Nichts gegen meine kompetenten Ox-Kollegen, aber diese Scheibe muss einfach ein Berliner besprechen. Hier reicht es nicht, sich die Platte drei- bis viermal anzuhören und einen schnellen Kommentar dazu zu verfassen.
TIEFENRAUSCH sind bei uns ein Phänomen, ein sehr merkwürdiges aus der Hauptstadt. Innerhalb weniger Jahre lassen sie mit ihrem deutschsprachigen Offbeat-Folk etablierte Bands wie TERRORGRUPPE oder MAD SIN in Sachen Konzertbesucherzahlen in ihrer Heimatstadt alt aussehen.
Im völligen Größenwahn haben sich TIEFENRAUSCH im Oktober 2004 für die Record-Release-Party ihres zweiten Albums "Heut' ist alles so perfekt"die Columbiahalle angemietet. Diese Berliner Band schaffte es dann tatsächlich, diese 3.500 Gäste fassende Halle mit einem enormen Werbeaufwand (eingekaufte Ankündigung im U-Bahn-Fernsehen, monatelange Plakatierung...) in Eigenregie, das heißt auf eigene Kosten, Risiko und Zeitaufwand, mit 2.000 Leuten sehr ansehnlich zu füllen.
Nun fragt sich der Ox-Leser aus Österreich, aus Gera oder aus Meppen: Wie? TIEFENRAUSCH? Noch nie gehört? Wer ist das denn? Nun, diese Band ist zu allererst der Albtraum jedes Ska-Puristen.
Quietschendes Saxofon auf dem ersten, ein überraschend tighter, voller Bläsersatz auf dem zweiten Album, der dennoch oft an den unpassendsten Stellen im Song eingesetzt wird. Soundmäßig geht es schnell bis zu reinem Skapunk.
Die Texte sind bei TIEFENRAUSCH das Kernstück des Jubels oder der Verachtung. Deutschsprachig und von einer so überwältigenden Poetik, dass man sich fast schämt, dass es die deutsche Sprache gibt.
Ein Beispiel gefällig? "Döner": Mittags, wenn der Bauch vor Hunger bebt / Schlaf mir in den Augen klebt / Bin ich ganz besessen / was zu essen! / schleiche in die Dönerbude rein / leider bin ich nicht allein / alle Menschen schwitzen / die dort sitzen.
// Refrain: Ein Döner, ein Döner / macht das Leben schöner./ usw. usw. Gut, das war der schlimmste Text, aber auch ein paar andere könnten Guildo Horn & den Orthopädischen Gummistrümpfen Konkurrenz machen.
Und, nein, TIEFENRAUSCH besteht aus Erwachsenen, keinen Teletubbies. Diese Band wird jedoch gerade von Schülern der Klassenstufen 7 bis ca. 12 in Berlin abgöttisch geliebt und sieht sich in der Protestsong-Tradition von TON STEINE SCHERBEN (mit einem "Der Traum ist aus"-Cover) und schreibt auch durchaus (zwar plakativ, aber immerhin: ) politische Texte ("Kapital").
Diese Gruppe hat also schon ihre Daseinsberechtigung, nur setzt sie die eben mittels penetranter Werbung durch, mit einem ca. 180-köpfigen Street-Team, das für sie in allen möglichen Cafés, Schulen, Universitäten und Plattenläden Flyer verteilt und Poster klebt.
Im Gegenzug kommen "ihre engsten Fans" dafür kostenlos auf ihre Konzerte oder TIEFENRAUSCH organisieren ein eigenes nur für ihre Flyer-VerteilerInnen - ein simples Konzept. Aber mit der richtigen Party-Musik, wenn genug Leute dazu feiern können, klappt das auch.
Gebt mir einen Zwei-Liter-Kanister Gin Tonic und vier Kästen Astra-Bier, danach kann ich auch zu der Musik abfeiern. Nach fünfzehnmal Hören erwische ich mich schon beim Mitsingen ... (35:14) (3)
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #58 Februar/März 2005 und Florian Vogel