Im letzten Ox hatte ich meine Top 10 der US-Crossover-Thrash-Alben der Achtziger vorgestellt, hier folgt nun die Fortsetzung: nach langer Funkstille wurde es Zeit für die Wiederbelebung eines Sounds, dessen Protagonisten und Fans man seitdem auch treffend Metalpunx nennt. Mir ist klar, dass TOXIC HOLOCAUST eigentlich auch in diese Liste gehören, aber ihr wisst ja, wie das seit 2000 Jahren läuft: zum Wohle aller muss einer ans Kreuz genagelt werden!
MUNICIPAL WASTE „Hazardous Mutation“ (LP, Earache, 2005)
Glasklar: ohne SLAYER kein Thrash, ohne D.R.I. kein Crossover und ohne MUNICIPAL WASTE kein Crossover/Neo-Thrash-Revival! Gegründet 2001, veröffentlichten sie bereits 2002 und 2003 eine Split- und eine eigene LP auf dem kleinen, aber feinen US-DIY-Label Six Weeks von Jeff Robinson (CAPITALIST CASUALTIES). Der verdiente Durchbruch kam dann mit dem Wechsel zum Kultlabel Earache: Zum erstem Mal seit vielen Jahren schaffte es eine Band, den wahren Crossover-Spirit der Achtziger – full Speed, less Groove – perfekt in die Zweitausender zu transferieren, inklusive Original-Oldschool-Artwork von Ed Repka, dem Frontcover-Papst der Achtziger (MEGADETH, NOFX).
THE ACCÜSED „Oh, Martha!“ (CD, Condar, 2005)
THE ACCÜSED aus Seattle waren neben SLAYER und den DEAD KENNEDYS meine Helden der Achtziger. 1992 war dann leider nach – je nach zählweise – sieben grandiosen Studioalben erst mal Schluss: Martha Splatterhead – killed by Grunge? 13 Jahre später sitzt ein immer noch glühender Fan vor dem heimischen Computer und bestellt mit zitternden Händen die sehnsüchtig erwartete Reunion-CD direkt über die bandeigene Label-Homepage. Vier bange Wochen später: Erst aufatmen, dann Freudentänze! Eine Wiederkehr wie aus dem Lehrbuch, alles ist noch da: der vertonte Wahnsinn, die Splatter-Lyrics, der straighte Speed, immer gepaart mit einer Hektik, bei der man gelegentlich das Gefühl hat, die Jungs versuchen, gleich drei Songs auf einmal zu spielen ... grandios! Die große Ernüchterung folgte dann erst mit dem nächsten Album 2009: THE ACCÜSED ohne Sänger Blaine?! Ein klassisches No-Go!
VIOLATOR „Scenarios Of Brutality“ (LP, Kill Again, 2013)
Geil, geiler, VIOLATOR! Die vier Brasilianer feierten zuletzt auf dem niederländischen Pitfest ihr zwanzigjähriges Bandjubiläum mit einer dermaßen furiosen und mitreißenden Highspeed-Oldschool-Thrash-Show, dass nicht nur ich in Gedenken an alte „Darkness Descends“ und „Pleasure To Kill“-Zeiten feuchte Äuglein bekam und eine knappe Stunde lang zu verhindern versuchte, die alten Knochen doch noch in den Moshpit zu werfen. Unter den bisher erschienenen zwei Alben ragt „Scenarios Of Brutality“ nur wenig hervor, sind doch beide absolute Juwelen in jeder Punk-affinen Thrash-Sammlung. Ja, denn von ihrer DIY- und Non-profit-geprägten, extrem kritischen Anti-Haltung her sind die vier Metaller mehr Punk als so manche ... na ja, ihr wisst schon.
POWER TRIP „Manifest Decimation“ (LP, Southern Lord, 2013)
POWER TRIP aus Dallas, Texas haben, wie kaum eine andere Band, den musikalischen Spirit der CRO-MAGS in das neue Jahrtausend gerettet. Zielsicher zwischen „Age Of Quarrel“ und dem Nachfolger „Best Wishes“ (siehe Ox #162) pendelnd, feuern sie konsequent EXODUS- und Hardcore-Riffs mit Straßenköter-Attitüde ab, Gangshouts inklusive, selbstverständlich! Auch live war das Energielevel beängstigend hoch: im Mai 2017 spielten sie als Vorband von BRUJERIA und NAPALM DEATH im Kölner Underground und hinterließen nicht nur mich als überzeugten Fan. Leider brachte die Band es nur auf zwei exzellente Alben (plus eine posthume Raritäten-Compilation): bereits 2017 verstarb Sänger Riley Gale mit nur 35 Jahren.
INSANITY ALERT „s/t“ (LP, Empire, 2014)
Habt ihr schon mal das pogende D.R.I.-Männlein mit zwei Skistöcken in der Hand gesehen? Oder eine Persiflage des ikonischen Covers der ersten S.O.D.-Platte, die mit „Smoke Weed Or Die“ untertitelt ist? Willkommen in der chaotischen Party-Thrashpunk-Welt der Österreicher INSANITY ALERT. Live auf dem Pitfest 2022 machten sie ihrem Bandnamen alle Ehre und rissen eine Show ab, die nur so vor bekloppten Ideen strotzte und zugleich musikalisch absolut mitreißend war. Motto: „All Mosh/No Brain“. Das gleichnamige Debüt startet mit „Glorious thrash“ und endet 14 unterhaltsame Songs später mit der Thrash-Version eines IRON MAIDEN-Hits: „Run to the pit“. Noch Fragen?
IRON REAGAN „The Tyranny Of Will“ (LP, Relapse, 2014)
25 Songs in 33 Minuten ... das ist erst mal eine Ansage. Ausnahmesänger Tony Foresta (MUNICIPAL WASTE) gründete 2012 mit Freunden (darunter Leute von CANNABIS CORPSE und DARKEST HOUR) mal eben die „neuen“ S.O.D.: Hardcore-Punk meets Crossover-Thrash in bis dato selten gehörter Wucht und Präzision. Beim zweiten Album „The Tyranny Of Will“ übernahm Produzenten-Legende Kurt Ballou (CONVERGE) das Zepter. Ergebnis: der ungemein druckvolle und transparente Sound ist State of the Art und pumpt dir ruckzuck das Frühstücksmüsli aus der Bierplautze. Bandname und Artwork sind natürlich klare Achtziger-Jahre Referenzen, aber IRON REAGAN wettern nonstop gegen leider nach wie vor aktuelle soziale und politische Missstände. Für Ox-Leser:innen also unbeschwerter Hörgenuss, ohne S.O.D.-Geschmäckle.
SIBERIAN MEAT GRINDER „Metal Bear Stomp“ (LP, Destiny, 2017)
Vom „Beer Core“ zum „Bear Cult“! Sechs DIY-Punk- und Hardcore-Szene-erprobte Russen aus Moskau erfüllen sich 2001 den Traum einer Thrash/Crossover-Band (siehe Ox #112). Der sibirische Bär wird zum SMG-„Eddie“ und prangt fortan als Band-Maskottchen auf jedem Cover. Nach zwei EPs folgt dann der „Metal Bear Stomp“: Ein extrem wilder Mix voller Thrash-Riffs, Breaks, Gangshouts und „Call and response“-HipHop-Vibes. Sänger und Hauptsongwriter Vladimir „Ski Mask G“, der auch in der mittlerweile ungleich erfolgreicheren HipHop/Hardcore-Punk-Formation MOSCOW DEATH BRIGADE als MC aktiv ist, tritt live mit Maske auf und ist der Mittelpunkt einer furiosen Thrashpunk-Show, die man auf keinen Fall verpassen sollte ... hier fliegt die Kuh, äh, der Bär!
INDIAN NIGHTMARE „By Ancient Force“ (LP, High Roller, 2019)
Anno 2017, die deutsche True-Punk-Community reibt sich die Augen: Vom Cover des Plastic Bomb-Fanzines Nummer 99 lächelt ihnen eine dezent als Indianer geschminkt und gestylete Speed-Metal-Band entgegen. Steigerung: das Debüt der Wahl-Berliner erscheint gar auf dem hefteigenen Label. Unfassbar: der Sound ist trotz leicht crustiger Kante 100% Punk-frei und Metal as fuck, inklusive hochgepitchter Eierkneifer-Vocals à la AGENT STEEL oder EVIL INVADERS. Ox-Leser:innen, die jetzt, akut aufkommendem Hautausschlag vorbeugend, raus sind, haben meinen ausdrücklichen Segen. Alle anderen: Genießt die großartigen Metalpunx, die mit ihrem noch gelungeneren zweiten Album „By Ancient Force“ mittlerweile passend zur Mucke beim ebenso sympathischen Metal-Indie HRR angekommen sind.
BAS ROTTEN „Surge“ (LP, Abnegat u.a., 2020)
Die Portugiesen BAS ROTTEN sind vermutlich die am wenigsten bekannte Combo auf dieser Liste ... das sollte sich ändern. Ihr sehr harscher Crossover-Thrash hat eine heftige Hardcore- und Grind-Schlagseite. Oder ist es gar umgekehrt? Discogs nennt das treffend „Blastbeat Crossover Punk Grind“. Fans der härteren Fraktion sollten aufhorchen, ihr werdet trotz des bescheuerten Covers nicht enttäuscht sein. P.S.: Neulich in der Kölner Frieda-Bar flüstert mir ein junger Mann im BAS ROTTEN T-Shirt zu, der Sänger lebe angeblich bei Köln ... Junge, melde dich!
ILLEGAL CORPSE „Riding Another Toxic Wave“ (LP, Abnegat u.a., 2021)
Unsere französischen Nachbarn aus Nancy gehören zusammen mit den Ungarn CRIPPLED FOX sicher zu den unterbewertetsten Bands des Genres. Dabei haben sie alles, was Crossover-Thrash braucht: geile Riffs, cooler Sänger, Fuck-Off-Attitüde und interessante, aber – mon dieu! – englische (!) Texte. Von sozialkritisch bis augenzwinkernd („Let it beer“) ist alles dabei. Nicht zuletzt aber auch ein sehr gelungenes Comic-Cover im Ed Repka-Style von einem gewissen Franzosen namens Bungle Ced. Das zweite Album „Riding Another Toxic Wave“ ist für kleines Geld beim Berliner DIY-Label Abnegat zu schnappen. Ein Must-have!
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