenes Land die intensive Phase der Corona-Krise erlebt?
Wir sind keine professionellen Musiker, wir spielen nur zum Spaß. Das heißt wir haben einen Job und ein ganz normales Leben. Deswegen haben wir die Musik eine Weile ruhen lassen. Wir haben die Zeit genutzt, um runterzukommen und nachzudenken. Wir wollen erst mal alles tun, um die Indie-Musikszene zu unterstützen. Das Schlimmste ist, dass die italienische Regierung weder Musiker*innen noch die Musikindustrie, einschließlich Clubs und Veranstaltungsorte, unterstützt. Das ist wirklich beängstigend: Clubs und Veranstaltungsorte schließen, Bands lösen sich auf, viele Leute verlieren ihre Jobs.

Welchen Einfluss wird die Corona-Krise deiner Einschätzung nach auf die italienische DIY- und Punk-Szene haben?
Die italienische Punk- und Hardcore-Szene wurde nie von der Regierung oder großen Bands unterstützt. Deshalb ist DIY für uns wichtig. Es wird so sein wie bisher, aber mit weniger Clubs, weniger Veranstaltungsorten und weniger Geld. Wir werden sehr kämpfen müssen, um das zurückzubekommen, was wir in der Vergangenheit in der DIY-Szene aufgebaut haben. Aber das mussten wir immer tun. Weil autonome Zentren unabhängiger sind, werden sie weniger betroffen sein als Bands und Clubs, die nicht DIY sind.

Was denkst du über die Corona-Maßnahmen, die die italienische Regierung erlassen hat?
Am Anfang haben wir die Lockdown-Regeln respektiert, auch wenn Italiener*innen nicht gut darin sind, Regeln zu befolgen, haha. Aber dann gab es Dinge, die wir nicht verstanden haben und immer noch nicht verstehen. Es gab zum Beispiel Industrien, die während der Abriegelung arbeiten durften, etwa die Rüstungsindustrie. Und jetzt dürfen die Fußballspieler wieder spielen. Man kann im Flugzeug nebeneinander sitzen und in Restaurants und Bars gehen, aber nicht zu Konzerten. Das ist einfach überhaupt nicht konsequent.

Das hört sich so an, als gäbe es einiges zu kritisieren.
Während des Lockdowns haben die Menschen keine Hilfe von der Regierung erhalten. Jetzt ändert sich das sehr langsam. Viele sind in einer schlimmeren Situation als ich, zumindest besitze ich genug Ersparnisse. Ich bin also sehr privilegiert. Ich bin als Cutter in der Filmindustrie beschäftigt und konnte während des Lockdowns ein wenig arbeiten. Deswegen konnte ich zumindest ein etwas Geld verdienen. Aber die Regierung sollte eigentlich die Differenz bezahlen. Darauf warte ich immer noch, seit März habe ich nichts bekommen. Ich sage nur: italienische Bürokratie. Die arbeitet unfassbar langsam. Viele Leute konnten gar nicht arbeiten und haben monatelang überhaupt nichts bekommen.

Leider gab es anfangs vor allem aus Deutschland nur sehr zögerliche Unterstützung. Ich habe gehört, dass das eine Welle des Hasses gegen die Deutschen ausgelöst hat. Hast du das auch so wahrgenommen?
Die europäischen Länder sollten einander mehr helfen, insbesondere in Krisenzeiten. Manchmal verstehe ich, dass andere europäische Länder wie Deutschland gegenüber Italien skeptisch sind. Es gibt hier so viel Chaos und wir sind sicherlich nicht immer ein guter Partner. Aber Deutschland hat während des Lockdowns weiterhin von der italienischen Industrie profitiert.

Wirklich gruselig fand ich, dass laut Umfragen Anfang April 70% der Italiener*innen sagten, sie hätten ein schlechtes Bild von Deutschland. 45% meinten sogar, Deutschland sei ein Feind. Im Internet gibt es eine Menge Hass-Videos über Deutschland.
In Italien ändern wir unsere Meinung sehr schnell und oft, also würde ich mir darüber nicht so viele Sorgen machen, haha. Heute sagen sie: Deutschland ist der Feind! Morgen heißt es dann wieder: Deutschland ist unser bester Freund! Die Menschen sollten weniger Zeit mit sozialen Medien verbringen und mehr lesen. Sie sollten versuchen, mehr zu verstehen, statt den Menschen zuzuhören, die ihnen irgendwas einreden wollen.

Glaubst du, dass das Populisten und antieuropäischen Bewegungen direkt in die Hände spielt?
Genau das ist das Problem. Wir müssen lernen, wie wir besser mit anderen Ländern zusammenarbeiten können.

Ich habe aber auch gelesen, dass die Populist*innen, insbesondere Salvini und die Lega, momentan viel weniger erfolgreich sind, weil ihr Hauptthema „Flüchtlinge und Migration“ derzeit keine große Rolle spielt.
Das ist immer so. Wir haben ein Lied namens „Fear, control, mothers“ auf „Pilot“, das auf einem Artikel des Linguisten Noam Chomsky basiert. Darin geht es auch darum, dass Furcht als Motor für rechte Parteien funktioniert. Man gibt den Leuten einen Feind. Im Moment sind die Einwanderer nicht das Problem, sondern die wirtschaftliche Situation. Salvini gibt anderen dafür die Schuld. Populist*innen wie er, Trump oder Bolsonaro haben eine Fanbase, innerhalb derer sie sagen können, was sie wollen. Erst vor kurzem hat Salvini sich in der Öffentlichkeit mit einer Frau fotografieren lassen – ohne Maske. Als ein Journalist ihn darauf angesprochen hat, meinte er: „Wie, ich muss eine Maske tragen?“ Seit drei Monaten hören wir in Italien täglich nichts anderes. Er ist so ein Idiot! Und seine Fans sehen das nicht und wollen es nicht verstehen. Deshalb haben die Leute von den linken Parteien in den letzten dreißig Jahren viele Schwierigkeiten gehabt. Linke Wähler*innen sind oft kritischer, sie neigen nicht so sehr dazu, eine Fanbase aufzubauen.

Habt ihr vor, diese Erfahrungen in eurer Musik umzusetzen?
Ganz und gar nicht. Ich möchte nicht mehr darüber reden. Wir wollen über Politik sprechen und darüber, was in der Welt und in der Gesellschaft vor sich geht. Es wird genug Bands geben, die über ihre Zeit während des Lockdowns sprechen. Ich habe meine Gitarre drei Monate lang nicht angefasst!