Bill, wie hältst du eigentlich all die Bands auseinander, in denen du spielst? Dein Hirn muss über gigantisch viel Speicherplatz verfügen.
Nach meiner erfolgreichen Hirnoperation 2010 funktioniert mein Gehirn wieder viel besser, fast so wie früher. In meiner Einbildung habe ich ein recht simples Leben, mache höchstens zwei, drei Sachen gleichzeitig: Ich arbeite, komme pünktlich zum Abendessen nach Hause, esse zusammen mit meiner Frau und den Kindern. In der Realität sieht es freilich anders aus, da passiert ständig was Neues, ich spiele Konzerte, produziere Bands, schreibe Songs. Ich bin ständig mit irgendwas beschäftig, obwohl mir das selbst gar nicht so vorkommt. In meiner Empfindung ist mein Leben eigentlich recht einfach – vielleicht ist es das ja wirklich mal, wenn ich älter bin.
Und wie sieht deine Frau das?
Na ja, das Auto, das sie fährt, muss ja irgendwer bezahlen, das weiß sie schon. Es ist hart, wenn man mit Punkrock seine Miete bezahlen will. In einem normalen Job arbeitest du acht Stunden am Tag, um über die Runden zu kommen, bei Musik sind es zwanzig. Aber wer sich einen Beruf ausgesucht hat, der ihm wirklich Spaß macht, der arbeitet gerne mehr. Andererseits: Wer ist schon gerne Buchhalter? Wir haben uns dagegen einen Job ausgesucht, der Spaß macht, und der Preis, den man dafür bezahlt, ist eben, dass man mehr arbeiten muss. Jeder will doch Rockstar sein, in einer Band spielen.
Hattest du mal einen „richtigen“ Job?
Als ich noch zur Schule ging, ja. Obwohl ich da eigentlich auch schon selbständig war, wenn man es genau nimmt. Ich habe zum Beispiel Angelruten gebaut und sie verkauft. Ich habe als Kind schon gerne geangelt, und so ergab sich das einfach. Und eine Weile lang habe ich dann als Fischer gearbeitet, ich war selbständig. Ich hatte ein kleines Boot, fischte, und verkaufte die Fische dann auf dem Fischmarkt. Und Keith Morris’ Vater hatte einen Laden für Anglerbedarf, da arbeitete ich. Allerdings nicht als Verkäufer, sondern ich kam und ging, wie ich wollte und baute Angelruten zusammen. Das waren aber auch wirklich die einzigen Jobs, die ich hatte. Später dann machte ich ja noch mein Label Owned & Operated, aber ich hatte damit kein Glück. Schlechtes Timing, glaube ich. Als ich gerade angefangen hatte, starb mein Vater, dann heiratete ich, dann kamen die Kinder ... Später fing dann der Hirntumor an, mich langsam zu machen. Das Label bekam also nie eine richtige Chance, ich habe mich ihm nie mit der nötigen Intensität gewidmet. Eine T-Shirt-Druck-Firma hatte ich auch noch ... aber die macht heute Chad.
Chad Price von ALL und DRAG THE RIVER?
Genau, dem gehört die jetzt. Und ich habe eben das Studio, das läuft ganz gut.
Wie muss man sich das Studio vorstellen? Stehen da eigentlich regelmäßig deutsche Punk-Touristen vor der Tür, die sich das anschauen wollen?
Haha, ja, das kommt vor. Und ja, gerade auch Deutsche. Die sind natürlich willkommen, ich würde nie jemanden wegschicken, aber sie kommen eben oft ungelegen, wenn man mitten in einer Produktion ist. Und wenn man einfach nur seine Arbeit erledigt bekommen will, ist man auch nicht immer in der Laune für solchen Besuch. Das Studio ist in einer großen Halle, alles in allem sind es rund 370 Quadratmeter. Der Komplex besteht aus zwei oder besser gesagt drei Studios. Es gibt das große, etwas teurere, und das kleinere, etwas günstigere, sowie noch ein ganz kleines, in dem wir nur abmischen. Und wir haben natürlich einen Bandübernachtungsraum mit acht Betten, dazu ein paar Sofas, eine Küche, Badezimmer und einen Fernseher. Wenn Bands bei uns aufnehmen, brauchen sie also kein Hotelzimmer und müssen nicht auswärts essen gehen, die können sich selbst was kochen. Das alles spart eine Menge Geld.
Wie ist das, wenn beispielsweise RISE AGAINST bei dir aufnehmen? Pennen die auch im Bandraum oder gönnen die sich ein Hotel?
Früher haben die da auch übernachtet, aber mittlerweile mieten die einfach für drei Monate ein ganzes Haus, das macht mehr Sinn. Die bringen ja teilweise auch Frau und Kinder mit. Aber wenn sie nur mal so vorbeischauen, tut es auch der Bandraum.
Es gibt ja die verschiedensten Arten, ein Album aufzunehmen und zu produzieren, und drei Monate ist eine lange Zeit. Andere Bands haben höchstens eine Woche. Was macht den Unterschied aus, wie kann man überhaupt drei Monate brauchen?
Ein bekannter Produzent – den Namen habe ich vergessen – sagte mal: „Alle Aufnahmen gleichen sich in einem Punkt: Es ist nie genug Zeit, aber es wird immer alles fertig.“ Und genauso ist das! Ich habe viele Produktionen gehabt, an denen ich, zwei, drei, vier Wochen gearbeitet habe, und die haben wirklich eine hohe Qualität und ich bin sehr stolz auf sie. An anderen Platten habe ich zwei, drei Monate gearbeitet, und die klingen nicht besser. Und wieder andere Platten – vor vielen Jahren nahmen Steven und ich mal SHADES APART auf, das „Save It“-Album – waren in vier Tagen fertig. Die Platte klingt nicht richtig super, sie ist einfach cool. Aufnahmebudget und benötigte Zeit hängen wirklich sehr von der individuellen Situation ab. Wie gut beherrscht eine Band ihre Instrumente? Wie fertig sind ihre Song-Arrangements, die Song-Strukturen? Wie weit ist es mit der Fähigkeit her, die Arrangements auch umzusetzen? Wie gut ist die Band vorbereitet? Wenn eine Band gut vorbereitet ist, sie gute Songs geschrieben hat und sie perfekt spielen kann, dann kann sie eine Platte in zwei Wochen aufnehmen, für die eine andere, weniger gut vorbereitete Band zwei Monate braucht. Letzten Endes ist es also eine Frage, wer besser ist.
Wie war das damals bei den DESCENDENTS?
Wir haben „Milo Goes To College“ in drei Tagen eingespielt, das ganze Album! Und abends, nach der Schule, hat Milo den Gesang aufgenommen. Okay, es kamen dann noch ein paar Abendsessions dazu, vier, fünf Stunden, aber gesamt waren das nur fünf Tage. Wir waren eben extrem gut eingespielt, hatten ein hohes Maß an Präzision, denn wir machten damals nichts anderes als proben. Aber jede Band ist eben anders.
Man hat ja generell das Gefühl, dass Bands wie BLACK FLAG, MINUTEMEN oder eben ihr eine sehr rigide Arbeitsethik hatten und die Aufnahmen aus Geldmangel immer in recht kurzer Zeit erledigt sein mussten.
Das stimmt, und die MINUTEMEN sind ein gutes Beispiel. Die haben ihr erstes Album in gut drei Tagen aufgenommen: ein Tag für die Musik, ein Tag für den Gesang, ein Tag für den Mix. So genau kann ich mich aber nicht mehr erinnern, aber so ungefähr lief das damals. Alles musste schnell gehen, aus schierer Notwendigkeit. Wir hatten alle kein Geld, teilweise nicht mal eine Wohnung. Willst du wissen, wie ich viele Jahre gelebt habe? In einer nur ein paar Quadratmeter großen, abgeteilten Ecke unseres Proberaums! Da standen Stockbetten mit Platz für sechs Leute, in der einen Ecke wurde geschlafen, in der anderen geprobt. Kein heißes Wasser, keine Dusche. Alles musste billig sein. Wenn wir tourten, waren wir froh, wenn wir genug Geld bekamen, um tanken zu können. Und am Van war ja auch immer was kaputt, wir konnten uns nur eine alte Karre leisten. Automatikgetriebe kaputt? Dafür ging das Geld drauf, das wir von einer Woche Auftritte zusammensparen konnten. Wir waren glücklich, wenn wir den Van am Laufen halten konnten und jeder von uns zwanzig Dollar am Tag hatte. So lebte ich von 1981 bis 2002. Zwanzig Dollar am Tag ...
Angesichts des größer werdenden Hirntumor und einer völlig ungewisser Zukunft musst du große Existenzangst gehabt haben.
Also das „Angenehme“ an der ganzen Situation war, dass eine der Nebenwirkungen des Tumors war, dass ich völlig gleichgültig wurde. Mich juckte gar nichts mehr, ich war ständig wie auf Valium. Mir war es egal, was ich machte, ob ich arbeite oder nicht. Muss eben jemand anderes die Miete bezahlen. Ich habe immer hart gearbeitet, wenn ich das nicht mehr kann, fuck it. Ich saß rum und schaute „Der Pate“ oder was auch immer. Der Hirntumor beeinträchtigte also nicht nur meine Leistungsfähigkeit, sondern veränderte auch meine Persönlichkeit. Mir wurde alles egal. Gleichzeitig verlor ich nicht die Fähigkeit, Schlagzeug zu spielen, ich habe in der Zeit sicher fünfzig Konzerte gespielt. Teilweise gibt es Videos davon, und wenn ich mir die jetzt anschaue, wirke ich da ganz normal, alles klingt wie immer. Milo sagte mir, das hat was mit dem „Reptiliengehirn“ zu tun, einem Teil des Hirns, der all das steuert, was wir unbewusst aus Gewohnheit tun.
Und was war das für ein Gefühl, als du nach der OP aufgewacht bist?
Oh Mann, das war das Beste überhaupt! Das Gefühl, als ich aus der Narkose aufwachte, mit fünfzig Klammern im Kopf, das werde ich nicht vergessen. Es ging mir vorher eigentlich nicht schlecht, ich war nicht deprimiert oder so, nur wie auf Valium. Doch als ich aufwachte, war das ein Gefühl wie ... Ohhhh yeeeeaaaaaahhh! Ich merkte sofort, dass ich wieder ich selbst war. Ich kann das Gefühl echt kaum in Worte fassen. Es fühlte sich an, als wäre ich neu geboren!
Wann war das?
Am 23. Juni 2010. Es war absolut unglaublich. Das ist jetzt fast vier Jahre her. Kinder sind völlig unschuldig, die ganze Welt, ihr ganzes Leben liegt noch vor ihnen, sie sind noch nicht verdorben, sie kennen keine Probleme, nichts bedrückt sie, sie lachen die ganze Zeit – sind eben Kinder. Und genauso war ich am 23. Juni 2010. Dieses Gefühl hielt sehr lange an, so lange, dass sich ein paar meine Freunde schon begannen, Sorgen zu machen, haha. Einfach, weil ich die ganze Zeit so glücklich war.
„Bill, was sind das für Pillen – und wo kann ich sie bekommen?“
Genau so! Die waren schon beinahe genervt: „Ja, schön, du freust dich, dass du nicht gestorben ist. Aber jetzt halt auch mal wieder die Klappe!“ Aber auch bei Kindern endet diese Phase der Unschuld irgendwann, sie werden von anderen Kindern verprügelt, bekommen in der Schule schlechte Noten, haben einen Unfall. Ich bin jetzt vier Jahre alt in meinem neuen Leben, und ich merke, wie das richtige Leben an mir zu zerren beginnt. Negative Gefühle versuchen sich einzuschleichen, das Leben will nicht, dass du dich wie nach einem zweiten Geburtstag fühlst, es will, dass du dich alt und erwachsen fühlst. Und ich merke, dass ich gegen dieses Gefühl ankämpfen will, jeden Tag! Wenn du morgens aufwachst, versuch dich so zu fühlen, als wärest du frisch geboren. Wenn nicht, saugt dich das Leben aus. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass morgen alles vorbei sein kann, und das Leben genießen. Vor fünf Jahren fühlte ich mich alt und nutzlos, dachte, ich sei nicht mehr so gut wie früher. Ich dachte, wenn sich Altwerden so anfühlt, kann ich mich auch gleich umbringen. Direkt nach meiner Wiedergeburt dachte ich dann ganz anders, alles fühlte sich so perfekt an, ich war mir sicher, dass ich all meine Probleme lösen kann, meine Schulden abbezahlen, dass ich weniger arbeiten und mehr Zeit für meine Kinder haben werde. Aber dann stellte ich bald fest, dass das alles nicht so einfach ist. Sich so ein neues Leben vorzustellen, ist das eine, es umzusetzen etwas ganz anderes. Du musst zunächst die Kontrolle über dein Leben gewinnen und dann selbst dafür sorgen, dass es so wird, wie du es dir vorstellst.
Hast du das geschafft?
Ich strenge mich an. Man erringt Siege und erleidet Niederlagen.
In gewisser Weise spiegelt das die Stimmung der DESCENDENTS-Songs wider, oder? Die sind immer irgendwie fröhlich, aber nie belanglos, sondern ermutigend.
Am besten hat mir an den DESCENCENTS immer gefallen – ich rede jetzt so, als wäre ich selbst gar nicht in der Band –, dass Franks und Tonys Texte immer eine gewisse bittere Abneigung gegenüber den coolen Typen zum Ausdruck brachten, die all die Mädels abbekamen. Gegen Typen, die jede Mode mitmachten, die die Drogen hatten. Gegen das Erwachsenwerden. Das hatte immer einen therapeutischen Nutzen, denn du und deine Kumpels, ihr habt solche Typen gehasst, konntet aber sonst nichts gegen sie machen. Für die Menschheit an sich mögen die Texte negativ gewesen sein, für dich und deine Freunde aber nicht.
Sprechen wir noch mal über deine Arbeit als Produzent. Was bekommen die Bands von dir, die mit dir arbeiten – und was erwarten sie? Was ist deine „Magie“?
Vielleicht, dass genau so eine „Magie“ nicht existiert. Ich würde das nämlich nie behaupten. Ich habe keine besonderen Fähigkeiten. Aber ich behaupte von mir, dass ich ein Musikliebhaber bin. Ich habe Musik „studiert“ und analysiert, seit ich fünf Jahre alt bin. Ich arbeite mit Musik, um Musik der Musik wegen zu machen. Nicht um damit Geld zu verdienen, um berühmt zu werden oder bei Frauen gut anzukommen. Ich biete den Leuten, die mit mir arbeiten wollen, eine unvoreingenommene, ehrliche Meinung, und wenn sie bei ihren Songs noch etwas Hilfe brauchen, versuche ich zu helfen, ohne zu starken Einfluss auszuüben. Außerdem respektiere ich die Unverletzlichkeit einer Band. Jede Band hat ihre eigene Identität, die muss ich respektieren und nicht versuchen, meine Vision umzusetzen. Es geht darum, ihnen dabei zu helfen, ihre Vision umzusetzen. Ich biete ihnen mein Gehör für ihre Musik, mein Empfindungen ihre Texte betreffend, ich helfe, wenn ein Gitarrenakkord nicht richtig sitzt, und wenn ein Song eine Bridge braucht, aber keine hat, dann fällt mir was ein. Wenn eine Band zu mir ins Studio kommt, werde ich für diesen Zeitraum zum Bandmitglied. Ich bin dann Teil der Lösung und nicht des Problems. Und ich zügle mein Ego, muss nicht immer recht haben, beanspruche aber ein Stimmrecht.
Klingt so, als ob du da bisweilen die Rolle eines Therapeuten einnimmst.
Frank besuchte mich mal im Studio, beobachtete mich bei der Arbeit und meinte dann: „Dein Job besteht zu 10% aus Toningenieur und 90% aus Psychiater.“ Und er hat recht.
Du sagtest eben, dass du schon als Fünfjähriger Musik analysiert hast. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Das beste Beispiel ist eine Geschichte, die ich als Kind erlebt habe. Es gibt eine Version von „Love me do“ von den BEATLES – die ist, glaube ich, auf diesem Rarities-Album zu hören – und die hörte ich, als ich sieben war. Sie berührte mich auf unangenehme Weise, aber ich wusste nicht, woran es lag. Ich hatte damals keine Ahnung von irgendwelchen Musikbegriffen, aber ich erkannte, dass irgendwas an diesem Lied nicht stimmte. Viele Jahre später fand ich heraus, was mit dieser Version von „Love me do“ nicht stimmt: Der Bass spielt in diesem Song im Vergleich zur restlichen Band immer eine sogenannte übermäßige Quarte. Also nicht ein bisschen daneben, sondern wirklich schrecklich daneben! Die haben diese Version des Songs nicht genommen, sie war ein Outtake, aber selbst als kleines Kind habe ich auf so was geachtet und gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich habe damals schon Musik mit den Ohren eines Toningenieurs gehört, ohne es zu wissen.
Es gibt auch Synästheten, die Musik oder besser gesagt einzelne Töne als Farben wahrnehmen.
Ja, davon habe ich gehört, und ich und mein Studiokollege, wir sprechen tatsächlich manchmal von bestimmten Tönen in Farben. Etwa wenn die Bassgitarre irgendwie zu unklar, zu dumpf ist, wenn sie klingt, als würde sie unter Wasser her gespielt, dann sprechen wir von „too much brown bass“. Keine Ahnung, was das bedeutet, Farben machen ja keine Töne, aber wir wissen beide genau, was wir damit meinen.
Was macht Musik mir dir? Bist du immer in der Laune für Musik oder gibt es auch Momente, wo du keine Musik um dich haben kannst?
Wir werden heute doch alle überstimuliert, iPhone, Facebook, was weiß ich ... Stille kann da helfen, und Dunkelheit. Manchmal genieße ich es, in meinem völlig abgedunkelten Schlafzimmer zu liegen, ohne jeden Input von außen. Das kann sehr schön sein. Das hilft mir auch beim Songwriting. Direkt beim Aufwachen, wenn ich etwas geträumt habe, ist da manchmal ein Song. Innerhalb von 15 Minuten nach dem Aufwachen ist der aber weg, wenn ich da keine Notizen mache, denn dann geht der übliche Trubel los. Der Trubel nimmt die Lieder weg, und dann sind die weg, für diesen Tag. Manchmal kommen sie abends wieder, wenn ich mich abends ins Bett lege, mein Kopf klarer wird. Die Songs müssen von sich aus zu mir kommen, ich kann nicht zu ihnen gehen. Die Gitarre nehmen und einfach ein paar Songs schreiben, weil ein Album ansteht, das kann ich nicht. Die Lieder müssen sich in mein Unterbewusstsein einschleichen, und das kann nur in Momenten friedvoller Stille geschehen.
Wie „erntest“ du diese Lieder?
Ich singe sie auf ein Diktiergerät. Oder ich schnappe mir schnell eine Gitarre und versuche die richtigen Griffe zu finden und das dann aufzunehmen. Mache ich das nicht, ist das Lied weg. Am nächsten Tag kann ich mich nicht mehr erinnern.
Gilt das nur für deine eigenen Songs oder passiert das auch beim Produzieren?
Auch beim Produzieren. Da komme ich dann am nächsten Morgen ins Studio und mir kam nachts eine Idee für einen Songvers oder so. Meine Musikideen kommen dann zu mir, wenn ich nicht von Musik umgeben bin. Die Lieder sind ja da, aber tagsüber hält der Lärm der Welt sie von mir fern. Ich muss also immer einen Weg finden, den ganzen Scheiß auf Abstand zu halten. Das passiert bei mir alles auf der Ebene des Unterbewusstseins. Keine Ahnung, wie andere das machen, da hat wohl jeder seinen eigenen Weg.
Was läuft derzeit bei den DESCENDENTS?
Wir haben alle ein paar Songs geschrieben, und jetzt arbeiten wir nach und nach daran. Für ein paar von Milos Songs habe ich schon die Drumparts aufgenommen. Stephen und Milo leben ja woanders, aber Karl lebt auch hier in der Stadt und wir beide spielen beinahe täglich zusammen – nur so bleiben wir in Übung für die gelegentlichen Konzerte von ALL und DESCENDENTS. So läuft das seit bald 25 Jahren. Aber Stephen hat in Tulsa, Oklahoma ja sein eigenes Studio, und Milo hat auch ein kleines Studio, ganz simpel, da kann er seinen Gesang aufnehmen. Für Demos reicht das. Ich hoffe, ja, ich gehe davon aus, dass wir das neue Album zum Jahresende fertig haben. Wir überstürzen nie etwas, wenn es um eine DESCENDENTS-Platte geht, aber jetzt sind wir alle an dem Punkt, wo wir wollen, dass was passiert.
Und was ist mit ONLY CRIME? Bei einer „Allstar-Band“ dürfte es noch schwieriger sein, alle Beteiligten unter einen Hut zu bekommen.
ONLY CRIME haben einen traurigen Hintergrund: Gerade als die Band 2005/2006 losgelegt hatte, wurde ich krank. Ich konnte und wollte nicht touren, und leisten konnte ich mir es auch nicht – mit ONLY CRIME verdient keiner von uns Geld. Letztlich wurden ONLY CRIME für viele Jahre quasi stillgelegt. Jetzt haben wir eine echt gute Platte gemacht und kommen im Sommer endlich nach Europa. Ich freue mich darauf, aber die Proben werden hart, denn die Song-Arrangements sind noch anspruchsvoller, komplizierter als bei ALL.
Wie kommt ihr zusammen? Ihr lebt alle woanders, habt alle anderweitige Verpflichtungen?
Wir nutzen die technischen Möglichkeiten. Ich habe durch mein Studio die Möglichkeit, jedem eine Aufnahme der Songs bis auf den jeweiligen persönlichen Part zu erstellen. Ich spiele meine Sachen mit Metronom ein, Bass und die beiden Gitarren kommen dazu, und allem liegt die gleiche Zeitlinie zugrunde, und wir können die Songs jeweils alleine zu diesen individuellen Aufnahmen üben. Wir werden vor der Tour noch mal gemeinsam üben, und dann bekommen wir das hin.
Ich weiß nicht, ob du dazu was sagen willst oder kannst, aber da du auch bei FLAG spielst: Was ist da schiefgelaufen zwischen BLACK FLAG und FLAG, zwischen Greg Ginn und euch?
Dieser ganze Prozess ist es nicht wert, dass man darüber weitere Worte verliert. Es ist einfach nur beschämend. Was nun die musikalische Seite betrifft, stand einfach nur die Idee im Hintergrund, dass Keith, Chuck und ich uns dachten, dass es doch sicher Spaß machen würde, ein paar Konzerte zu spielen. Dez kam dann auch noch dazu, und Stephen, und los ging’s. Wir hatten Spaß, aber andere Leute sorgten dann dafür, dass uns der Spaß verging.
Trotz des Streits zwischen FLAG und BLACK FLAG sind alle alten DESCENDENTS-Platten immer noch auf Greg Ginns Label SST ...
Ja. Aber ich möchte dazu nichts weiter sagen. Die ganze Situation ist vor allem eines: traurig.
Apropos DESCENDENTS: Milo steht hinter uns und drängelt, weil er die Setlist für heute Abend besprechen will. Welche Songs spielt ihr, welche nicht?
Wir sind eine der Bands, die 25 Songs hat, die sie spielen „muss“. Sonst bringen uns die Leute um, haha. Viel Raum für Experimente bleibt da nicht. Das kann ganz schön kompliziert werden, andererseits sind die meisten Songs, die die Leute hören wollen, auch unsere Favoriten. 40 Songs haben wir geprobt, 25 oder 26 davon werden wir heute spielen, und das sind bei den meisten Shows die gleichen. Die anderen 14 gibt es dann abwechselnd als Zugaben.
Gibt es Songs, die ihr nie spielt? Und warum?
Ja. Aber warum, keine Ahnung, ich kann mich echt nicht mehr erinnern. Ich glaube, wir haben von den alte Platten irgendwann mal jeden Song gespielt, aber mit „Cool To Be You“ waren wir nie auf Tour, da sind sicher Songs drauf, die wir nie live gespielt haben. Aber bis zu „Cool To Be You“ sind es ja bei 15 Songs pro Platte und sieben oder acht Alben auch schon über 100 Songs. Diese Woche, vor diesen Auftritten in Europa, haben wir 32 DESCENDENTS-Songs geprobt – und dazu noch 28 von ALL. Das sind ganz schön viele Noten!
Hast du schon mal Songs durcheinandergebracht?
Oh ja! Wie gut mein Hirn wirklich funktioniert, werde ich spätestens dann sehen, wenn wir die alten ONLY CRIME-Songs proben, haha. Da sind Arrangements dabei, da frage ich mich wirklich, was wir uns dabei gedacht haben. Und dann spiele ich ja in Las Vegas beim Punk Rock Bowling and Music Festival noch mit THE LAST, nicht nur mit ALL und DESCENDENTS, da kommen auch noch ein paar Songs dazu. Karl und ich werden zu Hause in Fort Collins also drei verschiedene Sets proben. Ich finde das aber gut. Wenn man sein Hirn in Bewegung hält, bleibt man jung.
Bill, vielen Dank für deine Zeit und das Interview.
Ich danke euch. Ich hatte anfangs ja Vorbehalte, als es hieß, ihr wolltet eine Coverstory zu mir machen, mit Fotos. Ich bin ja immer der Typ, der sich auf Bandfotos irgendwo hinten versteckt, und auf der Bühne sitze ich versteckt hinter dem Schlagzeug, ich baue das gerne wie eine Burg um mich herum. So ganz geheuer war mir das also nicht ...
© by - Ausgabe # und 14. Dezember 2020
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #114 Juni/Juli 2014 und Joachim Hiller & Norbert Johannknecht & Marc Gärtner