RAUBVOGEL

Benjamin Tienti

Wer sich, mal abgesehen vom Ox, auch gerne ab und zu andere hochwertige Punkrock-Pamphlete wie zum Beispiel das Moloko Plus oder den Pankerknacker zu Gemüte führt, dem dürfte Benjamin Tienti durchaus unter seinem Alias Ben Hurley ein Begriff sein, zeichnet sich der sympathische, in Berlin ansässige Exilschwabe, doch schon seit vielen Jahren für meist sehr gelungene Shortstories in den besagten Fanzines verantwortlich.

Hier nun sein unter neuem Pseudonym beim Wiener Luftschacht Verlag erschienener Debütroman und der Namenswechsel ergibt durchaus Sinn: Speisen sich die Sujets von Ben Hurley nämlich sonst nicht selten aus grotesken Drogeneskapaden oder wilden Sexphantasien, bei denen die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion oft nicht mehr ohne weiteres auszumachen ist, so gibt es hier hingegen die volle Breitseite Realität.

Klar, autobiographische Thematiken sind bei literarischen Erstlingswerken zwar nicht gerade unüblich und originell, aber die schonungslose Offenheit, mit der sich Tienti aus der Sicht des siebenjährigen Ich-Erzählers in seine eigene Kindheit zurück begibt, hat schon etwas sehr packendes, einnehmendes und an vielen Stellen berührendes.

Eine Kindheit, die sich im Spannungsfeld eines zerrütteten Elternhauses abspielt, auf der einen Seite der kokskranke Vater, welcher vom gutmütigen Familienclown scheinbar unmittelbar zum gewalttätigen Arschloch zu mutieren im Stande ist und der schließlich von einem Moment auf den anderen auf nimmer Wiedersehen verschwindet, auf der anderen Seite eine zwar aufopferungsvolle, aber dennoch meist überforderte, verzweifelte und orientierungslose Mutter.

Auch dieses Grundmuster mag weithin bekannt vor kommen, doch dieses kleine aber feine Büchlein bezieht seine Qualität vor allem daraus, dass es Tienti gelingt, trotz der expliziten Benennung von den diversen Defizite seiner Protagonisten, der eigenen Familie immer noch mit einer sehr liebevollen Grundhaltung gegenüber zu treten.

Im Grunde genommen ist „Raubvogel“ nicht mehr aber auch keinen Deut weniger als eine bittersüße Liebeserklärung an die einzige, verdammte Familie die man halt nun einmal hat und die Lektüre bietet mit Sicherheit eine Menge Identifikationspotenzial für viele Leute mit ähnlich verkorksten Kindheitserinnerungen.

Oder um es mit dem zu Beginn verwandten EA80-Zitat zu sagen: „Es ist keine Frage des Ortes / Keine Frage des Körpers / Nur eine Frage von Zeit.“